Narrativ politische bedeutung

Es scheint, als hätten wir uns bisher getäuscht über das, was Gesellschaften und Nationen zusammenhält. Es sind nicht Verträge, Verfassungen, Gründungsmythen, gemeinsame Sprache und Kultur, Religion oder Ideologie. Es ist das Narrativ, Dummchen! Aus der Verborgenheit des Soziologen- und Literaturwissenschaftler-Chinesisch hat dieses Wort sich einen Weg in die Sprache der Leitartikel und Grundsatzreden gebahnt.

Verwendet wird es keineswegs nur von Akademikern und den anderen üblichen Verdächtigen, die schon immer im Ruch standen, die Dinge kompliziert auszudrücken, wenn es auch einfach ginge.

Kürzlich hat der frühere EU-Kommissar Franz Fischler von der Österreichischen Volkspartei bei einem Kongress mit Schülern über die Zukunft Europas festgestellt, die EU brauche keine Neuordnung, sondern ein neues Narrativ.

Die „Tiroler Volkszeitung“ hob das Wort daraufhin sogar in ihre Überschrift. Das ist nicht das Milieu theoriegeschwollener Eierköpfe.

Ein Begriff mit Doppelgesichtigkeit

Auch der Filmemacher Michael Moore, den wahrhaftig noch nie jemand bezichtigt hat, ein Intellektueller zu sein, schimpfte nach der Wahl in den USA über das Versagen der Meinungsforschungsinstitute: „Feuert die Demoskopen, Experten und Vorhersager und alle anderen Medienleute, die nicht von ihrem Narrativ abweichen wollten.“

Was Michael Moore den Amerikanern jetzt rät

Er hatte schon im Sommer davor gewarnt, Donald Trump zu unterschätzen. Nach dem überraschenden Wahlsieg des Republikaners gibt Moore seinen Landsleuten jetzt Tipps, wie sie mit dem Ergebnis klarkommen.

Quelle: Die Welt

Man erkennt an diesen beiden Zitaten, die aus Hunderten von Beispielen in Medien der vergangenen Tage ausgewählt wurden, schon die Doppelgesichtigkeit des Begriffs Narrativ. Einerseits kann ein Narrativ etwas sein, ohne das politische Formationen nicht zusammenhalten, andererseits kann es auch einen Verblendungszusammenhang schaffen, der den Blick auf die Realität trübt.

Aber was genau ist ein Narrativ? Es kommt von lateinisch narrare, „erzählen“. Bis in die ersten Jahre des neuen Jahrtausends hinein wurde narrativ fast ausschließlich als Adjektiv verwendet, und so steht es auch allein in der jüngsten Ausgabe des Dudens von 2013. Seine Bedeutung wird dort mit „erzählend“ erklärt und in direkter Nachbarschaft steht das Wort Narratologie „Erzählforschung, Erzähltheorie“.

Ein Narrativ als Substantiv wäre dann also eine Erzählung. Aber offenbar nicht die Sorte, von denen im Deutschunterricht die Rede war. Sondern im Sinne der „großen Erzählungen“, deren Ende der poststrukturalistische französische Philosoph Jean-François Lyotard 1979 in seiner Studie „Das Wissen der Postmoderne“ verkündet hatte.

Ideologien, verpackt in Erzählungen

Als Urheber dieser großen Erzählungen oder Meta-Erzählungen sah Lyotard zwei deutsche Philosophen: Immanuel Kant, der die Erzählung von der Befreiung des rationalen Individuums durch die Aufklärung begründet habe, und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, auf den die Idee zurückgehe, dass die Geschichte ein Ziel habe.

Von Hegel führt bekanntlich ein Weg zu Marx und von dort zum Sozialismus und Kommunismus des zwanzigsten Jahrhunderts. Nach Lyotards epochalem Buch dauerte es nicht lange, bis auch die Ideologien der Moderne als „große Erzählungen“, „Meta-Erzählungen“ oder „Meistererzählungen“ interpretiert wurden, ebenso wie rückwirkend das Christentum oder das Abendland.

Manchmal regt eine große Erzählung dann wieder ein narratives Werk im engeren literarischen Sinne an: Heinrich August Winkler erzählte in vier Bänden auf annähernd 3000 Seiten die „Geschichte des Westens“ nach.

Lyotard selbst schrieb im französischen Original von grands récits oder metarécits. Ins Englische ist seine begriffliche Neuschöpfung mit grand narrative oder master narrative übersetzt worden.

Die Spurensuche führt ins Englische

Das Oxford English Dictionary nennt Lyotard explizit als Urheber der neuesten englischen Bedeutung von narrative und definiert diese: „eine Erzählung oder Darstellung, die benutzt wird, um eine Gesellschaft oder historische Periode zu erklären oder zu rechtfertigen“.

Man geht daher wohl nicht falsch in der Annahme, dass die Konjunktur des Nomens Narrativ im Deutschen auf den Einfluss des Englischen zurückgeht.

Nicht umsonst findet sich der früheste deutsche Beleg für substantivischen Gebrauch von Narrativ im Werk eines mehrsprachigen Wissenschaftlers.

Der israelisch-deutsche Historiker Dan Diner, der in Deutschland lehrt, schrieb 1995 in seinem Essayband „Kreisläufe. Nationalsozialismus und Gedächtnis“: „Die Massenvernichtung der europäischen Juden hat eine Statistik, kein Narrativ.“ Diners Satz ist unter Fachleuten viel zitiert worden und hat dazu beigetragen, das neue Wort zunächst in einem Zirkel von Wissenden zu etablieren.

Legitimierungsstrategien und Herrschaftstechniken

Häufiger taucht es, wie erwähnt, erst nach der Jahrtausendwende in deutschsprachigen Texten auf. 2014 ist es dann schon so verbreitet, dass der wissenschaftliche Springer-Verlag einen Sammelband namens „Politische Narrative“ veröffentliche, in dessen Ankündigung der Titel so erklärt wurde: „Die zentrale Bedeutung von Narrativen in der Sinnvermittlung menschlicher Kommunikation wird kaum noch bestritten. Politische Narrative finden sich nicht nur in der Literatur oder in Bildern, sondern auch in vielfältigen Legitimierungsstrategien und Herrschaftstechniken politischer Akteure.“

Damit ist dann allerdings noch nicht erklärt, warum deutsche Soziologen, Historiker, Philosophen, Journalisten und andere Welterklärer nach 2000 plötzlich so großen Bedarf nach einem neuen Wort hatten.

Mit elektronischen Archiven lässt sich seit etwa den späten 90er-Jahren ein explosionsartiger Anstieg des Gebrauchs von Narrativ in deutschsprachigen Texten nachweisen. Der Grund dafür ist paradoxerweise, dass die Narrative problematisch geworden sind. Solange sie funktionierten, musste niemand über sie reden. Ja, man erkannte sie nicht einmal als solche.

Schon Lyotards Benennung war das Ergebnis einer Krise, die für ihn den Beginn einer Epoche nach der optimistischen Moderne einläutete: „In äußerster Vereinfachung kann man sagen: ,Postmoderne‘ bedeutet, dass man den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt.“

Alte Narrative sind wieder machtvoll geworden

Lyotard meinte mit den unglaubwürdig gewordenen Meta-Erzählungen die Aufklärung, den Idealismus und den Historismus. Diese könnten politischen Projekten keine Legitimation mehr stiften.

Die Folgezeit hat nicht nur die Krise jener ganz großen Erzählungen deutlicher erkennbar werden lassen, sondern auch die etwas kleineren Erzählungen der Nachkriegsepoche haben ihre legitimierende Bannkraft verloren oder sind doch zumindest verblasst: der Sozialstaat, das Wachstum, die europäische Wertegemeinschaft, die transatlantische Partnerschaft und sogar der Westen, dessen Ende viele nach der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten kommen sehen.

"Die Welt wird nicht mehr die Gleiche sein"

Nach dem Wahlsieg von Donald Trump reagieren viele US-amerikanische Stars mit Angst, Entsetzen und Fassungslosigkeit. Whoopi Goldberg und Samuel L. Jackson haben angekündigt, nun auszuwandern.

Quelle: Die Welt

Dafür sind ganz alte Narrative unerwartet wieder machtvoll geworden: die Nation, die Rasse und das Christentum (das beispielsweise in Russland die Narrativlücke, schließen soll, die der Kommunismus hinterlassen hat) und der Islam.

Dennoch ist es blauäugig, auf all die entstandenen Legitimationskrisen mit dem Ruf nach neuen Narrativen zu antworten. Denn ein Narrativ etabliert man nicht, wie man mal eben eine Glühbirne in einem dunklen Zimmer einschraubt. Dem Begriff wohnte ja seit seiner Erfindung eine negierende Distanz inne.

Gemeinschaft der intellektuell Misstrauischen

Indem man ein Narrativ als solches erkennt und bezeichnet, distanziert man sich von ihm. Das kritische Bewusstsein, das Lyotard geweckt hat, ist ein glaubensverschlingender Moloch. Er kann gar nicht anders, als jede Art von Sinnstiftung zu verdächtigen, ein gemachtes Narrativ zu sein.

Der Westen, wenn es ihn denn noch gibt, ist in der Postmoderne zur Gemeinschaft der intellektuell Misstrauischen geworden. Seine Denker halten diese scheinbare Narrativ-Immunisierung für seine Stärke. Doch sie verkennen oft, dass an die Stelle der alten großen Erzählungen nur viele Mikro-Narrative getreten sind. Und ihre kritische Munition prallt an den Wiedergängern längst vergilbter Meta-Erzählungen ab, die die Postmoderne einfach ignorieren.

Verblüfft und zunehmend hilflos spüren sie die Macht der nationalistischen Brüller oder die islamistischen Halsabschneider, die kein Blatt mit Thesen von Lyotard bedruckten Papiers zwischen sich und ihre Narrative kommen lassen.

Fasziniert von Gewalt, wenig religiös, schnell radikalisiert

Die Attentäter von Nizza und Würzburg handelten ohne enge Bindung zur IS-Miliz. Fasziniert von Gewalt nutzen sie die IS-Ideologie aber als Rechtfertigung – ein Beispiel für die Funktionsweise von Narrativen.

Quelle: Die Welt

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Matthias Heine ist Autor des Buches „Seit wann hat ,geil‘ nichts mehr mit Sex zu tun? 100 deutsche Wörter und ihre erstaunlichen Karrieren“ (Verlag Hoffmann & Campe).

Was bedeutet Narrativ einfach erklärt?

Das Wort „narrativbedeutet einfach übersetzt „erzählend“. Es geht bei diesem Begriff nicht um die Erzählung selbst, sondern darum, wie etwas erzählt wird. Die Form der Darstellung ist entscheidend dafür, wie der erzählte Inhalt verstanden wird und was er beim Zuhörer bewirkt.

Was ist ein Narrativ Beispiel?

Narrative stellen eine Möglichkeit dar, sich gesellschaftlich zu orientieren, die Welt zu verstehen und den eigenen Platz (und die eigenen Möglichkeiten) in ihr zu verstehen. Ein bekanntes Beispiel für ein Narrativ ist die Idee des Tellerwäschers, der durch harte Arbeit und Disziplin zum Millionär aufsteigt.

Was ist ein Narrativ Synonym?

Synonyme: [1] erzählend, erzählerisch. Gegenwörter: [1] chronologisch, lyrisch.

Was sind narrative Merkmale?

Ein allgemeines Kennzeichen des narrativen Textes ist seine ordnende Funktion: Er stellt zeitliche und räumliche Elemente in einen bestimmten Bezug zueinander, besitzt also eine Struktur. Diese kann kausaler Natur sein, das bedeutet sie stellt logische Zusammenhänge her, meist in Form von Ursache und Wirkung.