Geliebt werden ist an der reihe ja ich will

SWR 2 • Fr 13.8.21 • 19.05 bis 20.00 Uhr (und von Mi 11.8. bis Mo 16.8.21 in den weiteren Kultur- bzw. Wortprogrammen der ARD-Anstalten) / ARD-Audiothek • abrufbar seit Fr 6.8.21 bis Fr 5.8.22

Eine Krimireihe als fragiler funkischer Glücksfall

28.09.2021 •

Der Hörspiel- und Fernsehautor Hugo Rendler bestückte die 158. „ARD-Radio-Tatort“-Produktion der im Jahr 2008 gestarteten Hörfunk-Sendereihe (vgl. FK-Heft Nr. 4/08) – einer Sendereihe, die seinerzeit (2007) zunächst in Gesprächen mit Radiomachern und Autoren am Rande einer Fachtagung in Zons für die Anliegen des regionalen Hörspiels und dabei unter maßgeblicher Unterstützung durch Ekkehard Skoruppa vom Südwestrundfunk (SWR) auf den Weg gebracht wurde.

Bei einer 2011 veröffentlichten „ARD-Trend“-Untersuchung hatten insgesamt über eine Million Hörer sich den von den verschiedenen Landesrundfunkanstalten produzierten Folgen des „ARD Radio Tatorts“ gewidmet, wobei damals mehr als die Hälfte der Befragten den Sendungen eine „gute bis sehr gute Note“ attestierten. Eine neuere Untersuchung besagt, dass eine Folge der Reihe innerhalb einer Woche weit mehr als eine halbe Million Hörer erreicht, die das Angebot in den ARD-Radioprogrammen hören oder sich den Krimi kostenlos aus dem Internet herunterladen. In den iTunes-Podcast-Charts belegt jede neue Folge nach ihrer Ausstrahlung Platz 1 und kann sich bis zur nächsten Episode in den Top 10 halten.

Den Krimisendeplatz „ARD Radio Tatort“ gibt es in den Programmen Bayern 2 (BR), SWR 2, WDR 3, NDR Info, MDR Kultur, RBB Kultur, HR 2 Kultur, SR 2 Kulturradio und Bremen Zwei (Radio Bremen), im Wechsel federführend betreut und produziert von der jeweiligen ARD-Landesrundfunkanstalt. 2018 gab es das zehnjährige Jubiläum für die Reihe (vgl. MK-Artikel) und sie ist den genannten Auswertungen und weiteren Rückmeldungen zufolge äußerst beliebt und erfolgreich, wobei sie durch das Schlüsselwort „Tatort“ sicher auch von der Popularität des berühmten großen Fernsehbruders profitiert. (Auch der Schweizer Rundfunk SRF, das sei nicht vergessen, steuerte als deutschsprachiger Nachbarsender einige „Radio-Tatort“-Folgen bei.)

So renommierte Autoren wie Felix Huby, Roland Schimmelpfennig, John von Düffel, Fred Breinersdorfer, Gesine Dankwart, Tom Peukert, Katja Röder, Dirk Schmidt, Helmut Krausser, Sabine Stein und nicht zuletzt Hugo Rendler haben an dem Radio-Erfolg mitgeschmiedet, unterstützt und hörfunkgerecht eingerichtet durch große Regisseure, darunter Robert Schoen, Norbert Schaeffer, Walter Adler, Leonhard Koppelmann, Christiane Ohaus, Claudia Johanna Leist, Alexander Schuhmacher und Susanne Janson. Das größte Verdienst dieser Sendereihe besteht im Kontext des Hörspiels möglicherweise darin, dass der „ARD Radio Tatort“ mit seinen 55-minütigen Folgen uneingeschränkt, radikal und kompromisslos auf der Autoren-Schreibkunst für das Originalhörspiel basiert und Bearbeitungen und literarische Adaptationen für den Radio-Krimi damit zunächst ausgeschlossen sind – ein veritabler Glücksfall für den originären Hörspielfreund, ein fundamentaler und grundlegender Beitrag zu den Hörspielprämissen des Hörspiels als eine ars sui generis, wie es einmal der Hörspieldramaturg Heinz Schwitzke (1908-1991) für diese Kunstform postulierte.

Der routinierte Hörspielautor Hugo Rendler verabschiedete in seinem am 13. August bei SWR 2 ausgestrahlten „Radio-Tatort“ seine beiden Ermittler Finkbeiner und Brändle jetzt nach 14 Radiojahren final aus den Diensten. Die Episoden mit diesem Duo, dessen Rollen von Ueli Jäggi und Karoline Eichhorn gesprochen werden, hat der SWR produziert. Xaver Finkbeiner stiehlt sich in den Schlussminuten der Folge „Du hast mich nie geliebt“ (Regie: Alexander Schuhmacher, Dramaturgie: Ekkehard Skoruppa) in Rente und Pension und wird daher fortan nicht mehr zu hören sein, Nina Brändle hingegen erwartet eine Beförderung und ungewisse Zukunft im BKA. Unter diesen neuen und vergleichbaren Vorzeichen gehen viele ARD-Anstalten jetzt auch zu einem vorsichtigen Relaunch der Sendereihe über: Der „Radio-Tatort“ wird weiterbestehen, allerdings ist im akustischen Erscheinungsbild mit dem Wechsel von Personen und Figuren hie und da mit sanften Veränderungen zu rechnen.

In „Du hast mich nie geliebt“ zieht Rendler noch einmal alle Register der Krimikunst, lässt das Schlagersternchen Mia nach einem unsanften Sturz aus dem zweiten Stock tödlich geschubst auf einem Gehweg in Stuttgart zerschmettert liegen und gewährt zugleich fatalen Einblick in die lokale Schlagerindustrie – und überhaupt, so sagt es Finkbeiner im Hörspiel: „Verschmähte Liebe, tödliche Kränkung, Verlust der Identität, wenn die Väter nicht mehr die Väter sind und ihnen auch noch eine Vergewaltigung angehängt wird…“

Clou in diesem melodramatischen Rührstück und „Radio-Tatort“ ist freilich der Auftritt der singenden SWR-Mitarbeiterin Bina Bianca (1989 als Sabrina Strehse in Berlin geboren), die als die ermordete Sängerin Mia auftreten und sozusagen posthum singen darf. Bina Bianca wird schon über zwei Jahre beim SWR als Redakteurin, Sängerin, Songwriterin, Drehbuchautorin, Cutterin und Influencerin gelistet, so ist zu hören. Ja, sie kann wirklich singen! Ihr Schlagerhäppchen „Mein schönstes Klischee, das sind wir“ (es ist im Netz unschwer auffindbar) beschreibt die talentierte Künstlerin ganz vortrefflich auch autobiografisch.

In Rendlers „Radio-Tatort“ trällert sie (noch lebend) gewissermaßen als stimmliche Verheißung zwischen Königin der Nacht und musikalischer Zuckerwatte auf Cannstatter Volksfestniveau: „Du hast mich nie geliebt / die ganze Zeit / Und ich war so für dich bereit / Ich war so verliebt / Mein Herz war weit / Und es tut mir nicht mal leid.“ Die musikalischen Eingebungen und Höhenflüge (Komposition: Clemens Haas) sind in diesem „Radio Tatort“ zu einem herrlichen akustischen Edelkitsch verwoben, den man als Beleg für den Sendeplatz – und wissend um das Umfeld im Kulturprogramm SWR 2! – durchaus genießen und goutieren konnte. Der Hörer durfte trotz der demolierten Frauenleiche mit Spaß und Lust richtig schwelgen in diesem kriminalistischen Tobak mit Ukulele, Gitarre und Gesang. Und nochmals: Im „ARD Radio Tatort“ feiert das Originalhörspiel sich selbst – ohne Ausnahme. Ein zunächst wunderbares Geschenk an die Hörer, zumal es nicht mehr selbstverständlich ist.

Nach Informationen eines profilierten und kundigen Hörfunkmenschen, der nicht namentlich genannt sein will, verhält es sich bei dem Verhältnis von Originalhörspiel zu Adaptionen und Bearbeitungen zum Hörspiel in etwa so: „ARD Radio Tatort“: 100 Prozent Originalhörspiel, und das zehn- bis zwölfmal im Jahr. Was die sonstigen Krimisendeplätze in den ARD-Hörfunkprogrammen betrifft, ist von 90 Prozent Bearbeitungen auszugehen; die restlichen zehn Prozent sind Originalstücke. Bei den „literarischen Hörspielen“ ist hälftig von Bearbeitungen und von Originalhörspiel auszugehen. Bei Mehrteilern, ob literarisch oder Krimi, sind es zu 90 Prozent Bearbeitungen. Bei Klang- und Musikhörspielen im Sinne etwa von Heiner Goebbels, Werner Cee oder Andreas Ammer & FM Einheit handelt es sich fast durchgehend um Originalhörspiele.

Die gängige und berechtigte Kritik am Verlust des Originalhörspiels im Sendealltag unterschlägt zunächst den durch die Rundfunkstaatsverträge eingeforderten Bildungsauftrag der Sender – so dass eine Hörspielbearbeitung zum Beispiel von „Die Brüder Karamasow“ nach Fjodor Dostojewski durchaus sinnvoll sein kann. Unter den Tisch fallen bei dieser Diskussion auch die aktuellen Klagen vieler Hörspielautoren und Regisseure über die mangelhafte Honorierung und die schwierigen Arbeitsbedingungen in den Sendeanstalten (vgl. hierzu diese MK-Dokumentation). Das Originalhörspiel – und damit auch das Gemeinschaftsprojekt „ARD Radio Tatort“ – ist insofern ein fragiler funkischer Glücksfall, den es aus guten Gründen im Sinne der ars sui generis in alle Richtungen des Sendealltags zu schützen und zu fördern gilt.

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