Anna haag denken ist heute überhaupt nicht mehr mode

Literatur Insel-Sehnsucht - Dörte Hansens neuer Roman „Zur See“

Was ist es, das uns immer „Zur See“ zieht, auch wenn diese dem Menschen gefährlich werden kann? In Dörte Hansens aktuellem Roman geht es um die alteingesessene Insel-Familie Sander und die Veränderungen, die sie erlebt: Wir erfahren, dass der älteste Sohn nur noch auf der Fähre die Leinen losmacht, obwohl er mal Kapitän war, dass seine Schwester krank wird vor Heimweh, wenn sie die Insel verlässt und dass der Vater lieber allein auf einer Vogelwarte ausharrt, als bei seiner Familie zu sein. Die Geschichten und Erinnerungen, die Dörte Hansens Figuren verbinden, erzählt sie in ihrem ganz eigenen Stil: präzise beobachtet, in klaren Bildern und in Sätzen von eindringlicher Schönheit.  mehr...

Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2021

Sie sehnte die Niederlage der Deutschen herbei
Als Denunziationen, Kriegslust und Habgier blühten: Anna Haags Tagebuch aus der Zeit von 1940 bis 1945 ist ein Dokument bemerkenswerter Standhaftigkeit

"Erfüllt von Menschenhass und Menschenverachtung" sei sie, notiert Anna Haag am 8. Januar 1944 in ihr Tagebuch. Gerade hat sie eine Traueranzeige gelesen, in der stolz vom "Soldatentod" des Sohnes die Rede ist. Und weiter zitieren die Eltern aus einem seiner letzten Briefe: "An meinem eigenen persönlichen Leben hänge ich nicht. Die Wirkung, der Auftrag ist alles." Warum hat, so fragt sich die Tagebuchautorin, "der Vater seinen Sohn nicht belehrt (der Vater hat sich uns gegenüber als Anti-Nazi und Kriegsgegner ausgegeben. Er ist ein gelehrter Herr), dass ,Auftrag' und ,Wirkung' nur dann einen großen Sinn haben kann, wenn der ,Auftrag' edel und seine ,Wirkung' entsprechend ist?"

In Deutschland sei "gegenwärtig die Niedertracht zum Prinzip erhoben", es blühten die Denunziationen, Kriegslust und Habgier. Genau beobachtet Anna Haag, dass noch nie so viele Frauen in Pelzmänteln ausgingen, Beutestücke der Männer, es sei "wie Weihnachten". Nicht weniger empört ist sie über die intellektuelle Verwahrlosung, den um sich fressenden "Gehirnschwund". Wie sonst könnten Deutsche "begeisterte Verehrer Albert Schweitzers und gleichzeitig glühende Anhänger des Nationalsozialismus sein"? Immer wieder stößt sie auf den blinden Glauben, das eigene Land könne den Krieg gar nicht verlieren.

Überhaupt der Glaube! Im März 1943 ermahnt die Direktorin einer Mädchenoberschule ihre Abiturientinnen: "Lieber gebt ein gut Teil Eures Verstandes hin, als Euren Glauben an Hitler!" Das ist allerdings nach dem Zusammenbruch der 6. Armee bei Stalingrad gesagt, da gab es womöglich Anlass zu solcher Ermahnung, es mehrten sich jedenfalls Zeichen der Ernüchterung.

Über Anna Haag, die Autorin des Kriegstagebuchs, das unter dem Titel "Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode" erschienen ist, teilt uns das Nachwort nicht viel mit. Sie wurde 1888 geboren, mit einundzwanzig Jahren heiratete sie den Mathematiklehrer Albert Haag, mit dem sie drei Kinder hatte. In der Zwischenkriegszeit begann sie Romane zu schreiben und engagierte sich pazifistisch, mit ihrem Mann trat sie in die SPD ein. 1933 wurde der aus politischen Gründen strafversetzt, die Kriegszeit verbrachten die beiden in Stuttgart oder Umgebung. Nach dem Krieg war Anna Haag Abgeordnete des Landtags von Württemberg-Baden und engagierte sich besonders für das Recht auf Wehrdienstverweigerung.

Anna Haag verfügte nicht über außergewöhnliche Informationsquellen (hörte allerdings BBC), aber erfuhr erstaunlich viel. Ein "kleiner städtischer Beamter", der die Wasseruhr abliest, erzählt Ende 1941 von der Judenverfolgung, der Behandlung russischer Kriegsgefangener und dass ihm ein SS-Mann berichtet habe, er habe fünfhundert Juden, Frauen und Kinder, in Polen "abknallen müssen".

Die Briefe deutscher Soldaten, die von den Verbrechen im Osten sprechen, scheinen in ihren Kreisen umzulaufen, immer wieder zitiert sie daraus. Die Gaskammern sind ihr nicht bekannt, aber dass Massenerschießungen von Juden nicht etwa seltene Vorkommnisse sind, das ist klar. Grafeneck, Tötungsanstalt der Aktion T4, der systematischen Ermordung von Behinderten, wird mehrfach genannt. Im November 1941 flüstert ihr jemand zu, "man bringe die Juden weg von unserer Stadt. Die armen Menschen seien der Auffassung, dass dies nur eine Etappe sei auf dem Weg nach Grafeneck!"

Man weiß, dass es eine Reihe von Deutschen gab, die den verbrecherischen Charakter des Nationalsozialismus erkannten und doch dem eigenen Land den Sieg wünschten, sei es aus unüberwindlicher Loyalität, sei es aus Angst vor Rache oder Strafe für die begangenen Untaten. Anna Haag denkt anders. Sie sehnt die Niederlage herbei, weil sie mit den Opfern der Deutschen fühlt, weil die Niederlage nur gerecht wäre und allein diese die Deutschen wieder zu Verstand bringen könnte. Nationalgefühl scheint ihr ganz fremd: "Selbst Nazihasser meinen vielfach, sie müssten noch irgendetwas zur Ehre deutschen Wesens vorbringen. Vermutlich, weil sie nichts Eigenes haben, das ihnen vor sich selbst Wert und Bedeutung verleihen könnte."

Doch schon einen Tag darauf stellt sie fest, wie schwer es ist, ohne sozialen oder kulturellen Halt zu leben, "wie leicht kann ich das Gleichgewicht verlieren und in die Unendlichkeit hinausstürzen". Erst jetzt verstehe sie, was das Wort "entwurzelt" meine. Ihre Tochter ist in England verheiratet, von den Enkeln wünscht die Großmutter, dass sie ihrem "Vaterland nützen und ihm Ehre machen".

Bedauerlich, dass ein so interessantes Tagebuch so schwach kommentiert ist. Nicht einmal fünf Seiten Erklärungen für 420 Seiten Text, das ist kümmerlich, vor allem wenn auf den fünf Seiten erklärt wird, wer Churchill und Roosevelt waren, nicht aber, was es mit dem Propagandasender Gustav Siegfried 1 auf sich hatte. Ein Tagebuch aus diesen Jahren gibt auch Gerüchte wieder und zwangsläufig auch falsche. Nur ein Beispiel: Im Mai 1941 berichtet die Autorin von "Razzien auf Frauen", wer sich nicht genügend ausweisen könne, werde "zur Arbeit abgeführt". Wenig wahrscheinlich, dass das stimmt (Hitler war gegen den Arbeitseinsatz von Frauen) - wenn es nicht eine lokale Besonderheit war. Der Kommentar müsste so etwas einordnen, tut es aber nicht. Schade auch, dass man so wenig über Anna Haag und ihre Familie erfährt. Geben die Quellen nicht mehr her? Die Herausgeberin schweigt darüber. Stattdessen meint sie, Anna Haags Denken sei "so aktuell wie selten zuvor".

Anna Haag muss eine eindrucksvolle Persönlichkeit gewesen sein. Von keinem der (vermeintlichen) Erfolge des Nationalsozialismus hat sie sich irritieren lassen, dem Meinungsdruck der Verwandten, Bekannten und Nachbarn hat sie immer standgehalten. Müsste der Leser eine Zeitreise in die Jahre 1940 bis 1945 antreten, er wünschte sich wohl die Klarheit und Festigkeit dieser Frau. Selbst wenn vieles uns Heutigen auch fremd bleibt. Pazifismus und Nationalismuskritik sind uns vertraut, aber daneben stehen andere Züge: etwa die Klage über eine ",entgötterte' Welt", das Festhalten an "ewigen Menschheitsidealen" und eine Form von Religiosität, die mit sich bringt, dass die Erfolge der Alliierten von ihr mit Chorälen begangen werden. Das Ineinander selbstverständlich bewunderter und fremder Züge, es macht einen guten Teil des Interesses aus, das diese Autorin weckt. STEPHAN SPEICHER.

Anna Haag: "Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode". Tagebuch 1940-1945. Hrsg. und mit einem Nachwort von Jennifer Holleis. Reclam Verlag, Ditzingen 2021. 448 S., Abb., geb., 35,- Euro.

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