Es kann der frömmste nicht in frieden leben wenn

Gliederung

1. Einleitung

2. Definition ‚Sentenz’

3. Allgemeine Funktionen von Sentenzen bei Schiller

4. Sentenzen im 'Wilhelm Tell'
4.1 Politische Intention des Stückes
4.2 Darstellung der Realisierbarkeit einer Revolution
4.3 Distanzierung von einer gewalttätigen Revolution
4.4 Charakterisierung
4.4.1 Tell als mythischer Held
4.4.2 Tell als tugendhafter Familienvater
4.4.3 Tell als gerechter Mörder
4.5 Strukturelle Funktion von Sentenzen

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

'Meister der Sentenzen'[1] oder 'Moral-Trompeter von Säckingen'[2] ?

Bei der Lektüre des 'Wilhelm Tell' fällt jedem Leser die ungemeine Vielzahl an allgemeinen Weisheiten auf, die Friedrich Schiller in seine Tragödie eingebaut hat. Die sogenannten Sentenzen sollen in dieser Arbeit bezüglich ihrer Funktion und Wirkung innerhalb des Textes und auf das Publikum analysiert werden. Ist 'Wilhelm Tell' ein Meisterstück der moralischen Erziehung oder verliert es gerade durch die Fülle an Sentenzen seine Wirkung?

Zunächst wird eine kurze Definition der hier behandelten literarischen Kleinform vorgestellt und ihr Ursprung erläutert, wobei schnell der Bezug zur rhetorischen Schule von Schiller gesucht werden soll. Es gilt zu klären, warum sich der Autor so besonders stark mit dieser Form der Aussage beschäftigt hat, an welchen Schriftstellern er sich orientieren konnte und wie er sich die Wirkung des Theaters auf das Publikum vorstellte. Warum eignet sich gerade die Sentenz in Schillers Augen besonders gut, um die beabsichtigte Funktion des Theaters bzw. der Tragödie zu verwirklichen?

Im Mittelpunkt der Arbeit steht dann die Funktion der Sentenz selbst. Wie wird sie in den Text eingebaut, wann kommt sie vor, warum taucht sie immer wieder auf und vor allem, welchen Effekt hat sie innerhalb des Stückes und auf den Zuschauer? Zum einen soll analysiert werden inwiefern Schiller mit Hilfe der Sentenz einen politischen Kommentar zum Zeitgeschehen abgibt, welches gesellschaftliche Verhalten er für richtig hält und wie er sich zu Ideen und Folgen der französischen Revolution positioniert. Zum Anderen wird die Wirkung der Sentenzen bezüglich des Charakters des Protagonisten begutachtet. Inwiefern sind die Sentenzen verantwortlich für den 'Mythos Tell'? Außerdem soll geklärt werden, ob es auch eine strukturelle Funktion von Sentenzen gibt, die lediglich Einfluss auf das Gefüge des Textes hat ohne inhaltliche Relevanz zu besitzen.

Bei der Analyse der einzelnen Sentenzen soll zudem stets darauf geachtet werden, in welchem Umfang sie für die Wirkung des Theaters sinnvoll sind und an welchen Stellen sie überflüssig scheinen. Außerdem wird untersucht, ob die allgemeinen Aussagen wirklich außerhalb des Textes bestehen können, bzw. inwiefern sie ihre ursprüngliche Bedeutung verlieren und dadurch die Aussage der Tragödie verfälschen können.

2. Definition ‚Sentenz’

Die Sentenz ist ein 'literarischer Einzelspruch, der durch seinen apodiktischen Redegestus allgemeine Gültigkeit beansprucht.'[3] Sie gehört zu den literarischen Kleinformen und beinhaltet also eine unwiderlegbare Art der Aussage. Des Weiteren ist sie einem Ursprungstext und einem Autor zuzuordnen. Dadurch unterscheidet sie sich formal von anderen literarische Kleinformen, wie dem Aphorismus[4] und dem Sprichwort[5]. Ein auffälliges stilistisches Merkmal der Sentenz ist ihre kurze, geschlossene syntaktische Form, bei gleichzeitiger hoher inhaltlicher Prägnanz. Der begriffliche Ursprung der Sentenz liegt in der Rhetorik der Antike, in der ihre Form und Funktion erkannte und bestimmte wurde. Aristoteles definierte die Sentenz als eine Aussage allgemeinen Charakters, welche sich von ihrem Kontext durch ihren gedanklichen Gehalt abhebt, dabei kein geometrischer Lehrsatz sein soll, sich jedoch auf die menschliche Praxis beziehen muss.[6] Ähnlich wie bei anderen literarischen Kleinformen 'gehört es zu ihrem Wesen, auf den Intellekt zu wirken'[7], indem sie einen speziellen Konflikt auf eine allgemeine Ebene der moralischen Diskussion führt und dabei ihren hohen sittlichen Ansprüchen Ausdruck verleiht.

‚Die allgemeine Kenntnis solcher Sprüche verbürgt ihre Wahrheit zusätzlich zu der ihnen qua Schlussfolgerung zukommenden.’[8]

Um sich von dem Kontext abzuheben und allgemeine Gültigkeit zu erlangen, steht sie zumeist in der 3. Person, wodurch man sie leicht aus dem Originaltext isolieren und in einer anderen Umgebung anwenden kann respektive soll. Oft steht die Sentenz am Ende eines vorher ausgeführten Gedankens, da sie eben diesen resümiert, verallgemeinert und durch ihre rhetorische Besonderheit unwiderlegbar beweist.

3. Allgemeine Funktionen von Sentenzen bei Schiller

Dass Schiller als großer Verfechter der antiken Rhetorik den Gebrauch von Sentenzen intensiviert, ist nicht verwunderlich. Vor allem die Möglichkeit der Applikation ist für ihn die herausragende Funktion der logischen Kleinform. Für

Schiller ist das Theater nicht nur ein Platz des sinnlichen Vergnügens, viel

wichtiger ist der Aspekt der moralischen Bildung während eines Stückes. Die Theaterlandschaft zu jener Zeit ist voll von Lustspielen für das allgemeine Wohlgefallen der Zuschauer. Schiller stellt jedoch stets die Bildungsinstanz der mittlerweile stehenden Bühnen in den Vordergrund und fordert eine geistige Auseinandersetzung beim bzw. durch das sinnlich Vergnügen. Er kann zur damaligen Zeit in Deutschland nicht mit einer 'gewichtigen, unterrichteten politisch selbstbewussten Öffentlichkeit rechnen, sondern muß versuchen, diese erst herzustellen.'[9] Diesbezüglich erkennt Schiller eine kulturelle Stagnation in Deutschland, im Gegensatz zu Frankreich und anderen europäischen Ländern, und ist bemüht das Publikum durch das Schauspiel zu moralischen, mündigen Bürgern zu erziehen wobei die Sentenz zur Aufklärung des Verstandes führen soll:

Schiller begnügt sich in seiner Auffassung vom Theater also keineswegs damit, bloß den Erwartungen des Zuschauers entgegenzukommen. Er ist vielmehr bestrebt, das Theater seinen eigenen Intention zu unterwerfen, die Wirkung der Schaubühne nach seinen Wunschvorstellungen zu bestimmen. Mit diesen Vorstellungen konstruiert er gewissermaßen den nach seinem Begriff idealen Zuschauer, und das Theater wird in dieser Hinsicht zu einer Anstalt der Bildung und Erziehung.'[10]

Als rhetorisches Mittel zur moralischen Bildung und Erziehung des Theaterpublikums präferiert er den Gebrauch von Sentenzen, wie er in seinem Aufsatz 'Über die Tragische Kunst' selbst formuliert. Das Publikum muss durch das Theaterstück aufgefordert werden, nicht nur das Gesehene sonder auch den Bezug zur realen Welt moralisch zu reflektieren, indem es über die Sinnlichkeit beim zuschauen zum Aktivieren des Intellekts, also zur Sittlichkeit gelangt:

'Nichts hingegen ist geschickter, sie [die Sinnlichkeit] in ihre Schranken zurückzuweisen, als der Beistand übersinnlicher, sittlicher Ideen, an denen sich die unterdrückte Vernunft, wie an einen heitrern [sic] Horizont zu erheben. Daher der große Reiz, welche allgemeine Wahrheiten und Sittensprüche an der rechten Stelle in den dramatischen Dialog eingestreut, für alle gebildeten Völker gehabt haben, und der fast übertrieben Gebrauch, den schon die Griechen davon machten. Nichts ist einem sittlichen Gemüthe [sic] willkommener, als nach einem lang anhaltenden Zustand des bloßen Leidens aus der Dienstbarkeit der Sinne zur Selbstständigkeit geweckt und in die Freiheit wieder eingesetzt zu werden.'[11]

Die Wirkung der Tragödie liegt demnach in dem Verhältnis von Sinnlichkeit und

Sittlichkeit. Zunächst ist es die Aufgabe des tragischen Theaters, im Publikum durch die Erzeugung von Mitleid, für welches jeder Zuschauer ein unaufhaltsames Vergnügen empfindet, ein Übergewicht an Sinnlichkeit zu schaffen. Hierfür eignet sich weniger die Figur eines Bösewichtes, als eher ein moralisch nachvollziehbares Dilemma oder ein Protagonist in sowohl der Opfer- und Täterrolle. Das Leiden beim Zuschauen ist dann am größten, wenn das Publikum den Unterschied zwischen Subjekt und Dichtung aus den Augen verliert. Durch Empathie nimmt die Sinnlichkeit überhand, das Publikum leidet durch Mitgefühl für die tragische Figur. In dem Moment des größten Gefühls ist jeder Zuschauer dankbar für die Befreiung des Leidens durch die Aktivierung der Sittlichkeit, also des Intellekts. Dies geschieht vor allem durch das Einstreuen von Sentenzen, welche durch ihren allgemeinen Wahrheitsanspruch eine übergeordnete Lösung für einen spezifischen Konflikt anbieten, den Zuschauer damit aus dem bloßen Leiden entlassen und zur Selbstständigkeit zwingen.[12]

Schiller möchte aus dem Theater keinen belehrenden Vortrag konstruieren, sondern die moralische Bildung durch Erschaffung von Sinnlichkeit erzeugen. Es reicht nicht, das Gute zu kennen, es muss zur Empfindung werden um Wirksamkeit zu erlangen :

'Die Leidenschaft ist nicht ein Feind der Vernunft, sondern verhilft ihren Erkenntnissen erst zur Wirkung.'[13]

Durch den häufigen Gebrauch der literarischen Kleinformen in seinen Dramen, wird Schiller zumindest in seiner Rezeption schnell als der 'Meister der Sentenzen'[14] gefeiert. Welche Funktionen den allgemeinen Wahrheiten in der Tragödie 'Wilhelm Tell' zukommen und wie Schiller die Sentenzen in den Text einbaut soll im folgenden Kapitel an der Figur des Protagonisten erläutert werden.

[...]


[1] Ueding, Gerhard: Schillers Rhetorik. Idealistische Wirkungsästhetik und rhetorische Tradition. Tübingen 1971. S. 183

[2] http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=1949&kapitel=11&cHash=4f074b14682#gb_found

[3] Reuvekamp, Silvia: Sentenz. In: Metzler Lexikon Literatur: Begriffe und Definitionen. Hrsg. von Burdorf, Dieter u.a. Stuttgart 2007. S. 425

[4] Der Aphorismus hat keine Bindung an einen literarischen Kontext, sonder ist ein gedanklich isolierter Einzeltext.

[5] Das Sprichwort ist weder autor- noch textgebunden und dadurch anonym überliefert.

[6] vgl. Skreb, Zdenko: Die Sentenz als Stilbildendes Element. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 13 (1982), S. 79

[7] Ebd. S. 80

[8] Ueding 1971: S. 182

[9] Ueding 1971: S. 190

[10] Pikulik, Lothar: Schiller und das Theater. Über die Entwicklung der Schaubühne zur theatralen Kunstform. Hildesheim 2007. S. 36

[11] Schiller, Friedrich: Über die tragische Kunst. In: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert. Hrsg. von Peter-André Alt u.a. München 2004. Bd. 5, S. 385

[12] Schiller 2004: S. 80 ff.

[13] Ueding 1971: S. 150

[14] Ebd. S. 183

Wie heißt das Sprichwort Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben?

„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“ (Friedrich Schiller, Wilhelm Tell). - Stuttgarter Zeitung.

Kann man nicht in Frieden leben?

"Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt." Funktion und Wirkung der Sentenzen in Schillers Tragödie "Wilhelm Tell"