Bernhard-Gesammelte Gedichte HEIMKEHR Durch die Ebene geht es hinaus, Die erste Veröffentlichung des Dichters Thomas Bernhardwar ein Gedicht: Es erschien am 22. April 1952 im Münchner Merkur und trug den Titel Mein Weltenstück. Die erste Buchpublikation
Bernhards war ein Gedichtband: Auf der Erde und in der Hölle. Ein Jahr später, 1958, erschienen gleich zwei Gedichtbände von ihm: In hora mortis und Unter dem Eisen des Mondes. Auch in den Jahren darauf verstand sich Thomas Bernhard vor allem als Lyriker. Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1993 Unbekannter Dichter− Thomas Bernhards poetische Paradiese. − Angefangen
hat er wie Nestroy: als Bassist. Beide wollten sie Sänger werden, Nestroy, der Schauspieler, der vielen Zeitgenossen als ein leibhaftiger Teufel vorkam, und Bernhard, der Erzähler und Dramatiker, der seiner Mitwelt die Hölle zeigte, die Verdammnis in den Häusern und Hirnen gleich nebenan. Keinen von beiden kann man sich heute als Sarastro denken, vergoldet und beleuchtet und von Menschenliebe singend, daß die Kronleuchter klingeln. Und doch haben beide jahrelang daraufhin trainiert, und Nestroy
hat wahrhaftig noch als Sarastro debütiert. So quälend komisch die Vorstellung von Thomas Bernhard im Aufputz der Zauberflöte oder unter dem Schlapphut Leporellos sein mag, so genau markiert diese erste Ausrichtung doch schon die Linie, auf der sein unbedingtes Kunstleben sich entwickeln sollte. Mit der Zukunftsvision vom Sänger ist die Achse gesetzt, um die herum sein Œuvre wuchs und besessen rotierte. so viel, daß die Leute denken, es sei alles. Im Editionsbericht betreibt der vorliegende Band allerdings keine Augenwischerei. Volker Bohn, der akkurate Herausgeber, informiert knapp und klar: Zusammengestellt ist hier alles, was zu Lebzeiten des Autors gedruckt wurde. Und man muß Bohn zugute halten, daß er auch über das große Ärgernis orientiert. Ein Typoskript von 144 Gedichten, das den Titel „Frost“ trägt – den gleichen Titel wie Bernhards erster Roman – und
das 1961, zwei Jahre vor jenem Roman, vom Otto Müller Verlag abgelehnt wurde, liegt immer noch ungedruckt im Nachlaß. Ebenso verschlossen bleiben „die zahlreichen und eingreifenden Korrekturen“, die der Autor in den achtziger Jahren am Band Auf der Erde und in der Hölle vorgenommen hat. … leuchtet in die Abgründe menschlicher Existenz. Bernhards Lyrik gibt sich äußerlich vertraut, bekannt in der
Form und wenig neuartig in den Motiven. Sobald man aber mit der strengen Arbeit des Verstehens anfängt, wird deutlich, daß die Gedichte sich der Aufschlüsselung immer wieder entziehen. Fast jedes enthält Momente, ein paar Verse vielleicht nur oder eine Wortverbindung, die der Deutung hartnäckigen Widerstand leisten. Schimmernd und unzugänglich stehen diese Passagen mitten in der deutlichen Rede und strahlen auf sie zurück, durchziehen sie mit einem silbrigen Rätselgespinst. Ich will die Sprache der Fische hören Hier anzuschließen wäre das hymnische „Bruchstück aus einer sterbenden Stadt“: Die Lichter tönen wie rotes Fleisch In diesen Zeilen ereignet sich unverkennbar ein Akt der Selbstvergewisserung: Ein Dichter findet sich, gewinnt die Sicherheit des Redens, den poetischen Auftrag und die Entschlossenheit zur Arbeit über der Erkenntnis, daß ihm Sprache gegeben ist und daß diese Sprache wahrheitsfähig
und unanfechtbar ist. Auf eine fast skandalöse Art erklärt hier ein Autor der finstersten Moderne die Sprache für elementarisch zeitlos. Sie ist wirklich und mächtig und ohne Alter wie der Wind, der um den Planeten braust, und der Dichter hat an ihr Anteil, wie die Alten an ihr Anteil hatten, Vergil zum Beispiel oder Dante. Ave Vergil heißt ein Gedichtband; „Dante, Vergil, Pascal“ werden an einer Stelle gemeinsam angesprochen. Sprich Gras, schrei in den Himmel mein Wort! Oder: Wind und Wehen und
Wahrheit Und wenn die Rede noch so nachtschwarz daherkommt, das Stichwort „Wind“ bewahrt in ihr vielleicht so etwas wie die Möglichkeit von Rettung: Frühling der schwarzen Blüten, dich treibt Wobei man hier nun allerdings noch wissen müßte, was „Norden“ heißt beim Lyriker Bernhard. Und falls überdies die Chiffre „Vater“ entschlüsselt wäre, könnte man sich sogar jedem Gedicht nähern, das der Autor am häufigsten bearbeitet und neu vorgelegt hat, das ihm am Herzen lag wie kein anderes: Dreitausend Jahre nach dem Vater Wer diesen
Text auslegen kann, hat Zugang zu allen Gedichten Thomas Bernhards! Hinter den Bäumen ist eine andere Welt…, eine schwarze Sonne. Unter solchem Gestirn wird alles einfarbig: „schwarzes Gras“, „schwarze
Blüten“, „schwarze Wälder“. Auch die Sterne sind schwarz, die Hügel und die Vögel. Im Garten der Mutter Den autobiographischen Büchern Thomas Bernhards haben sich Kritik und Forschung mit ausschweifender Hingabe gewidmet. Der Lyriker blieb ungehört. Es wäre an der Zeit, dem Klang dieser Stimme das Echo zu verschaffen, das sie verdient. Peter von Matt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.8.1991 Leuchtspuren durch das Labyrinth− Die Lyrik des Österreichers Thomas Bernhard erhellt seine Prosa. − Mit Lyrik debütierte der Schriftsteller, im Laufe
seines literarischen Lebens war er als Epiker und Dramatiker erfolgreich. Der Lyriker wurde links liegengelassen. Alle haben daran eine Aktie: Autor, Verleger und Leser. Gemessen an der stattlichen Reihe der Prosabände und Stücke, nimmt sich die einbändige Ausgabe der Gesammelten Gedichte bescheiden aus. Sie macht jedoch seine literarische Biographie komplett. Bernd Heimberger, Neue Zeit, 13.5.1992 Thomas Bernhard: Gesammelte GedichteWährend Bernhards Prosa und Theaterstücke rasch bekannt geworden sind, fanden seine Gedichte wenig Beachtung. Allenfalls wurden sie in ihrem überwiegenden Lamento-Charakter mit den Prosaarbeiten verglichen. Tatsächlich stellt sich Verlegenheit ein. In den frühen Bänden Auf
der Erde und in der Hölle (1957), In hora mortis (1958), Unter dem Eisen des Mondes (1958) finden sich so viele motivische und formale Anleihen an expressionistische Lyrik (insbes. auch an Trakl), daß sich der Eindruck des Epigonalen aufdrängt. Und das unüberhörbar Eigene (etwa der Psalmton), vom pathetischen Gestus getragen, wirkt in der unmittelbaren Nähe gleichzeitiger Lyrikproduktion (Celan, Eich, Enzensberger) wenig überzeugend, eher unmodern und wenig formbewußt.
Nach 1963, d.h. nach dem Debüt als Prosaautor (Frost), hat Thomas Bernhard keine neuen Gedichte mehr veröffentlicht. Deshalb mutete die Publikation Ave Vergil von 1981, eine Sammlung von Gedichten aus den Jahren 1959/60, befremdlich an. Bernhard begründete die Herausgabe mit der Anmerkung, hier sei eine „Verfassung“ jener Jahre „konzentriert“ wiedergegeben. Bezeugt ist auch die erneute Beschäftigung des Autors mit seiner weiteren frühen Lyrik in den 80er Jahren. Ferdinand van Ingen, Deutsche Bücher, Heft 3, 1991 Die tiefen Spuren der VäterDas Gedicht muß klingen. Es muß nach-klingen. Dichter heißt: Der die Wahrheit Sagende. Also muß ein Gedicht vor allem wahr und echt sein. So schrieb ein damals 21jähriger Journalist anläßlich einer Preisverleihung im Dezember 1952 im Salzburger Demokratischen Volksblatt. Eben dieser Journalist hatte wenige Monate zuvor im Münchner Merkur selbst als Lyriker debütiert mit einem Gedicht „Mein Weltenstück“, in dem es u.a. heißt: Ein Vogel singt, und zwei und drei, Wohl kaum jemand würde vermuten, daß es sich bei dem Verfasser einer solchen epigonalen Reimerei um
Thomas Bernhard handelt, der bei seinem Tode 1989 als Dramatiker und sprachgewaltiger Epiker weltberühmt war. Zwar hatte sich der junge Bernhard von solcher Kitschpoesie (wie sie sich ähnlich übrigens im Frühwerk auch manches anderen nachmals bedeutenden Autors findet) rasch abgewandt, nicht jedoch von der Lyrik. Es ist heute schon weithin unbekannt, daß Thomas Bernhard als Lyriker begonnen hat – und zwar nicht etwa nur mit ein paar verstreuten Versen hier und da in Zeitschriften und
Anthologien, sondern mit veritablen Bänden in angesehenen Verlagen. Sechsundzwanzig Jahre Immer wieder liest man in diesen frühen Gedichten des Gerichtsreporters und Musikstudenten Bernhard, der ja Sänger werden wollte, von Tod und Verzweiflung, Zorn und Trauer, Tränen und Wunden, Lüge und Qual, Frost und Kälte. Der thematische Bezug zum späteren Prosawerk ist unübersehbar. Und es scheint sich auch schon eine leichte Monotonie anzudeuten, eine – mit aller Vorsicht gesagt – gewisse Verliebtheit in die eigene Verzweiflung, die in der späten Prosa zu Repetitionen und zu
einer bestimmten Routine führten. es germanistelt der Germanist es verlegt der Verleger (…) es richtet der Richter Jürgen P. Wallmann, Park, Heft 41/42, Mai 1992 O frivol ist mir am Abend− Die Erotik eines Lektorats: Ein Salzburger Symposium entdeckt Thomas Bernhard als unbegabten Lyriker. − 3000 Blatt mit Gedichten liegen noch im Archiv. Bernhard zeigt sich dort vor allem als pathostrunkener Dilettant. Bei den Feierlichkeiten zu Thomas Bernhards 80. Geburtstag durfte auch Salzburg nicht fehlen. Wenn solches nicht überhaupt eine Tautologie ist, dann soll hier der „unbekannte Bernhard“ entdeckt werden. Bei einem Symposium, das immerhin die Herausgeber der Werkausgabe aufbietet, und die sitzen schließlich an den
Quellen. Sie können mit kleinen Sensationen aufwarten, wie etwa die zarte Intimität des Briefwechsels zwischen Thomas Bernhard und seiner Insel-Lektorin Anneliese Botond. Tief in die Seele Bernhardscher Texte blickt Anneliese Botond in ihren Briefen, doch mit der Oberfläche hat sie ihre Not. Es ist ein Flehen um Kommas und Konjunktive. Ihnen gilt die „frivole Sorge“ der Lektorin. „Frivol, wie wenn man vor einem brennenden Haus an Seidenstrümpfe oder an einen Hut denkt.“ Paul Jandl, Die Welt, 15.2.2011Thomas Bernhard in meinem Kopfvor etwa 25 Jahren treffen wir einander erstmals und zufällig im Haus des österreichischen Botschafters in Rom. Man bittet uns, im kleinen Kreis, zu Tisch, wir sitzen nebeneinander. Thomas Bernhard sagt im scherzenden Ton
zu mir, „wir sind beide in Österreich schwarze Schafe“, was mir gefällt. Später wird er von einem Tischnachbar gefragt, woran er arbeitet, er sagt, er schreibt an einem Stück mit dem Titel Der Pracker. Friederike Mayröcker, 1.6.1998, Joachim Holl, Alexander Honold, Kai Luehrs-Kaiser (Hrsg.): Thomas Bernhard – eine Einschärfung, Vorwerk, 19988 Weltenstücke. Der Lyriker Thomas BernhardI Für die Weltliteratur wird Trakl niemals die Bedeutung der Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé haben […]; für Österreich jedoch hat er bis heute als einziger Lyriker von Rang etwas zur modernen Poesie beigetragen, wahrscheinlich, weil er, wie wenige, verachten konnte und verachtet wurde – am penetrantesten von den Bürgern und Eseltreibern seiner Vaterstadt Salzburg, die sich auch heute noch nicht geändert haben. Der Einfluß Trakls auf meine eigene Arbeit war vernichtend. Hätte ich Trakl niemals kennengelernt, wäre ich heute weiter.5 Drastische Lesespuren Bernhards in seinem
Exemplar der Dichtungen Georg Trakls zeigen, wie leidenschaftlich diese Auseinandersetzung mit Trakl geblieben ist; denn vermutlich standen seine betont expressiven Kommentare zu einzelnen Trakl-Gedichten in unmittelbarem Zusammenhang mit der nicht minder emphatischen Revision seines ersten Lyrikbandes Auf der Erde und in der Hölle.6 Die sorgfältig untersuchten Trakl-Bezüge im lyrischen Frühwerk Bernhards haben die These erbracht, dass dieser Einfluss Bernhards Lyrik in eine „Sackgasse“ geführt habe, ja, in ein epigonales Abhängigkeitsverhältnis,7 von dem sie sich nur mühsam habe lösen
können.8 Bernhards Kommentare zu Trakl, die einer ,Auslöschung‘ seines frühesten, wohl noch von seinem Großvater, Johannes Feumbichler, vermittelten Dichter-Vorbilds gleichen („Jedes Gedicht trieft vor Kitsch!!!“), richten sich insbesondere gegen die malenden Adjektive in Trakls Lyrik, was auch seinem Selbstkorrekturverfahren im Falle von Auf der Erde und in der Hölle entspricht. Die
Anmerkungen Bernhards sind durchgängig stilkritischer Art.9 Man kann diese Kritik, die an ein Wüten grenzte, wie die Schriftzüge und der Stiftabdruck in Bernhards Trakl-Exemplar zeigen, jedoch auch als Teil von seiner
Bewältigungsstrategie im Umgang mit Vorbildern sehen.10 Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen. dann läge es nahe, Bernhards vermutetes lyrisches
Verstummen zu ebenjener Zeit ähnlich zu deuten; doch dies hieße, die nahezu unerschöpfliche Sprachfülle Bernhards übersehen, der sich zeitweise – um im Bild zu bleiben – eher vor dem Ansturm der Worte in den „Zimmerwinkeln“ seiner Häuser verbergen musste. Ich weiß kein Glück, das ferner ist als diese Liebe. (GG, 106) II ich hatte die Gewißheit, meine Gedichte sind gut, Produkte eines achtzehnjährigen Verzweifelten, der außer diesen Gedichten nichts mehr zu haben schien. Ich hatte mich schon zu dieser Zeit in das Schreiben geflüchtet, ich schrieb und schrieb, ich weiß nicht mehr, Hunderte, Aberhunderte Gedichte, ich existierte nur, wenn ich schrieb, mein Großvater, der Dichter, war tot, jetzt durfte ich schreiben, jetzt hatte ich die Möglichkeit, selbst zu dichten.21 Diese dichtende Selbstbehauptung des Ichs drückte sich bereits in Bernhards erstem veröffentlichten Gedicht „Mein Weltenstück“ (1952) aus, und zwar in der Vermessung des eigenen Blicks durch das Fenster, wobei schon in der ersten Zeile ein Motiv genannt ist, das zum Merkmal seines stilistisch-motivischen Verfahrens werden sollte, die Wiederholung: Vieltausendmal derselbe Blick (GG, 294) Das Gesehene trägt dieses Ich in betont schlichter Form vor; noch dominiert eine parataktische Struktur. Das Kindliche bringt sich in Erinnerung: Der Kinder Nachmittagsgeschrei, Doch dominieren in diesen frühen Gedichten keineswegs Wie- oder Als-ob-Strukturen, sonst oft Stilmerkmale in epigonaler Dichtung. Schon die umfangreiche Sammlung Auf der Erde und in der
Hölle lebt von dem, was Ingeborg Bachmann im Todesarten-Projekt als „Injektionen von Wirklichkeit“ bezeichnen wird:22 lebensweltliche Eindrücke, „Weltenstücke“ eben, die dem Schönen der Form schon bald spotten werden. Unten liegt die Stadt, Morgen spricht der Fluß. Unten liegt die Stadt Und die Nacht verstummt. Zu den Städten dieses Zyklus gehören Paris, Venedig und Salzburg, das er seine „Hauptstadt“ nannte, sowie eine sterbende Phantasiestadt. Jede Stadt, jede Kapitale der großen Kulturtraditionen hielt der junge Bernhard
offenbar für ruiniert, weil tödlich in ihrer geistigen Bausubstanz getroffen. ich will was kommen muß jetzt sehn Bis auf die Schlusspunkte und wenige Fragezeichen sind diese Gedichte interpunktionslos, was für den musikalischen mit Notationssystemen intim vertrauten, Sprach- und Atemzeichen bewussten Lyriker Thomas Bernhard eine Besonderheit darstellt. Es ist, als dürfe nichts, nicht einmal ein Komma, den Gebetsklagestrom unterbrechen, vom Zeilenbruch abgesehen, der das rhythmische Maß vorgibt. Der Tod ist klar im Bach der Tod ist klar wie Honig im August wenn der Winter kommt o Herr schick’ einen Tod mir und mir die Sprache kommt im Meer Herr der Tod fällt nachts den Baumstamm an in Finsternissen. (GG, 139) Von ,Glauben‘ kann hier nicht mehr die Rede sein;26 der aufklarende Tod wird zu einem visuell wahrnehmbaren Phänomen, das gleichsam über sich selbst aufklärt. Von Wolframs „Lied an den Abendstern“ ist nur noch dessen „Zittern“ übrig. Der Wunsch des Rufenden richtet sich dabei auf das Vorhandensein einer Sprache, eine Hoffnung, die von fern an den Vers in Hölderlins Friedensfeier erinnert: „Daß, wenn die Stille kehrt, auch eine Sprache sei“.27 (V. 84) In Bernhards Gedicht jedoch erwiese sich erst der vom „Herrn“ geschickte Tod als Auslöser einer „Sprache“, die mit zwei der vier Elemente (Wasser und Feuer) verbunden ist und somit Elementares auszudrücken verstünde. Dies unterschiede ihn vom ,üblichen‘ Tod, von dem am Ende des Gedichts die Rede ist. Er wütet in der Natur, aber sprachlos. Das Wilde, das erste Wort des Zyklus überhaupt („Wild wächst die Blume meines Zorns / und jeder sieht den Dorn / der in den Himmel sticht“, GG, 127), kehrt in diesem Gedicht wieder und verweist auf das Ungebändigte und Unzähmbare des Todes. Es ist eine Wildheit, die sich mit der Symbolik des Mondes verbindet, und damit paradoxerweise mit dem ruhenden Pol am Nachthimmel. Auch in der folgenden Lyriksammlung Unter dem Eisen des Mondes (1958) spielt dieses Symbol eine buchstäblich herausragende Rolle, die sich aus dem Leonardo-Motto von Hora mortis ableitet: „La Luna, densa e gra[ve], densa e grave, come sta, la luna?“ (GG, 125) Diese rhythmisierte Prosanotiz Leonardo da Vincis, die mit dem Mond beginnt und mit dem Mond endet und zu dessen Zeit keine naive, sondern eine wissenschaftliche Frage war, fällt rhetorisch genau durch jenes Stilmittel auf, das für Bernhard konstitutiv werden sollte: die Wiederholung, aber auch die punktierte Rhythmik, die etwa das letzte Gedicht der Hora mortis-Reihe auf eine geradezu exzessive Weise bestimmt: zerschnitten In einem Gedicht dieser Reihe („Preisen will ich Dich mein Gott“, GG, 148), das einen vergleichsweise konventionellen Lobgesang anzustimmen scheint, grundiert diese synkopische Rhythmik einen Zustand des Chaos („zerflattert sind die Vögel / schwarz / und wieder / schwarz / die Zahl zerspringt / der Mond schreit auf“, GG, 148); doch kann das Ich des Gebetgesangs diesen Zustand ertragen, da es sich – überraschend genug – in Gott aufgehoben weiß. Es ist damit das einzige veröffentlichte Gedicht Bernhards, aus dem Gottesvertrauen im eigentlichen Sinne des Wortes spricht, auch wenn das poetische Umfeld dieses Geborgensein in Gott sogleich wieder relativiert. Doch selbst noch im Zyklus Unter dem Eisen des Mondes hält dieses poetische Ich daran fest, dass Gott sein Gebet höre – „in jedem Winkel der Welt“ (GG, 178), auch wenn an ein Erhören nicht (mehr) zu denken ist. Surreale Bilder – ob bei T.S. Eliot, Paul Eluard oder dem jungen Thomas Bernhard – haben es an sich, wie Selbstverständlichkeiten zu erscheinen, wie etwa in diesem Gedicht aus dem Zyklus mit dem bereits surrealen Titel „Unter dem Eisen des Mondes“: In den Fischen Der Mond spricht mit den Bäumen von des Winters Aus schimmernden Krügen trinken wir Wir trinken und tragen schwarze Gewänder in den Fischen Unheimlich, weil nicht mehr heimelig, ist das „eigene Haus“, denn es trennt die Toten / von Sonne und Mond / und lässt graue Flöten / an kalten Wänden zerspringen“ (GG, 206), wie es in einem anderen Gedicht dieser Sammlung heißt. Und in einem weiteren überschriftslosen Gedicht sieht sich der Frühling als „Totenbett“ angesprochen. (GG, 179) Wiederholung, Alliteration, genaue Wahrnehmung und ihre Allegorisierung: das Gedicht „In den Fischen“ täuscht Schlichtheit vor und handelt doch von komplexen Empfindungen und alogischen Verhältnissen. Das Surreale wirkt durch die betonte Konkretheit plausibel; erreicht wird die in den ersten drei Zeilen vor allem durch das Insistieren auf dem bestimmten Artikel. Denn das Gedicht beginnt nicht: In Fischen Vielmehr handelt es sich um einen toten Frühling in allen wahrnehmbaren Vögeln und Fischen, dem Kreatürlichen also. Die zweite Strophe konstatiert die Verwesung von Namen, die niemand mehr nennen kann, nur der Mond im Gespräch mit den Bäumen, das Astral-Leblose im Austausch mit dem Symbol irdischen Lebens. Was wir – ausnahmslos „alle“ – trinken, ist kein Elixier, sondern eine abgestandene Brühe, in der „Blüten“ als
Stimmen von „Nachtigallen“ bereits ertrunken sind. „Wir“ trinken demnach Todeswasser und kleiden „uns“ gemäß, eben „schwarz“. In deutlich unaufgeregtem Sprachton kehren sich in diesem Gedicht alle konventionellen Vorstellungen von „Frühling“, „Namen“ und organischem Leben um. Was die Fische und die Vögel – ohne es wissen zu können – enthalten, ist nur totes Aufkeimen von ,Leben‘, das keines mehr ist. Das Gehirn ist so unfrei und das System, in das mein Gehirn hineingeboren worden ist, so frei, das System so frei und mein Gehirn so unfrei, daß System und Gehirn untergehen. (GG, 213) Dem folgt ein betont surreales Gedicht, das zwanghafte Momente zeigt: Der Bucklige mit dem Wassereimer, der mit dem Zeigefinger auf seine Diese lyrischen Bilder enden jeweils mit einem Komma, das andeutet, hier werde noch etwas folgen; es bleibt aber aus. Der bestimmte Artikel ersetzt in drei Fällen den Namen, ein Verfahren, das elementares Sprechen imitiert. Dieser Vorgang wiederholt sich wenig später. Auf die aphoristische Aussage, die ein Argument erprobt, folgt eine offene lyrische Sequenz, die den Kommata das letzte Wort einräumt: Die Vernunft des Traumes fürchtet die Vernunft der Liebe, die Vernunft der Gewalt, die Vernunft des Todes, um der reinen Vernunft willen, die niemand beherrscht. (GG, 216) die mit dem roten Haar, die mit dem weißen Schleier die mit dem Rosenkranzzählen, die mit der Angst vor dem
Arzt, Diese Strophen belegen gleichsam, dass die „reine Vernunft“ auf der Strecke bleiben muss; sie ist unverfügbar. In ihnen spricht sich nur eines aus: die Realität des Irrealen, der man mit „Furcht“ oder „Vernunft“ begegnen kann, ohne dass dadurch etwas zu verändern wäre. Wenn in diesen Texten auch kein „Frost“ herrscht und keine Winteratmosphäre auffällt, so spielen sie doch Szenen und vor allem rhetorische Strategien durch, die sich in den „Argumenten eines Winterspaziergängers“, besonders aber im Roman Frost wiederfinden werden. Das Gefangensein im Irr- oder Widersinn findet in der Schlußstrophe dieses Zyklus seine negative, offenbar bereits 1950 entstandene Apotheose: Was bist du für ein Wein, mein Herr Urin? III Lieber Herr Doktor, jetzt ist FROST erst ein Buch!, und ist mein Buch!, und ich bin glücklich und es kommt mir vor, ich werde nie mehr ein besseres zusammenbringen! Sie werden es nicht mehr wiedererkennen!, jetzt ists gewaltig und ein Strom, der mich selber umwirft! – das, bitte ich, sollen Sie wissen, bevor die ,Konferenz‘ anfängt.30 Wenige Monate zuvor hatte er Moissl berichtet, ihm sei „im Kino“ der richtige Titel für diese Sammlung in den Sinn gekommen; alles weise auf ihn hin, nämlich auf „FROST“.31 Moissl begründet in seinem Schreiben vom 21. November 1961 die Ablehnung des Lyrikmanuskripts „Frost“ wie folgt: Mit dem jetzt vorliegenden [Manuskript, R. G.] kann ich nämlich nach ganz gründlicher Lektüre doch nicht Ihr Anwalt bei der Besprechung sein. Ich bin der Meinung, dass Auf der Erde und in der Hölle viel besser ist. Und im Übrigen decken sich diese beiden Gedichtbücher inhaltlich viel zu sehr. Sie haben nur mit dem neuen den Schritt noch tiefer in die Verdüsterung, ins Schwarze getan. Das „Schwarz“ durchtränkt alle Ihre Gedichte und es ist nicht zufällig das Wort, das weitaus am häufigsten von Ihnen verwendet wird, wie schon im ersten Gedichtband. Und „der innere Winter“, „die Kälte“, „der Frost“, ist so stark durchgebrochen, dass er sogar dem neuen Gedichtband den Namen geben musste! Aber es gäbe noch vieles zu sagen! Warum diese Sucht zu lästern?! Wozu diese Perversierung selbst der „unschuldigen“ Natur?32 Bernhard antwortet postwendend am 23. November 1961 mit einer Art poetologischer Grundsatzerklärung, die eine nochmalige Überarbeitung andeutet, wobei er an der „Grundstimmung“ des Werkes glaubt nichts verändern zu können. „Frost“, das seien seine „Fleurs du Mal“: es gibt keine Aufhellung, nur eine Hinwendung, immer mehr an und in den Gegenstand, an und in das tägliche Leben, die tägliche Qual, die es, nach den Regeln unserer Religion auch ist; es ist ein Gang durch die Hölle, der eine Weg, den ich gehe, mit vielen anderen, die ihn jemals gegangen sind und die ihn auch heute noch gehen! In Gott düster! Und bitte lesen Sie vielleicht die drei letzten Gedichte „Psalm“, „Wo“ und „Alpha und Omega“ – dann versteht man das Vorhergegangene, insoweit meine Dichtung verstanden werden kann; ein Gesang, eine Dichtung, muss immer gleich bleiben, sie hat immer nur ihr Thema!, wenn sie Ansprüche ergeben kann!, sie muss nur immer tiefer werden, sonst löst sie sich im handwerklichen, im gefallssüchtigen, Oberflächlichen auf und macht jedem Atemzug vorher Schande! Ich will alles, nur keine Schande machen, das aber als Kreatur; kreatürlich im manischen Gesang eines jeden Daseins! Mich mögen sie alle verlassen, aber ich weiss, dass ich es nicht ändern darf!, das wäre ein abgleiten, ein auslöschen, Schande ohne Ende! Also kann „düster“[,] „tragisch“ wohl ein Vorwurf, niemals ein Urteil sein, das wäre Schande, gefährlich, das wäre blind! Das Ich meiner Arbeit ist die Kreatur, die eingesetzte, gehetzte, wie das Wild, die seit den Anfängen unveränderte Natur, nicht ich, der nichts ist, Nichts! Ich kann nicht manipulieren – ich bin mir sicher, dass jedes Wort in meinem Manuskript eine Wahrheit ist, die ich durchlebt habe, von nirgends herhabe, aber das ist eine Voraussetzung! – – – Das jetzige Manuskript ist die Grundlage für ein Buch!, das sich noch verdichten lässt, indem man etliche Stücke herausnimmt!33 In der Fülle der Ausrufungszeichen spiegelt sich das dringliche Anliegen, das Bernhard mit diesem Brief zum Ausdruck bringen wollte. Wesentliche Grundmuster seines Schaffens spricht er an: vertiefende Wiederholung von Motiven, jedes kreatürliche Sein hat seinen „manischen Gesang“, jedes Wort ist durch eine erfahrene „Wahrheit“ gedeckt, das „Düstere“ ist geradezu ein poetisch eingelöstes religiöses Gebot. Bemerkenswert jedoch, dass
sich Bernhard durch Moissls Kritik aufgerufen fühlte, im lyrischen „Frost“-Manuskript nun doch erst „die Grundlage für ein Buch“ zu sehen, wobei er nicht ,Lyrikband‘ schreibt, sondern dieses „Buch“ genremäßig nicht weiter qualifiziert. Aus dem Gesamtzusammenhang muss Moissl freilich vermutet haben, es werde sich um eine verkürzte und dadurch „verdichtete“ Version des ihm vorliegenden Manuskripts handeln. Es sollte sich jedoch zeigen, dass Bernhard die „Frost“-Gedichte auf eine ganz andere Art
verdichtete. Ich muss in die Stadt hinunter, ich muss auf den Friedhof Das Melancholische grundiert auch die Frost-Prosa. Über
Strauch, Maler und Bruder des Chirurgen, in dessen Auftrag das Erzähler-Ich den „berufslosen“ Künstler beobachten soll, wird berichtet, dass er sich schon als Kind in einem „Waldviertler-Dorf, ja gar über die Grenze nach Ungarn“ an der „Ebene der Melancholie“ nie habe satt sehen können.35 Dieses Ich freilich muss – in Umkehrung der
lyrischen Aussage – zum Ohren- und Augenzeugen werden. Nach dem Heimgehen mit den Holzfällern Oder im Gedicht „Franziskus“: Im Wald bei der Schenke, da kommt er herein Die „Nähe des Todes“ (GG, 111) ist in beiden Texten ständig spürbar, auch der „Frost vor den Toten / die aus dem Wald kommen“. Das Gedicht „Jagd“ spricht von den „toten Martern der Lüfte / dem Frost näher / als den Kindern im Dorf / das Widerhallen der Stämme / über mir, wie das verrückte Klagen / unter mir […].“ (GG, 113) Auch die für den Ich-Erzähler unerträgliche „Wirtsfrau“ und ihr
Lachen tauchen in einem der Gedichte der Sammlung „Frost“ auf („Der Tod des Säufers“; GG, 137) Wie ein Wort eine ganze Lawine von folgerichtigen Wörtern, ganze Stadtteile von Wortkonstruktionen in die Bewegung zur Tiefe setzt und nicht die geringste Auslassung zuläßt, ja zulassen kann. (F, 308 f.) Wesentlich ist, dass ein Wort diese Wirkung entfaltet. Den Erzähler in Frost fasziniert und befremdet die verbale „Erfindungsgabe“ des Malers; sie reiche bis zu „erstaunlichen, an den Tiefsinn grenzenden
Wortkonstruktionen“. Er mache sie in der Natur „ausfindig“, „im Wald, auf den Feldern, auf den Wiesen, im tiefen Schnee“. Gemeint sind auf synthetisierender Grundlage gebildete Neologismen wie diese: „Wirklichkeitsverachtungsmagister“, „Gesetzesbrechermaschinist“, „Menschenwillenverschweiger“. (F, 72) Es handelt sich dabei um – zumindest im landläufigen Verständnis – demonstrativ unpoetische Worte, die einen Bruch mit natur-lyrischen Wendungen signalisieren sollen. Eine Herzmuskelsprache ist die Strauchs, eine „pulsgehirnwiderpochende“, verruchte. Das ist rhythmische Selbsterniedrigung unter dem „eigenen krachenden Untergehörgebälk“. Seine Begriffe, Schliche, grundsätzlich mit dem Hundegebell in Einklang, auf das er mich gleich am Anfang hingewiesen hat […]. Ist das denn auch noch Sprache? Ja, das ist der Doppelboden der Sprache, Hölle und Himmel der Sprache, das ist das Auflehnen der Flüsse, „die dampfenden Wortnüstern aller Gehirne, die grenzenlos schamlos verzweifelt sind.“ Manchmal redet er ein Gedicht, reißt es gleich wieder auseinander, setzt es zusammen zu einem „Kraftwerk“, „Kasernierung der zu züchtenden Gedankenwelt der wortlosen Stämme“, sagt er. […] Er reißt die Wörter aus sich heraus wie aus einem Sumpfboden. Er reißt sich in diesem Wörterherausreißen blutig. (F, 146) „Manchmal redet er ein Gedicht, reißt es gleich wieder auseinander, setzt es zusammen zu einem ,Kraftwerk‘“ – zuletzt schreibt der Erzähler dem „berufslosen Maler Strauch“ eine regelrechte „Gedankenpoesie“ zu (F, 268), ein Kompliment, das dieser ablehnt oder dahingehend modifiziert, dass er den Poesiebegriff letztlich in Luft auflöst: „Die Poesie, die ich meine, ist etwas ganz anderes.“ […] Ich sagte: „Was ist Ihre Poesie?“ – „Meine Poesie ist nicht meine Poesie. Aber wenn Sie meine Poesie meinen, so muß ich gestehen, daß ich sie nicht erklären kann. Sehen Sie, meine Poesie, die die einzige Poesie ist und also folglich auch das einzige Wahre, genauso das einzige Wahre wie das einzige wahre Wissen, das ich der Luft zugestehe, das ich aus der Luft fühle, das die Luft ist, diese meine Poesie ist immer nur in der Mitte ihres einzigen Gedankens, der ganz ihr gehört, erfunden. Diese Poesie ist augenblicklich. Und also ist sie nicht. Sie ist meine Poesie.“ (F, 269) Strauchs pneumatische Poesie verfügt über eine implizite Poetik und ist dabei radikal selbstbezüglich. Ihr
Wahrheitsanspruch ergibt sich gerade daraus, dass sie jeglicher Form von Diskursivität entzogen bleibt. Folgerichtig daran ist, dass diese Poesie sich durch kein Gedicht konkretisiert und dass ihr ,Urheber‘, Strauch, zuletzt spurlos verschwindet, „abgängig“ ist (F, 336), sich in Luft aufgelöst hat. IV Erwürgtes Lamm Gewidmet ist das wohl in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre erarbeitete Typoskript Anna Janka, die er an der Orgel der Pfarrkirche von St. Veit im Pongau, laut Bernhard „der schönste Ort des Landes“, wie es in der ersten Version seiner Einleitung zu dieser Anthologie heißt, kennengelernt hat. Mit ihr lernte er auch Hedwig
Stavianicek, seinen „Lebensmenschen“, kennen.37 Der zweite umfangreichere Einleitungsentwurf lässt erkennen, dass Bernhard, der bekanntlich zeitlebens ein Verächter von Anthologien bleiben sollte, mit seiner Sammlung eine Art Gegen-Anthologie vorstellen wollte, gerichtet gegen „eine gewisse Art von deutschen Anthologien, die zum Erbrechen
reizt“.38 Ihr [gemeint sind die „unbekannten Dichter“, R. G.] wohltuender und schlechter Einfluss auf die Entwicklung unserer Lyrik und unseres Dramas, auch des Auslandes, ist nicht zu bestreiten. Selbst in dem bewunderungswürdigen Werk T.S. Eliots sind die Merkmale und Spuren dieser geistlichen deutschen Dichtung nicht zu ersticken, auch wenn der Autor von the waste land [sic!] immer wieder und ohne Absicht, zu verstehen gibt, die deutsche Literatur nicht zu kennen. Peguy und Claudel, ja Ezra Pound und der Russe Majakowskji wären undenkbar ohne die auf oft seltsamem Wege erworbene Kenntnis dieser zuweilen erregenden, im allgemeinen jedoch volksliedhaften, naiven einfältigen, nicht selten von einer dillettantischen [sic!] Frömmigkei[[t]] diktierten, auf ein und dasselbe Ziel gerichteten Poesie.40 Bernhard erkennt in der geistlichen Dichtung oder Kantatenlyrik eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner von kulturübergreifender Wirkung. Das ist bemerkenswert genug. Doch geht er darüber hinaus, wenn er schreibt: Im 19. Jahrhundert wäre die Herausgabe einer Sammlung wie diese[[r]] für viele unerträglich und überhaupt unmöglich gewesen. Heute ist es nicht nur möglich gemacht, sondern notwendig, zu zeigen, dass es wichtiger ist, einige nicht zu unterschätzende Beispiele der deutschen Literaturgeschichte aus den Kompositionen eines deutschen Genies herauszuschreiben, als sich der Übersetzung und Herausgabe exotischer, oft nur einem augenblicklichen Modernismus unterliegenden Erzeugnisse zu widmen.41 Mit dieser Anthologie schien Bernhard demnach eine implizite Kritik an modischen Trends in der Lyrik seiner Zeit üben zu wollen, wie sie etwa durch Gottfried Benns Statische Gedichte vorgegeben war. Hugo Friedrich hatte diese
,modernen‘ Tendenzen in seiner einflussreichen Studie Die Struktur der modernen Lyrik (1956) analysiert, wobei er gerade die geistliche Lyrik weitgehend ausgeklammert und allenfalls in der „Sprachmagie“ Baudelaires (und später Eliots) das „ruinöse Christentum“ und sein Vokabular nachwirken sah.42 Diese Auswahl hat kein System, sie folgt ungefähr jener Laune, die mich vor mehreren Jahren in einem ländlichen Armenhaus die Gedichte entdecken liess. Sie stellt eine Ordnung her, indem sie die Ordnung vermeidet.43 Das klingt nicht nur nach einem klassischen Bernhard-Satz, sondern
gibt präzise das poetologische Ordnungsprinzip an, das er in seiner Anthologie praktizierte; vielleicht sollte man in diesem Fall lieber von ,poetischen Umgangsformen mit den Vorlagen‘ sprechen. Überdies ermöglicht der Hinweis auf das „ländliche Armenhaus“ wiederum einen möglichen Bezug zu Frost und dem Abschnitt „Im Armenhaus“.44 Auch wenn dieser Erzählabschnitt betont nicht-lyrisch wirkt, besteht das verbindende
Element zwischen der Kantaten-Anthologie und den Schilderungen dieses Altenheims in der Todesmetaphorik beziehungsweise Todeserfahrung an diesem Ort. Läßt der Spötter Zungen schmähen Dagegen hebt er nachdrücklich durch vier Ausrufungszeichen das vorangegangene Rezitativ hervor: Auch bei dem himmlischen Verlangen In der Kantate 47: „Wer sich selbst erhöhet, der soll erniedriget werden“ (284) streicht er expressiv durch Klammer und Durchkreuzen die Stelle: Der Mensch ist Kot, Stank, Asch und Erde Mit einer Wellenlinie und dem Vermerk „weg!“ streicht er: Und du, du armer Wurm, suchst dich zu brüsten? Und in der Kantate 27: „Wer weiss, wie nahe mir mein Ende“ fügt er wenn ich ein: Ach, [wer] wenn ich doch schon im Himmel wär! (278) Wie in der Einleitung angekündigt, entkleidet er die Gedichte des Kantatenkontexts, löst sie aus ihren liturgisch-musikalischen Zusammenhängen, um sie zu eigenständigen titellosen Gedichten für sich selbst sprechen zu lassen. Keine bedeutende, aber nennenswerte Eigenheit dieser Bearbeitungen besteht darin, dass Bernhard die Großschreibung des ersten Buchstabens am Versanfang aufgibt und durch Kleinschreibung ,modernisiert‘. Teil dieses poetischen Verfahrens ist es aber vor allem, aus Kantatenteilen ,neue‘ Gedichte zusammenzusetzen oder bezeichnende Textveränderungen vorzunehmen. Ein Beispiel hierfür ist die folgende Stelle: Im einleitenden Gedicht von Johannes Rist „O Ewigkeit, du Donnerwort“ aus der Kantate 20 verändert Bernhard die Verse: Mein ganz erschrocknes Herz erbebt zu: Mein ganz erschrocknes Herz erbebt Eine entliturgisierte Kirchenlyrik gehörte für Bernhard offenbar zu den Erscheinungsformen des Poetischen und der poetischen Erfahrung. Auch diese Gedichte waren im frühen poetischen Kosmos „Weltenstücke“, was seine Anthologie „Erwürgtes Lamm“ eindrucksvoll belegt. Sie gehört zu seinem lyrischen Œuvre und damit zu Bernhards Gesamtwerk. Vor allem aber ist sie Bestandteil des faszinierend Widersprüchlichen in seinem Erscheinungsbild. Rüdiger Görner, Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch / A German Studies Yearbook, 2014 Sören Heim: Die „großen“ Essays anderswo, VII: Thomas Bernhard als Lyriker THOMAS BERNHARD Rotweißheiten Verschlingen kann man das Lebendige Peter Wawerzinek Zum 15. Todestag – Cornelius Hell: Gott vernichten. Die bislang unbekannte Zensur seines ersten Lyrikbandes wirft ein neues Licht auf Bernhards Verhältnis zur Religion. Zum 30. Todestag – Archivaufnahmen und Lesungen von und mit Thomas Bernhard Die Lange Nacht über Thomas BernhardZum 90. Geburtstag des Autors:Yossi Sucary: Dem Urteil der Anderen entkommen Willi Winkler: Ohne Bernhard geht es
nicht Deborah Ryszka: Der Letzte seiner Art Gerrit Bartels: Meister im Demütigen Nikolai E. Bersarin: „Die Ursache bin ich“ – Thomas Bernhard zum 90. Geburtstag Matthias Greuling: „Geh her da, Thomas Bernhard“ Felix Müller: „Kein Kritiker hat meine Bücher je verstanden“ Bernhard Judex: Meister der Irritation Marc Thill: Thomas Bernhard, ein Meister der Negation Die Furche: Zum 90er von Thomas Bernhard Thomas Bernhard auf perlentaucher.de Fakten und Vermutungen zum Autor + Archiv 1 & 2 +Internet Archive + Kalliope + KLG + IMDb +Hommage + Gespräche mit André Müller 1 & 2 +Georg-Büchner-Preis 1 & 2Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +Brigitte Friedrich Autorenfotos + Keystone-SDANachruf auf Thomas Bernhard: TumbaThomas Bernhard im Gespräch mit Janko von Musulin, 1967. Ferry Radax: Thomas Bernhard / Drei Tage Hamburg 6. Juni 1970. |