Blind side die große chance ganzer film

Leigh Anne Tuohy ist eine glückliche Ehefrau, zweifache Mutter und erfolgreiche Geschäftsfrau. Eines Tages lernt sie den obdachlosen Michael Oher kennen. Der Teenager kann nicht schreiben und rechnen, er hat Tag für Tag eine kurze Hose und ein T-Shirt an - auch im eisigen Winter. Leigh Anne lädt ihn ein, die Nacht in ihrem Haus zu verbringen. Aus der menschlichen Geste wird schnell Zuneigung, und schon bald gehört Michael zur Familie - trotz sozialer und kultureller Unterschiede.

Stab + Produktion   Besetzung   Drama USA 2009 Leigh Anne Tuohy Sandra Bullock Regie:  John Lee Hancock Sean Tuohy Tim McGraw Drehbuch: John Lee Hancock Michael Oher Quinton Aaron Musik: Carter Burwell Miss Sue Kathy Bates Kamera: Alar Kivilo Collins Tuohy Lily Collins Schnitt: Mark Livolsi S.J. Tuohy Jae Head

The Blind Side [dt./OV]
128 Min. | Deutsch, Englisch (OV)
HD FSK 6 UT

Blind Side - Die große Chance
128 Min. | Deutsch, Englisch (OV)
HD UT

Blind Side - Die große Chance
124 Min.
FSK 6

Blind Side - Die große Chance
123 Min. | Deutsch, Englisch (OV)
HD FSK 6

Blind Side - Die große Chance
129 Min. | Deutsch, Englisch (OV)
HD FSK 6

Blind Side - Die große Chance
128 Min. | Deutsch
HD FSK 6

Blind Side - Die große Chance
128 Min.
HD FSK 6

Blind Side - Die große Chance
123 Min.
HD FSK 6

Blind Side - Die große Chance
129 Min. | Deutsch, Englisch (OV)
HD FSK 6 UT

The Blind Side - Die große Chance
129 Min. | Deutsch, Englisch (OV), Polnisch, Spanisch
FSK 6

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Leigh Anne Tuohy ist eine glückliche Ehefrau, zweifache Mutter und erfolgreiche Geschäftsfrau. Eines Tages lernt sie den obdachlosen Michael Oher kennen. Der Teenager kann nicht schreiben und rechnen, er hat Tag für Tag eine kurze Hose und ein T-Shirt an - auch im eisigen Winter. Leigh Anne lädt ihn ein, die Nacht in ihrem Haus zu verbringen. Aus der menschlichen Geste wird schnell Zuneigung, und schon bald gehört Michael zur Familie - trotz sozialer und kultureller Unterschiede.

Stab + ProduktionBesetzungDramaUSA 2009Leigh Anne TuohySandra BullockRegie: John Lee HancockSean TuohyTim McGrawDrehbuch:John Lee HancockMichael OherQuinton AaronMusik:Carter BurwellMiss SueKathy BatesKamera:Alar KiviloCollins TuohyLily CollinsSchnitt:Mark LivolsiS.J. TuohyJae Head

Blind Side - Die große Chance ist ein Football-Film aus dem Jahr 2009 von John Lee Hancock mit Sandra Bullock und Tim McGraw.

Sandra Bullock nimmt in Blind Side – Die große Chance einen Teenager in ihre Familie auf und setzt große Hoffnungen in den aufstrebenden Footballstar.

1 Inhalt VORWORT XV EUROPA 1 DIE VERSUCHE DES HEINRICH HERTZ 3 Vorlauf 3 Preisfragen 4 Lodge, der Maxwellianer 5 Die Vor- Entdecker 6 Scheinbilder eines schlechten Gehörs 7 Absage 7 Scheinbilder 8 Exkurs: Das Ende der Naturlehre und die Neutralität technischer Medien 9 Unsichtbare Engel 9 Reale Messgeräte und Uhren 10 Die Neutralität der Technischen Medien 10 Die blinde Taktik des Epistemischen Dings 12 Rühmkorff und Resonator 12 Funken und Stimmgabeln 14 Reell ist, was an seiner Stelle klebt 15 Zur Geschichte des elektrischen Funkens. 16 Das Leidener Medium 16 Die Flügel des Geistes, Metaphysik der Teilchen 18 Oerstedt, Faraday 19 Maxwell 20 Ampère 20 Webers Zauberkreis 21 Noch einmal: Helmholtz Preisaufgabe 21 Feddersens Fotofunken 22 Funkenselbstbelichtung 23 Funkenselbstvermessung 24 Das Aufmaß des Reellen 26 Funkenfund 26 Zu stürmisch und zu unregelmäßig 28

2 VI INHALT Weber oder Maxwell? 29 Die Unvorstellbarkeit des Medialen 31 Fotoeffekt 32 Vorsicht vor der gewöhnlichen Elektrizitätslehre 35»Die Mechanik«,»in neuem Zusammenhange«35 Die Schwingung als Zeichen 36 Die Oszillation des Reellen 37 DAS AUFGELASSENE EXPERIMENTIERGERÄT 41»Radiant Matter«41»Strahlende Materie«oder»vierter Aggregatzustand«? 42»These rays can pass into the brain«44 Paris, Liverpool, Kronstadt, Bologna 46 Righi und Planck 47 Ontologische Reste 48 Der Kohärer 48 Branly und Baraduc 49»Les neurones jouant le rôle des grains métalliques«52 Lodge's Kohärer-Augenexperiment 53 Die Antenne 54 Marconi 54 Das Ohr als Kriegsgerät 55 Seekabel 56 Preece 57 Marconi Company 58 Poldhu 59 Die Radio-Röhre und der Gesang ohne Heimat 60 Der Edison»Effekt«60 The Wireless Valve 61 Audion 63 Die Röhren und der Krieg 64 Kriegsfreiwillig 65 KULTURINSTRUMENT RUNDFUNK 67 Bredow 67»Funkerspuk«67»Die Eroberung des Äthers«69»Radio Big Business«70

3 INHALT VII»Der Industrie ein neues Tätigkeitsfeld «71 Kulturinstrument 71 Das Äther-Paradigma 72 Kulturträger Rundfunk 73 Staatssicherheit vor Publizistik 74 Kein Massenmedium 75 Exkurs: Zum Verhältnis von Medien- und Wissensgeschichte 75 Die epistemologische Differenz 76 Begrenzte Epistemologien 77 Der Ausschluss des Politischen 77 Bildungstraditionen 78 Keine Öffentlichkeit 79 Der Radioruf 80 Doppelt ausgeschlossene Sozialdimension 81 Karl Kraus 82 Tote Helden 83 Radio-Attentismus 84 Radioitis! 86 Radiofurcht 87 Anton Kuh 87 G. H. Mostar 88 Shifter des»du«89 Absolute Radiokunst 89 Kurt Weill 90 Der schwerste Fehler des politischen Lebens 91 Absoluter Film 92 Akustische Zeitlupe 94 Busoni 94 Cahill s Telharmonium 96 Radio-Trautonium 97 Hallo Welle Erdball 99 HANS FLESCH 103»Zauberei auf dem Sender«, 103 Ernst Schoen 104 Störungen 105 Intendant 106

4 VIII INHALT Grotesker Anfang 106 Das»arteigenemechanische Instrument«107 Die Kunst der Apparatur 108 Der neue Mensch 109 Die Rundfunk-Reform 110 DIE VERSCHALTUNG DER MASSE UND DAS BEGEHREN DER STIMME 113 Goebbels: Radio-All-Macht 113»Dort Hitler, Ich Reportage«114 Die Übertragung der Gedanken 115 Parasozialität, Gleichschaltung 116 Die Stimme als körperlose Wesenheit 117 Funkwellen, der geistige Strom 118 Heissenbüttel 119 Kainz 120 Schöne Stimmen 121 Freud 122 Lodge 125 Schreber 129 Die Ambivalenz des Begehrens im Stimmenhören 132 Das Radio und die Psychose 136 Einheitsprogramm und Verschaltung 138 Ringsendung 141 USA 143 SEEKABEL, EDISON UND ELEKTRIFIZIERUNG 145 Seekabel 145 Faraday 146 Thomson 147»The Joint Committee on Submarine Telegraphs«149 Edison 150 Deafness 150»The invented self«der Erfindererfinder 151 Die Blamage 153

5 INHALT IX Der»Edison Effekt«(Radioröhre) 154 Elektrifizierung 156»ELECTRICITY will soon do everything«. 157 Looking Backward 2000 to Giant Power Heidelberg Electric Belt 160 Elektrokution 161 DIE ENTSTEHUNG DES US-RADIOS AUS DEM GEISTE DES WECHSELSTROMS 163 Befehlsimpuls und Wellen-Phantasma 163 ErfinderErfinder in der Nachfolge der Gentleman 164 Nikola Tesla 165 Crookes-Schüler 166 Teleportation 167 Mehrphasenmotor 167 Westinghouse 169 Charles Proteus Steinmetz 170 Sozialistischer Flüchtling 171 plus Elektrifizierung 172»j«173 Radio Phantasma 175 Fessenden 176 Dunwoody 178 Das Phantasma und das Gesetz der Frequenz 179 Titanic 180 Carpathia 180»All Titanic Passengers save«181»radio Act« Lusitania , Navy-Bill 183 Household Utility 185»BLUE MONDAY«,»SONG AND PATTERN«UND»JAZZ«187 Radio ruft Radio khz, 618 khz 188 Rufcodes 188

6 X INHALT KDKA und die Präsidenten 191 Dr. Frank Conrad, Westinghouse 192 Präsidenten 193 Harding 193 Coolidge 193 Hoover 193 Mass Media 195 Nationale Korporativität 195 Die Dualität der Radiostimme 196 WJZ 196 Song n Pattern 196 Jazz 197 The Great Migration 198 New Orleans 199 Intercourse 199 Täuschung 200 Race 200 Chicago 201 Paul Whiteman 202 Bing Crosby 203 Duke Ellington 204 DIE SERIALS 207 Amos n Andy 207»Songbirds«208 Gosden 208 Correll 208 The Harmony Boys 209 Radio-Comic 210 Gemessener Erfolg 211 Von Atlanta nach Harlem 212 Minstrel 214 Blackfacing Blacktalking 214 Das Spiel der Betrogenen 215 Protest 216 Das Ende 217 Die oszillatorische Täuschung der medialen Stimme 218 Studiopublikum die Codierung des Hörens 219 Soap 220

7 INHALT XI First Person Singular 221 March of the Time 221 Exkurs: Die Politik der Stimmen 222 Tom Heatherly Pear 223 Herta Herzog 223 Bühler 224 Loslösung der Stimme von der Person 225 Multi-ethnische Polyphonien 225»Always Arriving, Never Arrived«226 Linguistischer Slapstick 228 Die phatische Stimme 229 Halloween Charlie McCarthy 230 Ventriloquismus, Phonetismus 231»Spirituelle Qualitäten«? 232 Der ventriloquistische Spiegel 234 Das gespaltene Objekt des Begehrens 236 Nicht-Einstehen-Können für die Stimme 237 Mercury Theatre On The Air 238 Der literarische Ventriloquist 239 Charlie McCarthy vs.»war of the World«240 Suggestibilität 244 Interferenz einer Katastrophe 245 DIE DEEJAYS 247 Der Generationen-Riss in der Musik-Akzeptanz 247»The Princeton Radio Research Project«247 Ravag-Studie »Your Hit Parade«249»Lucky Strike«und»Lord & Thomas«250 Das normalisierte»du«251 Die Paradoxie der Normalisierung 252 Journalistische Indifferenz 253 Alles Ge-Stell(t) Ein Exkurs zu Heidegger 254 Simulation und Dissimulation 255 Dissimulatives Hören 256 Pathosakt der Akzeptanz 257»The World's Largest Make Believe Ballroom«258 FRC:»A fraud Upon the Listening People«259

8 XII INHALT Vier Drehbühnen 260»The Little Fellow Likes the Little Station«261»Not licensed for radio broadcast«264 DeeJay-Talk 265 Der Mondhund 269 Record Rendezvous 270 Executive Order Die 7-Inch-Single 271 Rhythm & Blues 272 TV 273 WJW 274 Brüllen, Heulen, Hämmern 274 Erschauern 275 Rock n Roll 277 Das ventriloquistische Totemtier 279» etwas, das nicht den Geist, sondern die Seele massiert«281 FORMAT-RADIO 283 Serielle Formatierung 283 Imperial-Ätherisch versus Korporativ-Sozialistisch noch nicht und nicht mehr Eine tote Menge lauter Einsen Radioforschung 286 Indikatoren der Stereotypie 288»Plugging«289»Programm Analyzer«289 Radioversessenheit und psychologische Taubheit 290 Kognitiv, affektiv, konativ 291 Programm-Signale 293 Signalstrukturen: vorgreifend, überlappend, verzögernd 293 Top Forty 295 Storz und McLendon 298 Management, Kryptografie und Historik 299 Kein journalistisches Medium 301 Die Omaha-Studie 303»The composition hears for the listener«exkurs zu Adornos Pop-Theorie von Zerstreuung und Unaufmerksamkeit 306 Standardisierung 307

9 INHALT XIII Pseudo-Individualisierung 308 Vorweggehört, vorgekaut, vorverdaut 309 Unterhaltung als doppelseitiges Objekt 309 Die formatierte Individualisierung des Hits 310 Das Radio als Objekt 311 Die (De-)Personalisierung des DeeJays 312 Protest und Payola 313 Fiktion und Perversion 314»Totemisms of DeeJay-Culture«Ein Exkurs zur DeeJay-Stimme 315 Die Schatten der Sucht»The Crying of Lot 49«316 Die Formel für ein aurales Objekt 318 Konative Voraussetzungen 319 Aurales Objekt 320»Informality«323 Promotion»to make people talk«323 Ein Nicht-Zuhören, dem Nichts entgeht 325»Radio is Sound«328 Die Stundenuhr 329 Music scheduling 330 Hörer-Anrufungen Call-Ins 332 Programmierung von Selbstähnlichkeit 333 Zeitliche Freiheitsgrade 333 Commercials 334 Die Emergenz der Formate Formatierung der Nation? 336 Die Säulen des Top Drake und die Baby Boomer 337 FM 339 Underground-Radio 343 Tom Donahue s»full-time album oriented FM radio station«343 Anti-Announcer Announcer: Der Auftritt natürlicher Stimmen 345 Rausch 347 Die Fragen einer Generation 349 Electric Music for the Mind and Body 351 Electric Buddha Nirvana 352 Rock - Musikindustrie 355 Das Underground -Kapital 355 Boomer-Kaufkraft 356 Consultancy : Die Radioberatung 357 Platzbesetzung der Stimme 359

10 XIV INHALT Radio- & Musikindustrie * Popularmusik-Formatismus 360»AOR«362 Ultimative Gegenwart: Cluster-Radio oder Radio aus dem Orbit? 364 XM-Radio 364 The keys that created each Radio revolution 365 Ausgeforschte Antizipation 367 THE musical information source 367 Format-Überlappung 368»Clear Channel«und die Format-Oligopole 369 Format-Babylon 371 Formate als Konsum-Milieu-Cluster 372»Cluster Selling«374 Radio-Reise nach Lubbock, Texas (via internet) 375 Radio als Konsumverstärker 378 Die orbitale Flucht in den Äther 379 LITERATUR 382 ABBILDUNGEN 392 EDITORISCHE NOTIZ 393

11 Vorwort Über die Geschichte des Radios zu reden, setzt wie selbstverständlich die Annahme voraus, dass technische Medien eine Geschichte haben. Die vorliegende Arbeit geht sogar noch weiter. Sie versucht, am Beispiel der deutschen Radioentwicklung bis 1945 und an der Entwicklung der Serial- und der Format- Epoche des US-Radios, zu zeigen, dass eine Theorie des Radios sich nur vor dem Horizont des jeweils zeitgenössischen Wissens ihrer historischen Epochen erschliesst. Gilt der Geschichtsbegriff der Aufklärung auch für die Historie der Medien? Oder gilt für Medien nur der Kontext einer Evolution? Evolution Die vokalalphabetische Schrift, entwickelt im frühen Griechenland für die Niederschrift der Homerischen Epen; der Kodex, entstanden um 100 vor Christus; das Buch, von Gutenberg in Europa eingeführt um 1450; die Telegrafie, im Prinzip gefunden von Ampere um 1820; die Fotografie, gleichzeitig der Welt eröffnet 1839 durch Talbot und Daguerre; das Telefon, gefunden durch Alexander Graham Bell um 1875; das Radio, in seinen theoretischen Grundlagen entdeckt 1888 durch Heinrich Hertz; das Kino, eingeführt um 1890 durch Edison und viele andere; das Fernsehen, eröffnet als Unterhaltungsmedium 1939 zuerst in den USA; und der Computer, in seiner Prinzipbauweise beschrieben 1945, ebenfalls in den USA, das wäre, kurz gesagt, die Reihe der technischen Medien, in denen das Radio seinen historischen Platz hat. Aber was heißt hier historisch? Ist vergänglich oder vorübergehend, also transitorisch gemeint? Auffällig ist: Die Entdeckungsdaten der technischen Medien rücken auf der Zeitachse, je weiter man an die Gegenwart herankommt, immer dichter aneinander. Wie ist das zu verstehen? Einige Forscher haben zu einem sehr allgemein gefassten Begriff der Evolution gegriffen und die These entwickelt, dass eine expandierende Weltbevölkerung einen vielfach höheren, nämlich exponentiell wachsenden Kommunikationsbedarf hat (Merten 1994, 142). Diese Erklärung mag auf den ersten Blick bestechen, aber bedenklich bleibt, dass sie nur ex post möglich ist. Erst wenn die Kette der Verdichtung da ist, kann man ihr mit einer Evolutions-Formel beikommen. Bedenklicher noch, Evolution ist ein terminus ad quem ohne terminus ad quem : Für die Zukunft sagt sie zugleich alles und nichts. Wenn es so weiter gehen sollte mit der exponentiellen Evolution, müßte die Kurve irgendwann einmal abbrechen; dann aber wüsste man nicht, was eine abgebrochene Kurve zu bedeuten hat.

12 XVI VORWORT Der Singular»Geschichte«und seine»mediamankind constantly being caught in his own traps language and systems developed and most difficult to break down«(innis 1980, 184), bemerkte der Begründer der neueren Medienhistorik Harold Adams Innis vor mehr als einem halben Jahrhundert. Damit ist gemeint: Wenn ein Medium entstanden ist und sein Dasein sowie seine Funktion sich in der Gesellschaft reproduziert, entgleitet der historische Gegenstand, den es anfänglich gebildet haben mag, mehr und mehr. Medien setzen in ihrer Existenz zugleich ihr eigenes Apriori. Unmöglich vorstellbar, wie eine Welt zuvor (ohne Schrift, Buch, etc.) ausgesehen haben könnte. Auf dieses Paradox war indirekt schon Friedrich Schiller gestoßen, als er Kurzzeitprofessor für Geschichte in Jena wurde. Er wurde es mit dem erklärten Ziel, nichts anderes als den jüngst entwickelten Kollektivsingular»Geschichte«zu propagieren. Der Begriff»Geschichte«ist nämlich erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gebäuchlich. In seiner Antrittsvorlesung zentriert Schiller das aufklärerische Programm der Historik völlig neu und verbindet es mit einem ebenso politischen wie philosophisch-ästhetischen Auftrag. Erst wenn ich, wie Schiller es vorschlägt, die Geschehnisse seit Entstehung der Menschheit als einen kontinuierlichen und sinnhaften Prozess begreife, kann dafür das singuläre Wort Geschichte einstehen. Damit ist zugleich die aufklärende Verpflichtung verbunden, das Programm, das hier Natur und natürliche Vernunft uns aufgegeben haben, auch in eine zu gestaltende Zukunft zu projizieren. Das Ganze hat aber eine Grenze oder Begrenzung, über die uns Schiller im Revolutionsjahr 1789 nicht im Unklaren lässt:»für die Weltgeschichte«sind»alle Begebenheiten vor dem Gebrauche der Schrift (...) so gut als verloren«. Die Grenze aller Geschichtlichkeit ist also eine mediale.»ereignisberichte aus vorschriftlicher Zeit«pflanzten sich»von Mund zu Mundedurch eine lange Folge von Geschlechtern fort, und da sie durch Media ging[en], die verändert werden und verändern, so musste[n] sie diese Veränderungen miterleiden«. Schiller ist es, der überraschenderweise schon den Begriff»Media«in einem sehr heutigen Sinne verwendet. Geschichte setzt nicht ein am Anfang der Welt, sondern an einem kontingent unhistorischen, weil medialen Punkt, nämlich bei den»denkmälern«der ersten Schriftzeugnisse, wie, wann und warum auch immer sie entstanden sein mögen. Zu ihnen hat der Historiker vom Stand seiner Zeit aus herauf- und wieder herabzusteigen:»wenn [der Universalhistoriker; W.H.] von dem laufenden Jahr und Jahrhundert zu dem nächstvorhergegangenen in Gedanken hinaufsteigt und (...) diesen Gang schrittweise fortgesetzt hat bis zum Anfang nicht der Welt, denn dahin führt ihn

13 VORWORT XVII kein Wegweiser bis zum Anfang der Denkmäler, dann steht es bei ihm, auf dem gemachten Weg umzukehren und (...) bis zu dem neuesten Zeitalter herunterzusteigen. Dies ist die Weltgeschichte, die wir haben.«(schiller 1962, 751f) Geschichte im Sinne Schillers hat in den ersten schriftlichen Denkmälern also ihr Apriori. Anders gesagt: Medien vernichten jeweils ihre Vorgeschichte. In dieser Doppeldeutigkeit des Geschichtsbegriffs, dass die Welt und ihre Me-dien nur geschichtlich sind, weil sie auch ungeschichtlich sind, muss die Medienwissenschaft Schiller folgen. Leicht einzusehen, dass in einem Schillerschen Sinn eine Geschichte der»media«undenkbar wäre. Denn sie geben ja erst die Voraussetzung, dass Geschichte überhaupt gegeben und denkbar ist. Historik der Medien Genau besehen haben wir es beim Thema Geschichte im Kontext der Medien also mit einer Historik zu tun. Es muss das, was in ihrem Zusammenhang unter Geschichte zu verstehen ist, jeweils im Kontext des Gegenstandsfeldes neu (re)- konstruiert werden. Medien sind, genau wie Schiller es sagt, von Anfang an Teil der Geschichte des Wissens und der Wissenschaften. In ihren»denkmälern«friedrich Kittler nennt sie im Anschluß an Schreber:»Aufschreibesysteme«ist Wissen abgespeichert. Allerdings, wie man hinzufügen muss, auf eine doppelte Weise: Denn Medien bewahren Wissen nicht nur als Aussagen, als Bild, als»denkmal«, als medial transportierter Inhalt usw., sondern auch in der Materialität ihrer Systeme, in ihren technologischen Eigenschaften und in deren Selbst-Beschreibungen. Medien bewahren in ihrer spezifischen Materialität zugleich die Wissensgeschichte ihrer Herkunft auf. Medien transportieren also ein doppeltes Wissen und bilden einen doppelten Wissensspeicher, für dessen Rekonstruktion und Dekonstruktion ich den Begriff einer Historik vorschlage. Ein sehr vereinfachtes, aber immerhin klassisches Beispiel für die Historik eines Mediums als Speicher eines doppelten Wissens ist beispielsweise die des römischen»stilus«. Der»stilus«(ein Schreibgriffel) kam etwa um 100 v. Chr. auf. Mit ihm konnte man auf den Wachstafeln sowohl die Buchstaben einritzen, als auch mit der anderen Seite des Griffels dieselben löschen und das Wachs glatt streichen. Die doppelte Funktion des Mediums Wachsgriffel ist einfach zu sehen: Nicht nur kann Cicero mit ihm beispielsweise das Wissen über die Rhetorik seiner Zeit aufschreiben und bewahren. Sondern zudem produziert das Schreibgerät selbst einen Wissenseffekt, der sich in seinem Namen verewigt hat. Die materiale Doppelfunktion des»stilus«eröffnet nämlich die Möglichkeit einer spezifischen Ökonomie des Schreibens, die für die Rede nicht existiert. Diese Ökonomie der geschriebenen Schrift heißt seither»stil«. In der Wissensgeschichte des Mediums»stilus«sind also nicht nur die Verwendung von Wachs in Tafelform und die technologischen und ökonomischen Möglich-

14 XVIII VORWORT keiten Roms aufbewahrt, die zugehörigen Rohstoffe in ausreichender und preiswerter Form bereit zu stellen. Auch liegt darin die genaue Kenntnis der Kontur des geschnitzten Holzstabes mit seinen beiden unterschiedlich geformten Enden. Drittens schließlich entsteht erst durch dieses Medium ein Effekt, der von nun an in der Schrift des Geschriebenen unausradierbar bestehen bleiben wird, nämlich die Reflexion oder Sebstbezüglichkeit alles schriftlich fixierten Wissens auf sich selbst. Also das, was man seither einen»stil«nennt (Gumbrecht 1986). Der Unterschied zwischen einem historischen Stil (etwa des römischen Historikers Sallust) und einer Historik des Stils ist offensichtlich. Ersterer ist von den Bedingungen der Möglichkeiten der letzteren mitgeprägt. Medien Massenmedien Sich selbst unsichtbar machende, als Apriori setzende und insofern unhistorische Medien sind die abendländischen Voraussetzung für das, was die Aufklärung unter Geschichte und Medien-Evolutionstheoretiker unter Medien- Evolution verstehen. Und nicht nur das: Die moderne Gesellschaft geht in ähnlicher Weise von der unhistorischen Existenz ihrer Massenmedien aus. Ihre Entstehung, ihr technisches Funktionieren und ihre gegebene Materialität wird rein instrumentell betrachtet. In seinem 1996 erschienenen Buch»Realität der Massenmedien«schreibt Niklas Luhmann:»Wir wollen die Arbeit dieser Maschinen und erst recht ihr mechanisches oder elektronisches Innenleben nicht als Operation im System der Massenmedien ansehen. Nicht alles, was Bedingung der Möglichkeit von Systemoperationen ist, kann Teil der operativen Sequenzen des Systems selber sein.«. Und noch deutlicher:»während wir die technischen Apparaturen, die Materialitäten der Kommunikation, ihre Wichtigkeit unbenommen, aus der Operation des Kommunizierens ausschließen, weil sie nicht mitgeteilt werden, schließen wir den (verstehenden bzw. mißverstehenden) Empfang ein.«(luhmann 1996, 13f) In der Tat, zwischen der Materialität eines technischen Mediums und seiner Funktion als Massenmedium gilt es zu unterscheiden. Luhmann, der diese Unterscheidung trifft, sieht nur die eine Seite des Unterschiedenen. Ihm kommt es allein darauf an, was sich in einem System der Kommunikation kommuniziert, also was an Informationen selektiert, mitgeteilt und verstanden werden kann. Luhmann und mit ihm alle konstruktivistisch orientierten Ansätze der Medienwissenschaft seither blenden die andere Seite, also die technologischen Bedingtheiten, die Wissensgeschichte ihrer Entstehung und die Materialität der Einzelmedien aus, die dieses Kommunikations-Werk ermöglichen. Ihnen ist es genug, etwaige technische Besonderheiten der Übertragung innerhalb der nachfolgenden und anschlussfähigen Kommunikations-Koppelungen wiederzufinden. Oder eben nicht.

15 VORWORT XIX Mein Ansatz, den dieses Buch an einigen exemplarischen Studien zum ersten elektronischen Massenmedium, dem Radio, ausarbeitet, versteht die luhmannsche Herangehensweise, also seinen systemtheoretischen Ansatz, selbst noch einmal epistemologisch. Luhmanns Beschreibungsdiskurs besagt, dass sich im System der Kommunikation nur solche Umwelten (Historien etc.) des Systems kommunizieren lassen, die von ihm selbst erzeugt worden sind. Das aber reproduziert epistemologische Voraussetzungen, die eben nicht von System selbst (im Sinne einer mystischen Autopoiesis oder einer para-spiritistischen Re- Entry-Logik ) geschaffen wurden, sondern von der Quantenmechanik und der Kybernetik des 20. Jahrhunderts (Vgl. Hagen 2004). Diese Voraussetzungen werden nur sichtbar, wenn man die Entwicklung der technischen Medien, etwa des Transistors oder der Röhren, mit einer Historik beschreibt, die ihre Wissensgeschichte aufzeigt. In Bezug auf die Darstellung ihrer Geschichte und Funktion schlage ich vor, zwischen Medien und Massenmedien eine gegenseitig verkoppelte diskurstheoretische Unterscheidung zu treffen. Die Massenmedien, deren Funktionssystem unter den gegebenen politischen, rechtlichen und ökonomischen Bedingungen nur ihre eigenen operativen Differenzmuster reproduzieren können, verlangen einen Theoriediskurs prinzipiell konstruktivistischer Art, wie ihn Niklas Luhmann in Grundzügen entwickelt hat. Davon zu unterscheiden wäre eine Historik der technischen Medien, die es mit der doppelten Geschichte ihres Wissens aufnimmt. Mit ihr ließe sich die Genesis der Methodik freilegen, nach der eine funktionelle Theorie der Massenmedien historisch gültig werden kann, der ein»radikal konstruktivistische[r] Gesellschaftsbegriff«(Luhmann 1997, 35) zugrunde liegt. Insofern sind beide Theoriediskurse verkoppelt. Es geht ja auch darum zu erklären, warum die Historik der Medien selbst kein Gegenstand der Kommunikation innerhalb des Funktionssystems der Massenmedien sein kann. Meinen Erklärungsversuch dafür habe ich an anderer Stelle vorgelegt: Vor allem nämlich gegenüber ihrer Gegenwart sind die Massenmedien blind, oder genauer gesagt: gegenwartsvergessen (vgl. Hagen 2003). Diese wichtigste Bedingung ihrer funktionellen Möglichkeiten ziehen die Massenmedien direkt aus der epistemologische Genealogie der technischen Medien. Denn, noch einmal, technische Medien eröffnen eine Weltsicht, die ihr eigenes Apriori setzt und deshalb keinen Rekurs auf ihre eigene Geschichte mehr zulassen kann. Übersicht Die folgenden Studien zu einer Historik des Radios sind exemplarisch zu verstehen. Sie gehen von einem Befund aus, der von den massenmedial überformten Medienhistorien gern übersehen wird: nämlich dass, salopp gesagt, das Radio nicht nur einmal, sondern sozusagen zweimal entdeckt worden ist. Einmal in Europa hier nehme ich vor allem Deutschland in den Fokus und ein

16 XX VORWORT zweites Mal in den USA. Die Unterschiede dieser Doppelentstehung herauszuarbeiten, ist ein Ziel dieses Radiobuches. Die Versuche des Heinrich Hertz beschreiben die für beide Entstehungskulturen des Radios grundlegende epistemologische Differenz. Das Radio wird möglich, weil Heinrich Hertz die Existenz elektromagnetischer Wellen beweist; zugleich aber muss er zugeben, dass es von diesen Wellen nichts anderes als Scheinbilder geben kann. Damit eröffnet Hertz wissenschaftshistorisch die Moderne, bricht implizit schon mit der Kontinuumsphysik des 19. Jahrhunderts und ganz explizit mit deren Grundsatz,»daß eine physikalische Erscheinung zu verstehen das gleiche sei, wie ein mechanisches Modell der Erscheinung zu bilden«(cassirer 1945, 319), um es mit Ernst Cassirer zu sagen. Von dem, was Elektromagnetismus ist, also von dem entscheidenden epistemischen Ding des Radios, wird fortan niemand mehr ein ontologisch einfaches und mechanisch eindeutiges Bild haben können. Außer in den abstrakt-mathematischen Gleichungen der Maxwellschen Theorie, deren Gültigkeit Hertz durch seine Versuche beweist, wird jeder Versuch, Radio als ein Medium technologisch zu realisieren, von der epistemologischen Differenz der Scheinbildhaftigkeit geprägt sein. Die stupende Flüchtigkeit und Transienz der Epochen der Radiogeschichte folgt aus dieser Historik der epistemologischen Differenz. Das aufgelassene Experimentiergerät stellt den ersten prägenden Aspekt der europäischen Radiogeschichte in den Mittelpunkt. Hertz sieht nicht, wie aus seiner Entdeckung eine brauchbare Technologie, etwa im Sinne einer Erweiterung des Telefons, entstehen könnte. In Europa (auch in den USA) entsteht das Radio nicht aus einem akademisch-universitären Diskurs, sondern aus einer gleichermaßen gegenmodern-spiritistischen wie militärischen Perspektive. In Europa ist der entscheidende spiritistische Einsatz dabei die Erfindung des ersten brauchbaren Empfangsgerätes (»Kohärer«) für elektromagnetische Wellen, das in der Folge den Militärs das Radio ermöglicht. Kulturinstument Rundfunk beschreibt die Rundfunkgründung und -entwicklung in der Weimarer Republik. Das Radio wird zwar formal als Massenmedium zugelassen, aber gleichzeitig auf Kultur zurückgedrängt und zwar mit dem Ziel, es sozial und politisch zu entmündigen. Dies geschieht im besten, aber immer noch gegenmodernen Wissen. Dieses Wissen begreift das Medium im Kontext eines Ätherparadigmas, dem ein staatsbürokratischer Absolutismus äquivalent ist. Das auf einen absolutistisch mißverstandenen Kulturbegriff zurückgedrängte Medium führt einerseits zu der Fiktion des Radiorufs, mit dem absolute Stimmen in überparteilicher Wahrheit in einem einzigen Programm die Hörer für den Apparat zu gewinnen suchen. Andererseits entwickeln sich, gestützt auf einen ebenfalls gegenmodernen Kontext der Avantgarde des sogenannten Abstrakten Films, Konzepte einer Absoluten Radiokunst, die die frühe deutsche Hörspielentwicklung stark beeinflussen.

17 VORWORT XXI Das Kapitel Hans Flesch stellt einen der wenigen Gegenentwürfe zur herrschenden Weimarer Entwicklung dar. Der Frankfurter und Berliner Intendant Hans Flesch sieht die grotesken Formen des Mediums, eingezwängt in einen gegenmodernen Kulturbegriff, von Anfang an sehr deutlich. Fast alle Versuche der Weimarer Radiogeschichte, aus dem gegebenen Kulturkonservatismus durch Produktion neuer Formen auszubrechen (Brecht, Weill, Benjamin, Hindemith u.a.) sind direkt oder indirekt auf den Einfluß von Hans Flesch zurückzuführen. Seine (viel zu) späten Versuche der Aktualisierung des Mediums enden in der reaktionären Rundfunkreform von 1932, die das deutsche Radio vollends unter die politischen Direktiven eines Staatskonformismus stellt, der bereits protofaschistische Züge trägt. Die Verschaltung der Masse und das Begehren der Stimme beschreibt die Radikalisierung des Radiowissens der Weimarer Republik im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Machtübernahme des Rundfunks. Die Historik des Mediums artikuliert ihre psychotische, spiritistische und jenseitsgläubige Spur. Richard Kolbs Radiotheorie, von vielen Hörspielmachern der Weimarer Republik, aber auch rückhaltlos immer noch von wichtigen Regisseuren und Dramaturgen der Nachkriegszeit hochgeehrt, steht dabei im Mittelpunkt der Analyse. Kolbs autoritäre, auf ästhetische Gehorsams-Resonanz des Hörens ausgerichtete Theorie einer körperlosen Wesenheit der Stimme wird in ihren psychotischen und spiritistischen Aspekten diskutiert. Sie bildet die epistemologische Brücke der deutschen Radioentwicklung, die aus dem Weimarer Radio in den erfolgreichen Verschaltungs-Rundfunk der Goebbels-Ära führt und bis in die 1960er Jahre hinein das Idealbild des stimmästhetisch deutschen Radiorufs kontinuiert. Mit dem Kapitel Seekabel, Edison und Elektrifizierung widmet sich die vorliegende Arbeit dem elektrizitätshistorischen Background der US-amerikanischen Entstehung des Mediums. Auch hier zeigt sich, wie die Historik der epistemologischen Differenz des Mediums ein Fehl-Verstehen der Elektrizität im scheinbildhaften Übersteigern seiner nicht greifbaren ontologischen Dinglichkeit zum Movens der Entwicklung wird. Allerdings findet sich dieses Scheinbildwissen nicht, wie in Europa, in den Köpfen von immerhin wissenschaftlich ausgebildeten Technikern, sondern in den Köpfen von Erfindererfindern in der Nachfolge Thomas Alva Edisons. Sein Zufallsfund der Radioröhre, aber auch seine durch die Glühbirne forcierte Gleichstromelektrifizierung treibt die Radioentwicklung weiter voran. Die Entstehung des amerikanischen Radios aus dem Geiste des Wechselstroms bringt die durch Edison vom Zaun gebrochene Schlacht der Systeme, also den heftigen Kampf um die amerikanische Elektrifizierung (Gleichstrom versus Wechselstrom), in Erinnerung. In diesem Kontext werden nach Nikola Teslas Patenten und Charles Steinmetz Theorie sehr früh gut gehende Wechselstrom- Generatoren gebaut, die erste drahtlose Tonübertragungen ermöglichen. Alles

18 XXII VORWORT bleibt in der Hand der Erfindererfinder, aber ihr Wissen hat im Kampf gegen Edison proto-sozialistische, zumindest aber korporativ egalitäre Visionen entstehen lassen. Der Einsatz dieser Wechselstrom-Sender, sowie die frühe Verbreitung der Radioröhren vor 1914 lassen in den USA eine Radioamateurbewegung entstehen, die nach dem Ersten Weltkrieg die Basis der amerikanischen Radioentwicklung bilden wird.»blue Monday«,»Song and Pattern«und»Jazz«beschreibt die Anfänge der massenmedialen Genesis des Radios in den USA. Der Radio-Act von 1912, der Konsequenzen aus der Titanic-Katastrophe zog, hatte den korporativen Wechselstromkontext des Elektrischen dahingehend umdefiniert, dass Radio, von Amateuren gemacht, lediglich auf zwei Frequenzen stattfinden durfte, also als Radiotelefonie. Das bleibt auch bei der Lizensierung der frühen Radiostationen so. Das Kapitel zeigt, wie sich daraus ein interkommunikatives Radioideal, die präsidentiale Orientierung, die Dualität der Radiostimme und eine erste Integration der afro-amerikanischen und weißen Radiomusik-Kulturen im Jazz entwickeln. Die Serials thematisieren die erste große Epoche der amerikanischen massenmedialen Radiokultur. Diese Epoche erschließt den interkommunikativen Horizont des Mediums neu, indem sie die Dualität der Radiostimme in seriellen Formen des Hörspiels ausdifferenziert. Das amerikanische Hörspiel ist fortan immer seriell, Einzelwerke sind unbekannt. Insgesamt 6000 Radio-Serials aller nur denkbaren Genres entstehen, und jedes dieser Serials hat Hunderte, manche Tausende von Folgen. Das Kapitel untersucht exemplarisch drei große Serials, nämlich Amos n Andy, Charlie McCarthy und Orson Welles Mercury Theatre On The Air. Die Stimmpolitiken der Serials sind ventriloquistisch und entwickeln völlig neue, medientypische Formen der oszillatorischen Täuschung und weitere phatische Dimensionen des Begehrens nach Stimme. Mit den Serials wird das US-Radio zu einem erfolgreichen Massenmedium. Die These ist, dass sich jetzt auf der Basis des Wissens/Nichtwissens dessen, was das Radio ist (i.e. die Historik der epistemologischen Differenz des Mediums), in den Serials konkrete Figuren eines oszillatorischen Begehrens nach Radio-Stimmen ausdifferenzieren. Mit dieser erfolgreichen massenmedialen Idolatrie vielfarbiger Simmpolitiken trägt die Epoche der Serials nicht unbeträchtlich zur Integration der Immigranten-Nation USA in einer der schwierigsten Epochen ihrer Geschichte bei, nämlich in der Epoche der Great Depression der 1920er und 1930er Jahre. Die DeeJays sind der typische und nur in den USA entstandene Ausdruck einer auf das Begehren nach Stimme orientierten Radiofigur, die eine Fähigkeit des medialen Hörens erzeugt, die auf Simulation und Dissimulation zugleich gründet. Die Deejays setzen die massenmedialen Stimmpolitiken der Serialhelden fort und bilden sie weiter aus. Das Kapitel geht ihrer Entstehung in den 1930er

19 VORWORT XXIII Jahren nach und beschließt die Analyse mit der Darstellung des ersten»rock n Roll«-Deejays Allan Freed, genannt Mondhund. Deejays wie Freed erzeugen den Typus eines ritualisierten Hörens und einer suggestiven Du -Bindung. Ohne eine analytische Rückbindung dieser Strukturen an eine Historik des Mediums wäre ihre Intensität aus meiner Sicht unverständlich. Ihre strukturelle und kulturbildende Funktion ist erheblich. Es sind die Radio-Deejays, die eine totemistische und damit transethnische Integration einer unermesslichen Fülle von afroamerikanischer Musik in die Gesellschaft des White America möglich machen. Das Schlußkapitel des Buches Format-Radio schildert die Genesis der zweiten Radio-Epoche der USA von den Anfängen des Top 40 -Radios um 1950 bis zu den jüngsten Entwicklungen des orbitalen Satelliten-Radios. Entscheidend dabei ist, dass mit dem Aufkommen des Fernsehens das US-Radio zu einem auralen Objekt ausdifferenziert wird, das jenseits konkreter Sendungen und konkreter Stimmen in einem konativen Pathosakt der Akzeptanz seine Hörerbindung auf weitgehend neuartige Mechanismen gründet. Format-Radios verwandeln das Radio zu einem Dauer-Serial durch Programmierung von Selbstähnlichkeit. Die oszillatorischen Irritationen der DeeJays verschwinden hinter diesem fraktalen Schematismus fast völlig. In einer über drei Jahrzehnte währenden Verflechtung mit einer stark expandierenden Musikindustrie der Popkultur bilden sich am Ende streng gegeneinander formatierte Musikradios heraus, die im Zuge der völligen Deregulierung des US-Radiomarktes seit Mitte der 1990er Jahre allerdings mehr und mehr zu werbewirksamen Konsumverstärkern zu verkommen drohen.

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21 EUROPA

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23 Die Versuche des Heinrich Hertz VORLAUF Das erste elektrische Medium der Neuzeit ist die Telegrafie. Ihr Design wird nach 1820 möglich, weil eine (weitgehend unverstandene) Experimentation eines Kopenhagener Philosophen menschheitsgeschichtlich zum ersten Mal die Abhängigkeit von Elektrizität und Magnetismus systematisch erwiesen hatte. Die Instrumente des entsprechenden Experiments werden als ein Gerät umgedeutet, mit dem man Zeichen über beliebig lange Strecken per Draht übertragen kann. Gemeint ist der elektromagnetische Zeigertelegraf, den, im Anschluss an das revolutionäre Experiment von Hans Christian Oersted, Jean Marie Ampère entwickelt hat (Siegert 2003). Das neue Medium funktioniert, ohne dass das Wissen der Zeit einen synthetischen oder analytischen Aufschluss darüber geben kann, wie Elektrizität in den Leitungen, oberirdisch, unterirdisch oder unter Wasser, operiert. Was Elektrizität ist, die hier funktioniert, bleibt weitgehend unbekannt. Zeitgleich, zwischen 1826 und 1839, kommt auch das erste photo-chemische Medium der Neuzeit in die Welt: die Fotografie. Hier bleibt für das zeitgenössische Wissen ebenfalls über lange Jahrzehnte so gut wie alles unklar in Bezug auf den physikalisch-chemischen Mechanismus. In den Laboren von Niepce, Daguerre oder Talbot entstanden belichtbare Bilder in einem weitgehend blinden Prozess des elektrochemischen Experimentierens (Hagen 2002a). Bis ins 20te Jahrhundert hinein fehlt der zugehörige Diskurs des Symbolischen, also die Mathematisierung der atomaren und subatomaren Effekte und chemischen Reaktionsbildungen, während das entsprechende Medium in Apparategestalt längst folgenreiche wissenschaftliche und kulturelle Prozesse in Gang gesetzt hatte. Ab 1840 gibt es reelle Apparaturen des Medialen, die einfach nur funktionieren, z.b. Telegrafen und Kameras. Symbolische Beschreibungen innerhalb einer zureichend formalisierten Wissenschaft existieren nicht. Die Technologien enthalten ein reelles Wissen, das (noch) niemand weiß. Diese Differenz zwischen den beiden Wissensarten ist eine historische, oder anders gesagt, das Historische an technisch-elektrischen Medien liegt in eben dieser Differenz der Wissensarten. Sie ist zeitlich gebunden an Diskurse, also vorläufige Aussagen, und sie produziert im Symbolischen überschüssige Imagination, waghalsige Deutungen und große Verwirrungen. Es ist die Ungleichzeitigkeit von reeller Funktionalität und symbolischer Logik, die zum imaginären Überschuss zwingt. Diese Ungleichzeitigkeit haftet seither jedem elektrischen Medium an und stiftet stärkere oder schwächere Ersatzdiskurse der kulturellen Erklärung und Selbstverständigung über ihre Technologie. Und deshalb beginnt auch nicht zufällig in

24 4 DIE VERSUCHE DES HEINRICH HERTZ den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts der moderne Spiritismus, der weit in das 20. Jahrhundert hineinreichen wird (Hagen 2001). Auch das Telefon und der Phonograph entstehen aus dem Einsatz, den imaginäres Experimentieren mit Apparaten ins Reelle gleiten lässt. Man weiß, dass ein gewisser Physikprofessor namens Philip Reis 1861 in Deutschland das Telefonprinzip mittels Schwimmblasenhaut und Stricknadelspulen schon 15 Jahre vor Alexander Graham Bell erfunden hatte. Nur war mit seinem Apparat, konstruiert aus organischen Häutchen und Knochen, so gut wie kein Wort zu verstehen (Mache 1989, 46ff). Seine auf Gleichstrom gegründete Experimentation blieb auch apparatemäßig ein Phantasma. Zwischen Reis und Bell liegt»die Lehre von den Tonempfindungen«von Hermann von Helmholtz (1863) eine physikalisch-mathematische Anschreibung der Physiologie menschlicher Sprech- und Hörmechanismen, die für Alexander Bell und Thomas Alva Edison wiederum zu einer phantasmatischen Referenz wurde. Zumindest Alexander Graham Bell verstand kein Wort und baute in diesem Missverstehen eine kontingent funktionale Apparatur (Hagen 2000). Das Telefon, eine der wichtigsten Vorerfindungen des Radios, ist als eine reelle, aber unverstandene Abwandlung physiologisch-physikalischer Experimentalaufbauten der wilhelminischen Physik entstanden. Preisfragen Derselbe Hermann von Helmholtz, Militärarzt, Chirurg, Kunstakademie-Anatom, Professor für Physiologie, Erfinder des Augenspiegels und Errechner der Laufzeit von Nervenreflexen, wendet sich 1870 wieder der Elektrizität zu. Nachdem Helmholtz aus früheren Experimenten schon weiß, dass in den Nerven der menschlichen Körper ein Strom von 100 Millisekunden Geschwindigkeit fließt, will er nun wissen, was dessen allgemeine Gesetze sind. Überdies ist ihm klar, wie fundamental bedeutend die Elektrotechnik in der wachsenden Industrialisierung zu werden versprach. In ganz Europa werden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Generatoren zur Erzeugung von Strom zunehmender Kraft und Mächtigkeit gebaut, ohne dass die Physik eine Klarheit über deren grundlegende Eigenschaften hatte. Mit einem Lehrstuhl für Physik in Berlin macht Helmholtz ab 1870 statt Physiologie Elektrodynamik zu seinem Forschungsgegenstand. Erklärtes Ziel des Fachwechsels war, einen theoretischen Streit zu entscheiden (Helmholtz 1870). Seit Anfang der 1860er Jahre nämlich lagen Arbeiten eines äußerst verwegen denkenden schottischen Physikers namens James Clerk Maxwell vor, der allen gründerzeitlich deutschen Elektrizitätstheorien diametral widersprach, zumal denen von Wilhelm Weber und Franz Neumann. Weber und Neumann hatten ein Strommodell entwickelt, das auf Fernwirkungs-Hypothesen beruhte und unendliche Ausbreitungsgeschwindigkeiten zuließ, während Maxwell die

25 VORLAUF 5 Lichtgeschwindigkeit als Grenzgeschwindigkeit der Elektrizität behauptete (Rechenberg 1994, 195). Helmholtz ging es darum, die beiden widersprechenden Theorien über die Elektrizität zu vereinheitlichen, oder aber herauszufinden, welche von den beiden die physikalisch richtige war. Dazu setzte er 1879 eine Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften aus. Diese Preisfrage zielte auf den Kern der Differenz zwischen der englischen Nahwirkungs- und der deutschen Fernwirkungstheorie der Elektrizität. Sie verlangte die Klärung der vergleichsweise einfachen Frage, ob die Kraft, die zwischen den zwei Enden eines offenen Stromkreises wirke, die gleichen elektrodynamischen Wirkungen hervorrufe, wie die normale Kraft eines Wechselstromkreises auf einen anderen. Anders gesagt: Wenn an einem ungeschlossenen Leiter Funkenentladungen überspringen, würde das die gleichen Induktions -, also Strombildungseffekte in einem nahebei liegenden Leiter hervorbringen, wie wenn man durch den primären Leiter schnelle Stromstöße schickt? Wie auch immer, um Mathematik ging es jedenfalls bei all dem nicht. Heinrich Hertz, Student bei Helmholtz, kannte zu diesem Zeitpunkt die Mathematik Maxwells nur durch die Notationen und Lesarten von Helmholtz. Wenn die Wissenschaftshistorik nicht irrt, so wusste Hertz eher nichts Genaueres von der in schwierigster Mathematik verborgenen Voraussage, dass wechselnde elektrische und magnetische Felder sich lichtgeschwindigkeitsschnell auch im freien Raum ausbreiten können. Noch nichts. Lodge, der Maxwellianer Genau das aber hatte James Clerk Maxwell vorhergesagt, dass sich Elektrizität im freien Raum in Wellenform ausbreiten lasse, und zwar so schnell wie das Licht. Um dies wirklich zu verstehen, musste man Maxwells komplexe Mathematik, die etwas Geheimwissenschaftliches an sich hatte, gut kennen. Zum Zwecke ihres näheren Studiums und zum Nachweis der geheimnisvollen Elektrizitätskräfte im Raum taten sich denn auch im Todesjahr James Clerk Maxwells, 1879, drei seiner jungen Schüler Oliver Lodge, George Francis Fitzgerald und Oliver Heaviside zusammen und nannten ihren Kreis eher informell»the Maxwellians«. Es sind diese drei, mit denen Heinrich Hertz ab Frühsommer 1888 lange Briefe wechselt, in denen er sich zu versichern sucht, was er eigentlich gefunden hat (O Hara 1987; Fölsing 1997). Denn, wie im folgenden deutlich werden wird: Sicher konnte sich Hertz nicht sein. Was er nach einjährigem mühevollen Experimentieren in seinen Karlsruher Labors, allein und abgeschieden und nur mit eigenen Augen gesehen und gefunden zu haben glaubte, nach einem deutschen Verständnis von Physik, nach allen deutschen Schulen der Elektrizitätslehre, existierte so etwas nicht: elektrische Kräfte, die sich frei durch den Raum bewegen in Lichtgeschwindigkeit. Und wieso hatten

26 6 DIE VERSUCHE DES HEINRICH HERTZ denn die unmittelbaren Schüler des Meisters, eben diese Maxwellians, solche Wellen nicht längst schon gefunden? Einer von ihnen, der exzentrische Telegrafen-Ingenieur Oliver Heaviside, hatte Maxwell in der Tat gut verstanden und auch die Ableitungs-Gleichungen vereinfacht, nach denen sich elektromagnetische Wellen durch den Äther (wie man annahm) freiweg fortpflanzen (Nahin 1988). Maxwell hatte prädiziert, dass elektrische Schwingungen sich wie das Licht ausbreiten, weil Licht nichts anderes als elektromagnetische Schwingung sei. Blieb nur die Frage, mit welcher Frequenz man unterhalb des Lichts solche Schwingungen sollte erzeugen können, und vor allem wie? Das stand in den Gleichungen nicht. Schnell wie das Licht, aber doch nicht Licht, oder doch? Frequenz blieb der blinde Fleck im Symbolischen der Maxwellschen Gleichungsmathematik. Der erste Maxwellianer, dem dementsprechend schwarz vor Augen wurde, war der schon benannte Oliver Lodge, von dem Heinrich Hertz später behaupten sollte, er, Lodge, hätte das Ganze genauso gut entdecken können (Hertz 1891). Und in der Tat: Schon im Februar 1880 findet sich in Lodges Labor-Tagebuch folgender Eintrag:»120 Leidener Flaschen in Reihe geschaltet, alle regen einander durch Entladung an, einen dünnen Kondensator in das Ende der Reihe gehängt; diese Flasche zu entladen wird Licht aussenden. Das wird das beste Ding sein...«(*rowlands 1994, 45). Lodge also versucht, sich auszudenken, wie man, qua kaskadierter Funkenentladungs-Oszillation, dasjenige produziert, was lichtgeschwindigkeitsschnell und also Licht sein muss. Alles ein Irrtum.»This is all a misunderstanding«, schreibt Lodge im August,»it acts as a proof that ordinary electromagnetic disturbance is not of a wave nature«(45). Jetzt ist das Chaos wieder da. Dass elektromagnetische Störungen, also Ätherverspannungen, Wellenformen wie das Licht haben sollten, war selbst für den kenntnisreichsten Maxwellianer wieder fraglich geworden. Von der ersten richtigen Theorie des Elektromagnetismus sollte kein Weg zu ihrer experimentellen Erforschung führen. Die Vor- Entdecker Vermutlich war es die zu gute maxwellianische Kenntnis der Maxwellschen Theorie, die eine Erzeugung elektromagnetischer Wellen unmöglich machte. Wer zu viel weiß, will vom Zufall (oder anderen Blickwinkeln) nichts wissen. Genau so widerfuhr es offenbar auch dem ganz theoriefernen Londoner Telegrafeningenieur David Hughes, der 9 Jahre vor Heinrich Hertz, wie man später einsehen musste, de facto Elektromagnetismus erzeugt hatte. Hughes ist der Erfinder eines der ersten halb-metallischen Mikrophone (ein Meilenstein der Telefon-Technologie), und stellte in diesem Mikrophon (!) ein deutliches Knakken fest, wenn irgendwo in der Nähe eine Drahtspule, bis zu 500 Yards entfernt,

27 SCHEINBILDER EINES SCHLECHTEN GEHÖRS 7 Funken sprühte (Slaby 1911, 254ff). Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet der dem Ätherokkultismus des vierten Aggregatzustands am meisten zugeneigte Chemiker William Crookes bei diesen Versuchen zugegen war, also ein Forscher, der übersinnlichen Dingen nun wahrhaft nicht ablehnend gegenüberstand. 1 Gleichfalls vor Ort war der spätere Marconi-Förderer und Chef aller Seekabel William Preece. Beide blieben skeptisch. Monate später wurde alles noch einmal genauestens vor einem größeren Gelehrtenkreis reproduziert, doch der Doyen der Royal Society, Sir George Stokes (der mit seinem Integralsatz prominent in die Mathematikgeschichte eingegangen ist), erklärte den Fund abschließend für einen normalen Induktionseffekt, und damit für Labordreck ohne jeden wissenschaftlichen Wert. Das Nichtzusammenbringen von reproduzierbaren Effekten des Elektromagnetismus mit einer gängigen Theorie der Elektrodynamik, die keine solchen Effekte erlaubte ; sowie ein neues theoretisches Wissen über Elektromagnetismus, das keinen reellen Effekt seines empirischen Beweises zu produzieren zuließ, das war die paradoxe Lage in den 1880er Jahren. Hinweise auf Effekte der ersteren Art gab es genug, nicht nur in England. Der Erfinder von Glühbirne und Phonograph, Thomas Alva Edison, operierte 1875, also schon 13 Jahre vor Hertz, wieder einmal in seinen amerikanischen Labors mit magnetischen Induktoren, woraufhin überall an seinem metallenen Labortisch Überschläge zu zischen begannen. Dieses Phänomen hielt er, wie er schrieb, für den Beweis einer nicht-elektrischen»ätherischen Kraft«, ging der Sache aber nicht weiter nach (Nye 1983). SCHEINBILDER EINES SCHLECHTEN GEHÖRS Absage Dezember Als die Entdeckung und der Nachweis der elektrischen Strahlen durch Heinrich Hertz längst in aller Munde sind, fragt ein Zivilingenieur der Elektrizität, Heinrich Huber, beim 32jährigen Entdecker in Karlsruhe höflich nach, ob man die neuen Wellen für Zwecke der Übertragung von Telefonie oder Ähnlichem würde verwenden können. Postwendend folgt eine Absage.»Sehr geehrter Herr! Auf ihre freundlichen Zeilen vom 1. des Monats antworte ich ganz ergebends das Folgende: Magnetische Kraftlinien lassen sich ebenso gut wie die elektrischen als Strahlen fortpflanzen, wenn ihre Bewegungen nur schnell genug sind; denn in diesem Falle gehen sie überhaupt mit den elektrischen zusammen, und die Strahlen und Wellen, um welche es sich in meinen Versuchen handelt, könnte man ebenso gut magnetische wie elektrische nennen. Aber die Schwingungen [...] eines Telefons sind viel zu langsam. Nehmen sie tausend 1. Vgl.»Strahlende Materie«oder»vierter Aggregatzustand«?, Seite 42ff.

28 8 DIE VERSUCHE DES HEINRICH HERTZ Schwingungen in der Sekunde, so würde dem doch im Äther schon eine Wellenlänge von 300 Kilometern entsprechen, und von der gleichen Größe müßten auch die Brennweiten der benutzten Spiegel sein. Könnten sie also Hohlspiegel von der Größe eines Kontinents bauen, so könnten sie damit die beabsichtigten Versuche gut anstellen, aber praktisch nichts machen, mit gewöhnlichen Hohlspiegeln würden sie nicht die geringste Wirkung verspüren. So vermute ich wenigstens. Mit vorzüglicher Hochachtung bin ich ihr ganz ergebener Heinrich Hertz«(in Weilenmann 1903, 15) Das Radio hat Hertz jedenfalls nicht erfunden. Er, der gelernte Ingenieur und begnadete Praktiker der Elektrizität, hatte keine Idee, was man mit seiner Entdeckung nachrichtentechnisch hätte anfangen können. Seine Beschreibung dessen, was er zwei Jahre zuvor tatsächlich gefunden hatte, bleibt gleichwohl einzigartig korrekt:»strahlen und Wellen«, die man»ebenso gut magnetische wie elektrische nennen könnte«, die sich»fortpflanzen«, wenn»ihre Bewegungen nur schnell genug sind«, und dann»überhaupt [miteinander] zusammen«gehen. Auch zwei Jahre danach kommt es Hertz immer noch und vor allem darauf an, die richtige Sprache für seine Entdeckung zu finden. Scheinbilder 1889, als er Heinrich Huber negativ beschied, interessierte sich Hertz für die Strahlen und Wellen selbst kaum noch. Er stand kurz vor der Niederschrift einer systematischen Arbeit über die Mechanik; eine sehr tiefgründige Theoriearbeit, deren Einleitung berühmt geworden ist. Hertz, der geniale Experimentator, der gesehen hat, was vor ihm niemand sah, spricht hier von den Bildern der Physik.»Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äußeren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände. Damit diese Forderung überhaupt erfüllbar sei, müssen gewisse Übereinstimmungen vorhanden sein zwischen der Natur und unserem Geiste. Die Erfahrung lehrt uns, daß die Forderung erfüllbar ist und daß also solche Übereinstimmungen in der Tat bestehen«(hertz 1894, 67). Drei vergleichsweise harmlose Sätze von epistemologisch revolutionärer Kraft. Einer ihrer ersten Leser war der Physiker Ludwig Boltzmann. Boltzmann befand sich in der prekären Lage, so etwas wie Wahrscheinlichkeit und Probabilistik, also Näherungen und Ungenauigkeiten, in ein System absoluter Maße und natürlicher Werte zu integrieren, nämlich in das System der klassischen Mechanik. Seine wahrscheinlichkeitstheoretische Definition der Entropie beispielsweise, die über Shannon und die Kybernetik bis in Luhmanns Evolutionsbegriff nachwirkt, war nicht integrierbar in das Newtonsche System. Deshalb interessierten ihn die Hertzschen Sätze, die vorschlugen, die Natur fortan unter dem Blickwinkel selbstbezüglicher Scheinbilder zu beschreiben. In Boltzmanns

29 SCHEINBILDER EINES SCHLECHTEN GEHÖRS 9 Vorlesungen saß übrigens ein junger Student namens Ludwig Wittgenstein, und so verwundert es nicht, dass der»tractus Logico Philosophicus«, geschrieben 1917 unter dem Kanonendonner des Ersten Weltkriegs, emphatisch auf Heinrich Hertz verweist. Hertz Scheinbildertheorem hat insofern von Beginn an eine doppelte Wirkung entfacht: einerseits über Wittgenstein und Russell in die angelsächsische Philosophie hinein und andererseits über Boltzmann, Hermann Weyl und Wolfgang Pauli in die epistemologische Begründung der Relativitätsund Quantenphysik (Wilson 1989; Barker 1980). Exkurs: Das Ende der Naturlehre und die Neutralität technischer Medien»Die Bilder, von welchen wir reden«, schreibt Hertz,»sind unsere Vorstellungen von den Dingen; sie haben mit den Dingen die eine wesentliche Übereinstimmung, welche in der Erfüllung der genannten Forderung liegt [daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände], aber es ist für ihren Zweck nicht nötig, daß sie irgend eine weitere Übereinstimmung mit den Dingen haben«(hertz 1894, 67). Die Folge ist eine Absage an eine Ontologie der Physik, das Ende der Physik als Naturlehre im alten Sinn. Unsichtbare Engel Wie sehen Bilder von elektromagnetischen Wellen aus? Wie kann man sie anschaulich machen? Die Probleme sind noch heute unüberwindlich. Richard Feynman, der Physiker der Atombombe von Los Alamos, sagte 1963, es sei viel leichter»unsichtbare Engel«zu verstehen, als eine elektromagnetische Welle:»Wenn ich anfange, die Ausbreitung des Magnetfeldes über den Raum zu beschreiben, von den E- und den B-Feldern spreche und dabei glücklich die Arme schwenke, dann glauben Sie wohl, daß ich diese E- und B-Felder sehe. Ich werde Ihnen sagen, was ich sehe. Ich sehe so etwas wie schwimmende, schwingende, undeutliche Linien hier und da erkenne ich die Buchstaben E und B auf ihnen und auf einigen Linien vielleicht auch Pfeile ein Pfeil hier und dort, aber er verschwindet, wenn ich zu genau hinsehe. Wenn ich von Feldern spreche, die durch den Raum zischen, verursache ich eine fürchterliche Verwirrung zwischen den von mir benutzten Symbolen zur Beschreibung der Objekte und den Objekten selbst. [...] Fällt es Ihnen daher schwer, sich ein solches Bild zu machen seien sie unbesorgt, Ihre Schwierigkeit ist nicht außergewöhnlich.«und weiter:»vielleicht sehen sie die letzte Rettung in einem mathematischen Standpunkt. Aber was ist ein mathematischer Standpunkt? Mathematisch gesehen gibt es an jedem Punkt im Raum einen elektrischen und einen magnetischen Feldvektor; das bedeutet, daß jedem Punkt sechs Zahlen zugeordnet sind. Können Sie sich vorstellen, wie jedem Punkt im Raum sechs Zahlen zugeordnet sind? [...] Können

30 10 DIE VERSUCHE DES HEINRICH HERTZ Sie sich auch nur eine Zahl vorstellen, die jedem Punkt zugeordnet ist? Ich nicht! Ich kann mir so etwas wie die Temperatur an jedem Punkt im Raum vorstellen. [...] Aber die Idee einer Zahl an jedem Ort ist mir wirklich unverständlich«(feynman 1963, 382). Reale Messgeräte und Uhren Die Physik als Wissenschaft beschreibt nicht Natur und deshalb schreibt sie auch keine Geschichte der Natur.»Der historische Prozeß«der Theoriebildung in der Physik»ist im allgemeinen völlig verschieden von der systematischen Form, in die diese Theorie [...] später [...] gebracht wird, und die demjenigen, der sie in dieser Form lernt, die Fiktion eines wissenschaftsökonomisch optimalen Weges suggeriert, auf dem die Theorie im Prinzip hätte gefunden werden können«(mittelstaedt 1972, 77). Jede Geschichte der Physik, die ihren epistemologischen Kern anerkennt, hat demnach starke Anteile einer fiktiven Konstruktion. Die Wissenschafts-Historik, von Pierre Duhem über Alexandre Koyré bis hin zu Karl Popper und Thomas Kuhn, hat dieses Dilemma in einem ideengeschichtlichen Ansatz zu beheben versucht. Dieser Linie verdanken wir den berühmten Begriff des»paradigma-wechsels«, der, wie eine geheime geistige Mutation, das Denken der Wissenschaftlerköpfe jeweils verändert haben soll. Die größte Schwachstelle dieser ideengeschichtlichen Historik besteht darin, dass ihr ein historischer Zugang zum Experiment, das doch umgekehrt Garant der epistemologischen Wahrheit sein soll, völlig fehlt. Dass die moderne Naturwissenschaft nicht mehr auf einem konstanten Bild der Natur basiert, ist nicht unbekannt. Alle diesbezüglichen Einsichten Heideggers übergehend (Heidegger 1953, 20ff) sei der theoretische Physiker Peter Mittelstaedt zitiert:»die Physik ist [...] eine Theorie beobachtbarer Größen, die die Natur beschreibt, wie sie sich zeigt, wenn man sie mit realen Meßgeräten und Uhren untersucht«(mittelstaedt 1989, 13). Daraus folgt: Wir, oder besser, die»episteme«(foucault 1969) der Physik, weiß nichts über die Natur als Natur in einem ontologischen Sinn, sondern beobachtet nach Maßgabe einer Theorie, welche allein dazu verfasst ist, Vorhersagen über Messergebnisse zu machen, die sich in der Natur mit reellen Messapparaten reproduzieren lassen. Physik im zwanzigsten Jahrhundert hat aufgehört, Naturlehre zu sein. Die Neutralität der Technischen Medien In der Physik werden Experimente dann theoriefähig, wenn sie konsistent mathematisierbar sind, erfolgreich und in der Forschergemeinschaft überall reproduzierbar. Ist das geschehen, ist es mit ihrer Geschichte im engeren Sinn

31 SCHEINBILDER EINES SCHLECHTEN GEHÖRS 11 vorbei. Sie wandern als vorhersagbare und reproduzierbare Experimental- Demonstration ins finalistische Theorie-Modell. Sie werden also genealogisch umgedeutet und dabei historisch neutralisiert. Anders die technischen Medien. Auch technische Medien operieren, in ihren Anfängen, mit vorgefundenen Experimenten der Wissenschaft, und aus diesen Operationen entsteht ihre Technologie; am Beispiel der Telegraphie, der Fotografie und des Telefons ist das nur zu deutlich; am Beispiel des Radios werde ich es im Detail zu zeigen versuchen. Mit ihren Ergebnissen aber geschieht eine völlig andere Übertragung als in der Physik. Es gibt kein finalistisches Theoriemodell, welches lehrt, was Medien sind. Es gibt kein gültiges Wissen, in welches das, was Medien sind und tun, übertragen werden könnte. Es gibt keine Theorie, die erklärt, worauf die Experimentationen, deren Abkömmlinge die technischen Medien sind, hinauslaufen. Da sie in kein anderes Theoriemodell übertragbar sind, erklärt man sie zu Übertragungsmedien (Luhmann), über die man (außer als Techniker) nichts mehr wissen muss. Sie werden epistemologisch neutralisiert. Gesteuert von dem, was man Anwendungsschichten oder Interfaces nennt, mutieren die liegengelassenen Experimentalumgebungen der Physik, auch der Chemie und anderer Teilwissenschaften, in die Form der Apparatur technischer Medien und begründen ihre Technologie. Aber damit nicht genug. Sie werden weiterhin unaufhörlich in Experimentalumgebungen einbezogen und expandiert. Man müsste (und könnte), von der Telegrafie bis zum Computer, eine mehrbändige Buchreihe über tote (also nutzlose) Medien schreiben, nämlich über alle angefangenen und wieder liegen gelassene Zwischenstufen der Technologien, von Edisons Bildtelegraf über Bells Phonophon bis hin zu den Hunderten von Großrechnern der 1940er und 1950er Jahre; eine vollständige Liste toter Medien würde Bibliotheken füllen. Technische Medien sind die Fortsetzung naturwissenschaftlicher Experimentationen auf der Ebene und mit den Mitteln der modernen Gesellschaft. Falls alles gut funktioniert, finden auch hier fortwährend finalistische Umdeutungen statt. Nur münden diese ins wissenschaftliche Nichts, nämlich in die strikte Neutralität einer epistemologischen Nichtigkeitserklärung. So gesehen sind alle technischen Medien tot. Sie gehören zum allseits anerkannten und gerühmten Bestand der Moderne; aber ihr Bestand bleibt prinzipiell unbefragt, weil es (außer aus religiösen, also vorneuzeitlichen Perspektiven) keinen Grund gibt, nach ihrem Finalismus zu fragen. Der faktische Finalismus technischer Medien aber ist unübersehbar, es ist der Finalismus ihrer Expansion, der, um das Augenfälligste zu nennen, in der logarithmisch ansteigenden chronologischen Kurve sichtbar wird, die mit der Telegrafie von 1820 beginnt und immer kürzer aufeinander folgende Entstehungsdaten (Fotografie, Telefon, Radio, Radar, TV, Computer, ) zeigt. Wer über Übertragungsmedien redet und ihre Expansion verstehen will, braucht einen anderen Begriff als den der Übertragung. Denn der Finalismus technischer Medien ist Expansion, die auf kein weiteres finales Ziel mehr zuläuft. Nicht zuletzt vor dem Eindruck dieses finalen Expansionismus der technischen

32 12 DIE VERSUCHE DES HEINRICH HERTZ Medien halten meine Überlegungen deshalb am ihrem prinzipiellen Experimentalcharakter fest. Ihn gilt es, hier am Beispiel des Radios, zu beschreiben. Die Unvordenklichkeit des Prozesses, in welchem technische Medien bislang expandieren, kann aus meiner Sicht nur erschlossen werden, wenn man sie als ein (gesellschaftliches, epistemologisches) Experimentalsystem begreift, das mit der Gesellschaft und dem Wissen, das diese einsetzt, experimentiert. Die blinde Taktik des Epistemischen Dings Der Berliner Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger hat in zahlreichen Untersuchungen einen Begriff der Experimentalsysteme stark gemacht (1993, 1994, 1997, 2001), an den ich anschließen möchte. Rheinberger, der keine Medien, sondern Naturwissenschaft untersucht, will der Naturwissenschaft den Begriff des Geschichtlichen zurückgeben, der in ihren Theoriemodellen (notwendig und unwiderruflich) den mathematisierten Finalisierungsprozeduren zum Opfer fällt. Rheinberger situiert den Ort ihrer Geschichtlichkeit im Diskurs ihrer Experimente, und zwar in deren genealogischer Re-Rekonstruktion, also in dem Rückbau ihrer finalistischen Deutungen.»Experimentalsysteme«in der Wissenschaft, so Hans-Jörg Rheinberger, sind»arbeitseinheiten der Forschung«, die als»anordnungen zur Manipulation von Objekten des Wissens«eingerichtet sind,»um unbekannte Antworten auf Fragen zu geben, die wir ihrerseits noch nicht klar zu stellen vermögen«(rheinberger 1994, 408). Experimentalsysteme generieren in der»irreduzible[n] Vagheit«und»blinden Taktik«eines differentiellen Prozesses ihren Gegenstand, nämlich ein»epistemisches Ding«. Also etwas,»was man noch nicht weiß«, aber möglicherweise längst schon experimentell gestellt hat. In dem nun folgenden Versuch einer Rekonstruktion der Hertzschen Versuche, die das Radio möglich gemacht und zugleich das Weltbild der Physik revolutioniert haben, in denen sich also Epistemologie, Physik und Medien auf eine folgenreiche Weise kreuzen, möchte ich eine solche blinde Taktik der Emergenz eines epistemischen Dings skizzenhaft verdeutlichen. Rühmkorff und Resonator Wie hat Hertz die elektrischen Strahlen, von deren einstweiliger Unbrauchbarkeit er Huber schrieb, gefunden? Sein Experimentalsystem besteht aus zwei Grundelementen, die schemenhaft wie ein Sender und ein Empfänger aussehen. Aber es gilt genauer hinzusehen. Die Skizzen aus dem November 1886 zeigen zunächst nur zwei Drahtgestelle. Auf der gebenden Seite ist ein»rühmkorffscher«funkeninduktor eingebaut, der, durch zwei Kondensatoren verstärkt, an den offenen Stellen des Drahtes sehr schnelle elektrische Funkenüberschläge produziert. Der Rühmkorff heißt»rühmkorff«nach seinem Erbauer 1851, dem Pariser Ingenieur Heinrich Daniel Rühmkorff.

33 SCHEINBILDER EINES SCHLECHTEN GEHÖRS 13 Rühmkorff, Kondensatoren und Draht. Das ist das Kernstück des Hertzschen Experimentalsystems, das absolut nichts Neues enthält. So ein Rühmkorff stand Mitte der achtziger Jahre in jedem besseren Physiklabor herum. Er stand ja auch 1895 im Würzburger Labor des bis dahin ziemlich unbekannten Professors Röntgen herum, der mit diesem Rühmkorff ebenfalls Funkenexperimente machte, übrigens im expliziten Rückgriff auf Hertz. Es waren Experimente in luftverdünnten Röhren, also Kathodenstrahlen erzeugend, mit dem Zufallsergebnis, über das Röntgen zeitlebens, was seine konkrete Entstehung betrifft, geschwiegen hat und testamentarisch verfügte, alle verbliebenen Unterlagen zu vernichten (Fölsing 1995). Abb. 1 Heinrich Hertz, Seite aus dem Labortagebuch 11. November 1886 Das andere Kernstück des Hertzschen Experimentalaufbaus ist der Resonatorkreis. Hertz nennt ihn zu Anfang einen»leiter«.»dorthin, wo wir die Kraft wahrnehmen wollen, bringen wir einen Leiter, etwa einen geraden Draht, welcher durch eine feine Funkenstrecke unterbrochen ist«(hertz 1889, 349). Ein denkbar simples Gerät, dieser Leiter. Es ist nicht mehr als ein zu einem Viereck später zum Kreis gebogener Draht mit einer winzig kleinen Öffnung, wo dann die Funken überschlagen werden. Um genau zu sein, in die Drahtöffnung hatte Hertz ein handelsübliches Funkenmikrometer eingesetzt, handelsüblich, weil auch das zu den üblichen Laborgeräten der zweiten Jahrhunderthälfte gehörte. Mit Drahtgestellen dieser Machart hat Hertz am Ende, nach mehr als einem Jahr, den Empfang elektromagnetischer Wellen nachgewiesen. Das Prinzip aber existiert schon im November 1886, als Hertz noch nichts von Wellen weiß. Hier geht es noch um Primärfunken, die irgendwie Sekundärfunken produzieren.

34 14 DIE VERSUCHE DES HEINRICH HERTZ Funken und Stimmgabeln Elektrische Funken können logischerweise unterschiedlich hell sein, deutlich hell wie ein Blitz oder verschwindend bis zur Unkenntlichkeit. Mit besagtem Laborgerät entdeckt Hertz zunächst die Helledifferenz seiner Funken und mit ihr den Fotoeffekt, sichert ihn durch Reproduktion, beschreibt ihn in einem ersten Aufsatz, aber kann das Phänomen nicht erklären (Hertz 1887). Hertz Assistent Philipp Lenard 1899 und Einstein 1905 klären den Effekt weitgehend auf (als atomare Ablösung von Elektronen durch Lichtenergie). Alles in allem sind noch keine vier Wochen des Experimentierens vergangen. Am Ende, nach einem Jahr, als Hertz schon weiß, dass es Wellen sind, was zwischen den Funken wirkt, wird er immer noch nichts anderes sehen als diesen einfachen und zugleich hoch komplizierten, nichts sagenden und zugleich Alles repräsentierenden reellen Effekt, nämlich Funken. Die Sache ist auch für Hertz an Funken nicht leicht zu erklären. Er, der die feinsten Augen hatte, gezwungen, lange Wochen im abgedunkelten Labor zu verbringen, um mikroskopisch kleinste Lichtblitze zu registrieren, weicht aus auf ein Bild aus der Akustik.»Geben Sie einem Physiker eine Anzahl Stimmgabeln [und] eine Anzahl Resonatoren, und fordern Sie ihn auf, die zeitliche Ausbreitung des Schalles nachzuweisen, er wird selbst in dem beschränkten Raume eines Zimmers keine Schwierigkeiten finden. Er stellt eine Stimmgabel [...] auf, er horcht mit dem Resonator an den verschiedenen Stellen des Raumes herum und achtet auf die Schallstärke. Er zeigt, wie [die Schallstärke] an einzelnen Punkten sehr klein wird, er zeigt, [...] daß hier jede Schwingung aufgehoben wird durch eine andere später abgegangene. [...] Wenn ein kürzerer Weg weniger Zeit erfordert als ein längerer, so ist die Ausbreitung eine zeitliche. Die gestellte Aufgabe ist gelöst. Aber unser Akustiker zeigt uns nun weiter, wie die stillen Stellen periodisch in gleichen Abständen sich folgen; er mißt daraus die Wellenlänge, und wenn er die Schwingungsdauer der Gabel kennt, erhält er daraus auch die Geschwindigkeit des Schalles. Nicht anders, sondern genau so verfahren wir mit unseren elektrischen Schwingungen«(Hertz 1889, 350). Hertz hatte im Winter 1886, als alles anfing und ein langes Jahr so unklar bleiben sollte, neben einem Kolleg über Elektrodynamik eine ungeliebte Vorlesung über»akustik«zu lesen, er, der junge Professor, der über ein so miserables Gehör verfügte, dass er nicht einmal zwei Töne auseinander halten konnte. Er schrieb seinen Eltern an sie schrieb er zuweilen mehrmals die Woche:»Versuche, die Gehör erfordern, werden freilich auf ein Minimum beschränkt«(fölsing 1997, 279). Ein weiteres Bild: Hertz, der Physiker, der nicht hören kann, geht durch den Raum, um das Verschwinden und Anschwellen von Tönen zu hören, als habe er das feinste Gehör wie sein Lehrer Helmholtz, der die richtigen Obertöne aus dem Geplätscher eines Springbrunnens herausgehört haben soll. Er misst den Abstand zwischen zwei Auslöschungen des Tons und hat die halbe Welle.

35 SCHEINBILDER EINES SCHLECHTEN GEHÖRS 15 Tatsächlich aber waren seine Ohren betäubt gewesen vom Rühmkorff-Geknatter, und trotz des Blitzlichtgewitters, das so ein Gerät verbreitet, hatte er immer noch im Funkenmikrometer seines Empfangsdrahtes Fünkchen gesehen. Der funkensprühende Rühmkorff, das ist die Stimmgabel, die einen reinen Ton erzeugte, eine konstante Frequenz. Die Antwort, welche Frequenz das Geknatter, sprich der Rühmkorff hat, gibt schon 1886 die Schulphysik. Man nehme die Thomsonsche Schwingungsformel, 1853 aufgestellt: Periodendauer gleich zwei mal Pi mal Wurzel aus Induktion und Kapazität. Entscheidend ist, schon am Anfang hat Hertz alles parat, sein Experimentalsystem ist von Anfang an vollständig. Im Winter 1886 sieht er Funken, als Effekt von Funken, aber in gewisser Weise sieht er vor lauter Funken nichts. Anderthalb Jahre später, das Experimentalsystem bleibt nahezu unverändert, sieht er plötzlich alles:»wir halten unseren Draht in zwei verschiedenen Lagen in dieselbe Stelle der Welle; das eine Mal spricht er an, das andere Mal nicht. Mehr bedarf es nicht; die Frage ist entschieden, es sind Transversalwellen«(Hertz 1889, 350f). Reell ist, was an seiner Stelle klebt Warum aber hat Hertz ein Jahr lang gebraucht, um die Wellen zu finden, die er de facto bereits hatte? Oder, um mit Rheinberger zu fragen: Wenn Hertz ausgeht von einem Experimentalsystem, das mit altbekannten Elementen operiert, was ist der Einsatz der Dekonstruktion dieses Systems, dem Hertz sein vollkommen neues, revolutionäres Ergebnis verdankt? Eine Antwort, eine gewiss vorläufige, sei versucht. Es ist von Beginn an der Effekt selbst, den Hertz erkennt und verkennt zugleich, nämlich der Effekt des elektrischen Funkens. Ein Effekt im Reellen, der seine Spuren hinterlässt und sich in ihnen verbirgt. Hertz wird am Ende nichts anderes tun, als eine Geometrie des Raums zu eröffnen, in dem Funken und nichts als Funken ihre Spur hinterlassen. Wir haben also, um Hertz zu verstehen, über den Funken, über seine Geschichte und seine besondere Phantasmagorie zu reden, die sich in einem ganz buchstäblichen und zugleich übertragenen Sinne an der Stelle der Elektrizität entfaltet. Und wir werden sehen, dass wir uns damit einem Reellen nähern, das, ganz wie Lacan es sagt,»bedingungslos an seiner Stelle klebt«(lacan 1973, 24) in welchem es»keine Abwesenheiten«(Lacan 1980, 396) gibt und das nur durch eine Vertauschung oder Verkennung, also durch das Symbolische oder Imaginäre, zugänglich ist. Hertz sieht in seinen Funken von Anfang an etwas, das er sich und uns nicht verschweigen will und dennoch sich und uns nicht vorstellen kann. Seine Lösung wird in vieler Hinsicht radikal und revolutionär sein und einschließen, im Funken selbst mit einer semiotischen Verschiebung zu operieren, die er mit dem präzisest möglichen Begriff bezeichnet, der dafür zur Verfügung steht, nämlich mit dem des»zeichens«(hertz 1889, 348).

36 16 DIE VERSUCHE DES HEINRICH HERTZ Ein kurzer Blick in die Geschichte des physikalischen Funken-Dispositivs legt die diskursive Formation offen, in die Hertz mit dieser wichtigen semiotischen Verschiebung interveniert. ZUR GESCHICHTE DES ELEKTRISCHEN FUNKENS. Wie schwer sich, beginnend mit dem Jahr 1600 (Gilbert 1600), die Forscher- Generationen der Neuzeit taten, die Elektrizität zu entdecken, und das fast drei Jahrhunderte lang, zeigt sich an den vielen vergessenen Zentralbegriffen ihrer Erforschungsgeschichte. Im Grimmschen Wörterbuch stehen noch einige: Der»Funkenzieher«zum Beispiel. Abb. 2»Novi profectus in historia electricitatis«(christian August Hausen, 1743) Im 18. Jahrhundert ist das einer, der den Funken aus einem Menschen herauszieht, so wie Stephen Gray es im Juni 1731 erstmals machte und in den»transactions«der»royal Society«beschrieb. Das war die erste Aufschreibung des Funkens im Rahmen der jungen europäischen Forschergemeinschaft der Physik überhaupt. Mit dem Funken, diesem Elektronen-Wolken-Plasma-Phänomen, das die Neuzeit niemals wird erklären können, bekommt der Diskurs des Elektrischen sein erstes reproduzierbares, aber zugleich stark phantasmatisches Sichtbarkeitszeichen. Ich schildere die Geschichte, in größtmöglicher Abbreviatur, weil es Funken waren, die Heinrich Hertz auf die Spur seiner Experimente schickten. Das Leidener Medium Selbst wenn man absieht von den Gauklereien der umherreisenden Gentlemen, die im 18. Jahrhundert die Damen an den Höfen Europas mit funkenden und

37 ZUR GESCHICHTE DES ELEKTRISCHEN FUNKENS. 17 leuchtenden Elektrisiergeräten gleichermaßen erschrecken und erfreuen (Hochadel 2003, Stichweh 1984), muten auch die seriösen Experimentationen der Zeit kaum weniger kurios an finden wir in den zeitgenössischen Experimenten einen an Seidenfäden aufgehangenen Knaben, der einem weiteren Knaben an die linke Hand fasst, aus dessen rechter dann ein Funken sprühen wird. Der hängende Knabe, der stromleitende Mensch, wird aufgeladen mittels einer Hauksbeeschen Reibe-Elektrisiermaschine, einer großen rotierenden Kugel oder Scheibe aus Glas (Hackmann 1978). Der Funke im achtzehnten Jahrhundert ist das Kernstück einer imaginären Symbolik des»elektrischen Feuers«. Sie wird ein erstes Mal radikal verschoben, als um 1755 die Elektrizitätstheorie Benjamin Franklins die Identität von Blitz und Funken theoretisch und praktisch begründet (Cohen 1966). Möglich wird diese Theorie durch das erste Medium der Elektrizitäts-Physik, nämlich die Leidener Flasche, das erste Speichermedium der Elektrizität überhaupt. Die Leidener Flasche (eine Flasche, gefüllt mit Wasser und einem Metall- oder Kupferstab, der durch ihren Verschluss ins Flascheninnere führt) stammt aus der Kasualität der endlosen Experimente zur Elektrisierung von Wasser an der Universität in Leiden, eine der damals führenden Wissenschaftsstätten der Welt (Heilbron 1966). Abb. 3 Eine»Leidener Flasche«Mit dieser Flasche, einmal elektrisch geladen (z.b. durch eine Reibemaschine), kann man nicht nur erstmals elektrische Ladungen aufbewahren, transportieren, also speichern und übertragen, sondern man kann sie auch verdoppeln, addieren und multiplizieren, mit dem Nebeneffekt, dass gewaltige Entladungen, gewaltige Funken und lebensgefährliche Elektroschläge möglich werden. Mit dem kontingenten Fund der Leidener Flasche um 1745 wird der Diskurs des Elektrischen gleich um drei wesentliche, weil selbstbezügliche Faktoren bereichert. Erstens (a) existiert fortan ein materiales Medium der Elektrizität, das bereits den modernen Kriterien eines Mediums entspricht. Es ist die Flasche, gefüllt mit Wasser und einem leitenden Stift. Aufgeladen wandelt sie, speichert und überträgt elektrische Ladungen. Zweitens (b) entsteht ein erstes Experimentalgerät der Elektrizität, das das Symbolische vom Imaginären zu trennen erlaubt. Die Kapazität einer Leidener Flasche ist exakt kalibrierbar. Drittens (c) wird durch die Beziehung von (b) auf (a) Elektrizität theoriefähig. Die Leidener

38 18 DIE VERSUCHE DES HEINRICH HERTZ Flasche verweist auf Austausch, Ausgleich, auf die Egalisierung der Auftrennung einer ursprünglichen Universalität. Das ist der Ausgangspunkt für die Theorie Benjamin Franklins. Der Mitbegründer der Vereinigten Staaten von Amerika führt um 1760 die noch heute geläufigen Begriffe Ladung, Batterie, Plus und Minus ein, und zwar als Begriffe eines unitären Elements, das universelle Existenz haben soll, in der Atmosphäre wie auf der Erde, in jedem einzelnen Ding wie im Kapital des revolutionären Bürgertums, dessen amerikanischem Teil Franklin das Papiergeld als Zahlungsmittel verordnet. Sein wichtigster Fund aber ist der Beweis, dass ein Blitz nichts anderes ist als ein gigantischer elektrischer Funke. Franklins spitz zulaufende Blitzableiter gehen um die Welt. DIE FLÜGEL DES GEISTES, METAPHYSIK DER TEILCHEN Chemie wird um 1800 mehr und mehr, mit Goethe, Schlegel und Novalis, wie die Literaturwissenschaftler wissen, ein romantisches Passwort des Geistes. Ein Abb. 4 Hans Christian Oerstedt demonstriert das Magnetnadel-Experiment anderes Wort für Wahlverwandtschaft. Getreu der Parole von Hölderlin, Hegel und Schelling im Tübinger Stift, der»langsamen, an Experimenten mühsam schreitenden PhysikFlügel«zu verleihen (Hegel , 234), entfaltete Schelling seine hochspekulative Systemphilosophie einer dualistischen, alles gebärenden romantischen Weltseelenkraft, die eine lange deutsche Ära der

39 DIE FLÜGEL DES GEISTES, METAPHYSIK DER TEILCHEN 19 Naturphilosophie bis weit ins 19. Jahrhundert hinein bestimmen sollte. Es mag grotesk erscheinen, aber aus diesem hochspekulativen Kontext einer romantisch-naturphilosophischen Weltseelenmetaphysik ist im September 1820 das Schlüsselexperiment der Elektrizitätsgeschichte hervorgegangen. Oerstedt, Faraday Hans Christian Oerstedt, Professor der Philosophie in Kopenhagen, Kantianer und Romantiker, führt im Sommer 1820 experimentell den Nachweis, dass ein Kupferdraht, durch den Strom fließt, eine Magnetnadel anzieht. Diese Entdekkung stürzt zwar das epistemische Ding namens Funken elektrizitätshistorisch für einige Zeit vom Sockel, aber bringt zusammen, was, um Elektrizität zu verstehen, verstanden werden musste: dass Elektrizität die Einheit aus der Differenz von Elektrizität und Magnetismus ist. Es vergingen nur wenige Monate, bis sich Jean Marie Ampère und Michael Faraday, ersterer schnell und mathematisch, letzterer mühsam und in der Langsamkeit einer dreißigjährigen empirischen Herkules-Arbeit, an die Aufschreibung des nunmehr gesicherten elektrodynamischen Effekts der Magnetanziehung qua Stromfluss machten (Caneva 1980). Abb. 5 Faraday»Experimental Researches in Electricity«1832 In seiner herkuleischen Experimentation bewies Faraday um 1830 die magnetische Induktion, das heißt: das Prinzip des Elektrogenerators und Elektromotors zugleich. Das war für ihn Anlass, in unaufhörlichen Veröffentlichungen die bilderstarke Theorie der magnetischen und elektrischen Feldlinien zu propagieren (Cantor 1991). Seltsame Gebilde sollten das sein, unsichtbare, gerade oder gekrümmte Kräfte im Raum, die magnetische oder elektrische Nahwirkungen entfalteten, ohne etwas anderes zu repräsentieren als Verschiebungs- und Verdichtungswirkungen. Faraday dachte an nichts Atomar-Stoffliches, sondern an gebogene, gekrümmte Linien einer Kraft im Äther. William Thomson, der Doyen der englischen Physik im 19. Jahrhundert, war ein großer Verehrer dieser akribischen, aber auf alle Mathematik verzichtenden Experimentalberichte des Michael Faraday. Deshalb setzte er ab 1850 einen begabten Studenten namens James Clerk Maxwell auf die Fährte Faradays mit dem klaren Auftrag, alles, was

40 20 DIE VERSUCHE DES HEINRICH HERTZ Faraday, ohne eine einzige Gleichung, über Jahrzehnte deiktisch präzise beschrieben hatte, in mathematische Ausdrücke umzusetzen (Buchwald 1980). Maxwell In dieser mathematischen Anschreibung der Faradayschen Experimentation besteht die Maxwellsche Theorie, die keinen Unterschied mehr macht zwischen Elektrostatik und Elektrodynamik und die Einheit der Differenz von Elektrizität und Magnetismus vollständig aufklärt. Mittels einer neu entwickelten mathematischen Sprache und Notation glaubte Maxwell zudem ableiten zu können, dass elektrodynamische Kräfte, also rechtwinklig aufeinander wirkende magnetische und elektrische Feldkräfte, sich mit Lichtgeschwindigkeit im Raume sollten fortbewegen können. Dass elektrische und magnetische Felder frei durch den Äther gleiten, war selbst für die Ätherenthusiasten der viktorianischen Physik, zu denen William Thomson zählte, etwas viel. Und die dazugehörige Mathematik war nur den Eingeweihten verständlich. Thomson verstand sie nicht oder nur halb, und auch auf dem Kontinent wurde darüber, zunächst auch von Helmholtz, eher der Kopf geschüttelt. Hertz war, wie gesagt, Maxwells Mathematik vermutlich ebenfalls nicht im Original vertraut, sondern nur über die Helmholtzsche Notation der Maxwellsche Theorie (Heimann 1971, D'Agostino 1975, O Hara 1987, Bryant 1988, Buchwald 1994, Baird 1998). Ampère In Deutschland schloss man sich nicht England also Faraday und in seinem Gefolge Thomson und Maxwell sondern lieber Frankreich an, also Ampère, von dem das erste elektrodynamische Gesetz stammt, auf der Höhe der Mathematik seiner Zeit differentialgeometrisch formuliert. Ampère, ein systemphilosophischer Romantiker wie Schelling oder Hegel, behauptete, dass in einem Eisenmagnet das Integral kleinster galvanischer Ströme wirke, eine permanent kreisende molekulare Stromwirkung also, die senkrecht zur magnetischen Achse gelegen sei. Das ist, als physikalisches Bild, eine erstaunlich richtige Vorahnung dessen, was die heutigen Spin -Theorien der Quantenphysik dazu sagen. Ein gleichgerichteter Elektronen-Spin in den Eisenatomen wird heute tatsächlich als die Ursache für konstanten Magnetismus angenommen. Aber Ampère, alles andere als ein Empiriker, Ingenieur oder guter Experimentator, war auf diese atemberaubende Hypothese nur gekommen, weil sie in der mathematischen Konsequenz seines differentialgeometrischen elektrodynamischen Kalküls lag, das den Magnetnadel-Ablenkungseffekt zu beschreiben hatte. Romantiker, wenn sie Physiker sind, denken durchaus hochabstrakt. Ampères Definition molekularer Teilchenströme wurde in Deutschland zunächst von Franz Neumann und Gustav Theodor Fechner, später von Wilhelm Weber zu

41 DIE FLÜGEL DES GEISTES, METAPHYSIK DER TEILCHEN 21 einer noch viel komplexeren Theorie erweitert. Gleichwohl wurde sie Gemeingut jedes deutschen Physikers im neunzehnten Jahrhundert. Webers Zauberkreis Wilhelm Weber, einer der Göttinger Sieben, kombinierte das Coulombsche und das Ampèresche Gesetz mit äußerst komplizierten mathematischen Annahmen, denen die physikalische Vorstellung von konzentrisch und elliptisch umeinander kreisenden, entgegengesetzt geladenen elektrischen Massenteilchenpaaren entsprechen sollten (Meya 1990, 164ff). Atomismus in Deutschland Ätherphysik in England, das war die Lage Mitte des Jahrhunderts. Die Stromteilchen, so stellte sich Weber vor, sollten in einem stromführenden Leiter entgegengesetzt fließen, plus und minus repräsentierend, und dabei eben jene Wirkung namens»elektrische Kraft«aufeinander ausüben. Die Kraft aber war als klassische Fernwirkung gedacht, heißt: instantan, eine actio in distans, eine unmittelbare Wirkung ohne Zeitverlust, so wie Newton mathematisch die Gravitation angeschrieben hatte. Eine Kraft also, die, wenn sie wirkt, schon da ist. Wie immer atomistisch klein auch die Abstände dieser Kraft ausgelegt waren,»diese Beziehungen waren Gesetze, d.h. Kraftgesetze, die die Gesetzmäßigkeiten des Geistes ausdrückten«(163). Stoffliches und Kraft, Materie und Geist physikalisch durch die Mathematik vereint. Das ist die Pointe der deutschen Physik der Elektrizität, in die Heinrich Hertz hineingeboren wurde und in der er, wie Weber und Kirchhoff, Kohlrausch und Helmholtz, zuhause war. Noch auf der Naturforschertagung 1889 bekennt Hertz:»In unserer Vorstellung spielt sicherlich die stofflich gedachte Elektricität eine große Rolle. Und in der Redeweise vollends herrschen heute noch unumschränkt die althergebrachten, allen geläufigen, uns gewissermaßen liebgewonnenen Vorstellungen von den beiden sich anziehenden und abstoßenden Elektricitäten, welche mit ihren Fernwirkungen wie mit geistigen Eigenschaften begabt sind«(hertz 1889, 341). Noch einmal: Helmholtz Preisaufgabe Elektrizitäten atomistisch kleinster Teilchennatur, die geistigen, heißt mathematischen Kraftgesetzen folgen, das war Wilhelm Webers ganz antimaterialistisch gedachte Physik der Elektrizität. Die Mathematik als geistiges Werkzeug in der Hand des freien, ungebundenen Physikers, sie sollte und konnte mit ungeahnten Freiheitsgraden frei wirkende Kraftbeziehungen nachzeichnen und ausspinnen, um den Geist in der Natur zu finden.»die Gesamtheit dieser Bestrebungen bildete ein in sich geschlossenes System voll wissenschaftlichen Reizes; wer einmal in den Zauberkreis desselben hineingeraten war, blieb in demselben gefangen«(342).

42 22 DIE VERSUCHE DES HEINRICH HERTZ Unter den deutschen Physikern gab es nur einen, der sich von diesem Zauberkreis einer metaphysischen Mathematik nicht gefangen nehmen lassen wollte, nämlich Hermann von Helmholtz. Um Webers romantische Metaphysik zu decouvrieren, leitete Helmholtz in den siebziger Jahren aus Webers hochabstrakten Formeln Grenzfälle ab, in denen das Gesetz von der Erhaltung der Kraft verletzt war, was wiederum zu einem Sturm der Entrüstung gegen Helmholtz führte. Man warf ihm vor, ein Freund der Engländer zu sein, dieser Taits (William Thomsons und Peter Taits Physikhandbuch hatte Helmholtz übersetzt) und Maxwells, die keiner verstand. Im Gegenzug ließ sich Helmholtz, unermüdlich bemüht, die Webersche Schule, die die herrschende war, zu schwächen, eine Preisaufgabe der Berliner Akademie einfallen, um endlich eine experimentelle Prüfung der Richtigkeit entweder der Maxwellschen oder der Weber/Neumannschen Theorie zu erzwingen. Diese sollte, als der Preis längst verfallen war, am Ende bei Heinrich Hertz landen. FEDDERSENS FOTOFUNKEN Aus dem tiefsten Zauberkreis der metaphysischen Mathematik Wilhelm Webers stammt Berend Wilhelm Feddersen ( ), ein Schüler des Meisters. In der geistigen Welt der Elektrizität, die das Physikbild Deutschlands bestimmte, waren es seine Arbeiten, die ganz buchstäblich jenen für Hertz so wichtigen Funken (oder Geistesblitz) auslösten, ohne den Hertz Experimentationen, wie wir noch sehen werden, nicht in Gang gekommen wären. Feddersens Funkenarbeit war allerdings zweiter Ordnung, denn sie lief über ein weiteres reelles Medium, und zwar das modernste, das in den späten 1850er Jahren zur Verfügung stand. Gemeint ist die fotografische Platte. Feddersen ließ Funken knallen und fotografierte sie. Die physikalischen Berechnungen, die Feddersen an den Abzügen machte, führen uns direkt in den konkreten Experimentalkontext von Heinrich Hertz zurück. Der Funke, der bei Hertz übersprang, hieß eben auch Feddersen, aber dazu später. Wir gehen zurück ins Jahr Ein junger Wissenschaftler aus Kiel fotografiert den Funken. Zunächst einfach so, wie er funkt, statisch, mit einer Belichtungszeit, die eben genau so lang, oder besser: ein Bruchteil von Millisekunden kurz ist, wie ein Entladungsfunken einer Leidener Flasche. Indem er so etwas Simples tat, wie den Funken zu fotografieren, brachte Feddersen gleich zwei wichtige Dispositive in die Physik. Fotometrie war jetzt und ein für alle Mal ins experimentelle Arsenal seiner Wissenschaft integriert. Und zweitens: Ein elektrischer Funke und seine Funk-Zeit bildeten den ersten Belichtungszeitraum der Fotografie unterhalb aller mechanischen Möglichkeiten und menschlichen Wahrnehmungsschwellen.

43 FEDDERSENS FOTOFUNKEN 23 Funkenselbstbelichtung Die Auslösung des Fotos, seine Belichtung, wird im Fall des Funkens Gegenstand, Objekt und Sujet der Fotografie selbst. Wird ein Funke fotografiert, so braucht es dazu keine Belichtungszeit, weil ein Funke, dieses wahrhafte Phantasma der Elektrizitätsgeschichte, fotographisch gesehen seine eigene mediale Belichtung setzt. Die Funkenfotos Feddersens zeigen»das Ausströmen der Elektrizität«zwischen den beiden Polen einer Leidener Flasche, wenn sie entladen wird (und also der Funke überspringt). An jedem der beiden Polflächen, also an den Plus- und Minuspolen der Flasche, treten leuchtende Verdickungen auf, was Feddersen bereits für den ersten Beweis der»verschiedene[n] aufeinander folgende[n] Oszillationen«(Feddersen 1862, 134) hielt. Wie so oft in der Physik, wollte Feddersen, vom Experimentalkontext her, nur eine bereits bestehende Theorie neu bestätigen. Hermann von Helmholtz hatte bereits 1847 vorhergesagt, Entladungen seien nicht»als einfache Bewegung der Electricität in einer Richtung«vorzustellen,»sondern als ein Hin- und Herschwanken derselben zwischen den beiden Belegungen in Oscillationen, welche immer kleiner werden, bis die ganze lebendige Kraft derselben durch die Summe der Widerstände vernichtet ist«(helmholtz 1847, 46). William Thomson, der spätere Lord Kelvin, hatte seinerseits, in einem telegraphischen Zusammenhang, den zu erläutern interessant genug wäre, bereits 1853 eine griffige mathematische Formel gefunden, die sogenannte Thomsonsche Schwingungsformel, die sich in vielen telegraphischen Anwendungen, wo es um Spulen und Flaschen, also um Induktionen und Kapazitäten ging, bewährt hatte (Thomson 1853). Aber empirisch bewiesen worden, im Sinne eines exakten, direkten Beweises, war sie bis 1858 noch nicht. Weshalb es natürlich auch Thomson selbst war, der dem unbekannten Kieler Physiker Feddersen zu einer beträchtlichen Berühmtheit verhalf. Viel bedeutender als dieser Beweis ist Feddersens Experimentalsystem selbst, das zeigt, wie Medien, hier die Fotografie, in der Physik zum Attraktor der Reformulierung ganzer Forschungsrichtungen wurden. Im Blick auf die Wirkung bei Hertz sind es Feddersens Fotografien, die die Physik nun noch weiter in Richtung Medien schieben, wie marginal, wie unauffällig diese Verschiebung auch immer sein mag. Denn auch der Experimentalaufbau selbst war nichts Neues. Feddersen schließt hier an Charles Wheatstone an, der bereits 1834 mit einem rotierenden Spiegel Funkenentladungen sichtbar gemacht hatte, als eine Art helles Lichtband auf einer dunklen Wand. Feddersens Lichtbänder auf Fotos sind in einem gewissen Sinn nichts anderes als die Lichtbänder an Charles Wheatstones weißer Wand von Der einzige Unterschied ist, dass Wheatstone seine Bänder nur mit eigenen Augen sah und nie wirklich genau, während Feddersens Lichtbänder von selbst aufgeschrieben waren und in aller Ruhe danach vermessen werden konnten. Technische Medien sind, bislang jedenfalls, unaufhaltsame Wandler des Verhältnisses von

44 24 DIE VERSUCHE DES HEINRICH HERTZ Speicherung und Übertragung und schreiben nichts von Menschenhand Geschriebenes auf. Charles Wheatstone war ein englischer Instrumentenbauer, Ingenieur der englischen Telegraphie, Physikprofessor und Multi-Experimentalist konstruiert er einen Hohlspiegel, den er fünfzig Mal in der Sekunde rotieren läßt (Wheatstone 1834). Einen Funkenüberschlag vor diesem rotierenden Spiegel projiziert er auf die gegenüberliegende Wand, aber, infolge der Drehung des Spiegels, nicht als Lichtpunkt, sondern eben als Lichtband. Dessen Länge konnte er ungefähr messen und daraus die Dauer des Funkens ermitteln. Die Lichtbandlänge dividiert durch die Rotationsgeschwindigkeit, respektive dem Weg, den der Spiegel durchlief, in Winkelsekunden ausgedrückt, das ergab die zeitliche Dauer eines Funkens.»Verwandlung von Zeitintervallen in Raumabstände«(1858, 69) wird Feddersen diese Technik nennen. Aber er projiziert nicht auf die Wand, sondern auf eine belichtbare fotografische Platte bei abgedunkeltem Raum. Die gebogene Form der Lichtbänder repräsentiert die Aufspannung eines schnellen Vorgangs in einem gebeugten Raum. Bogenmaß ist also ein Geschwindigkeitsmaß. Auf den Fotografien wurde nun sichtbar, dass die Lichtbänder eines Funken an- und abschwellen und dass es dunkle Zwischenräume zwischen Teillichtbändern gibt. Was bedeuteten diese kleinen lichtlosen Zwischenräume? Ein Nichts, eine Pause, ein Anhalten der Entladung? Feddersen findet eine Nomenklatur und dann eine Erklärung. Die Nomenklatur heißt»querstreifen«. Alle seine Lichtbänder sind offensichtlich in Querstreifen unterteilt. Also sind Querstreifen die medialen Zeichen der Oszillation des Funkens. Denn es ist eine Entladung, die hin und her geht.»da in einem elektrischen Strome nichts Anderes existiert, was seine Richtung wechselt, was sich umkehren kann, als die Richtung des Stromes selbst, so sehe ich die Möglichkeit einer Erklärung nur in der Annahme, dass in jeder Querabtheilung das Licht eines elektrischen Stromes fotografiert wird, der in entgegengesetztem Sinne fließt wie in der folgenden oder vorhergehenden«(feddersen 1861, 142). Alternierend, oszillierend, wie auch immer: ein weiterer, ein noch schönerer Beweis für die Oszillationstheorie. Aber was besagt diese Theorie in Feddersens Augen? Hier kommt es auf jedes Wort an. Funkenselbstvermessung Der entscheidende Punkt an Feddersens fotometrischen Beweisen war, dass sein Querstreifenmaß zur Oszillationsdauer äquivalent war, also zu oder abnahm, je

45 FEDDERSENS FOTOFUNKEN 25 nach Veränderung nicht des Widerstands, sondern der Kapazität seiner Leidener Flaschen.. Abb. 6 Fotografie einer Funkenentladung Je geringer die Kapazität der entladenen Flaschen, umso schmaler die Streifchen. Und umgekehrt. Ein proportionales Maß. Das war der nochmalige Beweise der Thomsonschen Formel: Die Periodendauer der Oszillation ist proportional zur Quadratwurzel der Kapazität. Nur, im Feddersenschen Medium konnte man das jetzt auch sehen. Abb. 7 Fotografie einer Funkenentladung Feddersen brauchte nur ein Millimetermaß, um die Dauer einer einzelnen Oszillation innerhalb der Summe von Oszillationen zu ermitteln, die der Funke zeichnet.»wir haben die Erscheinung, daß die Elektricität in wellenartigen hin- und hergehenden Strömen den Draht durchläuft. Könnten wir uns einen widerstandslosen Leiter denken, so würden diese Oscillationen niemals aufhören; da aber jeder Leiter einen gewissen Widerstand bietet und derselbe so wirkt, als wenn die Elektricität eine Art Reibung in demselben erführe, wobei beständig ein Theil der lebendigen Kraft verbraucht (in Wärme verwandelt) wird, so muß die elektrische Bewegung nach einer größeren oder kleineren Anzahl von Oscillationen bald unmerklich werden«(feddersen 1861, 439) Man sieht, wie mechanisch und materiell Feddersens Vorstellung von der Elektrizität ist. Elektrizität ist gleichsam ein Strom von»lebendiger Kraft«, der wie ein mechanisches Pendel zu einem Stillstand kommt, wenn ihm ein Widerstand entgegentritt. Aus dieser mechanischen Metaphorik ist die Vorstellung gemacht, die die Deutsche Physik auch noch bestimmt, als einer ihrer Schüler, Heinrich Hertz in Karlsruhe, an seine Experimente geht. Das Querstreifenmaß, gerechnet in Millimetern, hat aber noch einen anderen Effekt. Die Physik ist ja eine präzise Wissenschaft und rechnet ständig mit ihren

46 26 DIE VERSUCHE DES HEINRICH HERTZ Maßen hin und her. Jetzt hatte man ein fotographisches Gardemaß des Funkens gefunden, das auf Millimeter genau abzumessen war. Dieses Maß konnte nun umgekehrt die anderen Terme der Thomson-Formel (Induktion und Kapazität), im Gaußschen System ebenfalls Längenmaße, neu kalibrieren. Eine solche nicht unbedeutende Umrechnungsarbeit, die das Maß der fotografischen Oszillation zum Maß der Thomsonschen Gleichungsterme nahm, erschien in der Fachliteratur kurz vor den Hertzschen Versuchen. Feddersen betrieb Fotometrie im Innersten eines elektrischen Funkens. Er inaugurierte damit die physikalische Fotometrie schnellster Bewegungen, die fortan ihren Platz nicht mehr verlieren wird, ermöglicht die Machschen, Toeplerschen und Cranzschen Funkenfotografien, Marey und Gilbreth ebenso, bis hin zu Wilsons Nebelkammerfotografien und dem damit verbundenen Experimentalsystem der Teilchenphysik zu Anfang dieses Jahrhunderts (Galison 1997). Das alles beginnt also 1858 in Kiel. Ein weiteres Mal artikuliert sich das fotografische Phantasma der medialen Naturselbstaufschreibung, das immer auch an der Grenze zum Spiritismus entlang balanciert. So beginnt die Geisterfotografie ebenfalls um 1860 (Hagen 1999), auf Basis der gleichen hoch lichtempfindlichen Fotoplatten. Aber Feddersen nimmt nicht bei Geistern Maß, sondern bei Funken, einem Effekt im Reellen. DAS AUFMASS DES REELLEN Heinrich Hertz, Professor in Karlsruhe, hatte am 31. Juli 1886 geheiratet. Im August und September 1886 folgte eine ruhige Zeit, und Hertz nahm sich Zeit zum Lesen. Es waren Fachaufsätze, die unter anderen Feddersens fotometrische Experimente beschrieben. In den»annalen der Physik«, dem Haupt- und Staatsblatt der deutschen Physik, Jahrgang 1886, findet sich eine große zweiteilige Abhandlung eines gewissen Robert Andréjewitsch Colley Dr. phys, Kasan, Tartarien, Rußland, der vorschlug, mittels einer modifizierten Feddersen- Oszillationsapparatur die Lichtgeschwindigkeit zu errechnen. Die Arbeit enthielt nichts Aufregendes. Aber ihr Zweck eine physikalische Umdeutung der Maßsysteme der Thomsonschen Formel anhand der Feddersenschen Ergebnisse hatte Colley zu einer sauberen und vollständigen Zusammenfassung all dessen veranlasst, was von 1858 an über die Funkenoszillation je geschrieben worden war. Wer das gelesen hatte, war wieder auf dem Stand der Dinge. Hertz weist auf den ersten Teil von Colleys Arbeit in seiner ersten Veröffentlichung explizit hin. Dass er sie gelesen hat, ist also sicher. Funkenfund Der junge Professor Heinrich Hertz ist am 4. Oktober 1886 vermutlich glücklich, 29 Jahre jung und befindet sich mitten in der Vorbereitung aufs kommende

47 DAS AUFMASS DES REELLEN 27 Wintersemester. Ausweislich seines Tagebuchs und eines von Albrecht Fölsing aufgefundenen Experimentierprotokolls wissen wir, dass es genau an diesem 4. Oktober 1886 Funken sind, so lächerlich, trivial, simpel und abgeschmackt es auch klingen mag, zwei kleine Funken, die Heinrich Hertz auf eine mehrjährige Experimentierreise schicken (Fölsing 1997). Es gibt gute Gründe, warum sich Hertz im Nachhinein dieses Funkenfunds erinnern muss, und also lesen wir fünf Jahre später:»in der physikalischen Sammlung der Technischen Hochschule zu Karlsruhe [...] hatte ich zu Vorlesungszwecken ein Paar sogenannter Riess scher oder Knochenhauerscher Spiralen vorgefunden und benutzt. Es hatte mich überrascht, daß es nicht nöthig war, große Batterien durch eine Spirale zu entladen, um in der anderen Funken zu erhalten, daß vielmehr hierzu auch kleine Leidener Flaschen genügten, ja der Schlag eines kleinen Inductionsapparates, sobald nur die Entladung eine Funkenstrecke zu überspringen hatte«(hertz 1891, 2). Abb. 8»Riess sche Spirale«Für die Vorlesung zur Einführung in die Elektrodynamik brauchte Hertz das, was alle Professoren der Physik seiner Zeit für solche Zwecke brauchten: eine Riess sche Spirale, ein Labordemonstrationsgerät. Es sind zwei Kupferdraht- Spiralen, auf runden Holzscheiben angebracht. Eine dieser Platten ist mit den Drähten eng belegt. Auf der anderen, gleich großen Platte ist ein sehr viel kürzerer und dickerer Draht in einer Spirale befestigt. Beide Platten werden in geringem Abstand, aber berührungslos gegeneinander aufgestellt. Fasst ein Proband die beiden Enden des dünneren Spiraldrahts an, während eine Leidener Flasche über den dickeren Draht entladen wird, so erhält der Proband einen spürbaren Schlag. Dies ist ein Effekt, den Wilhelm Weber die»voltainduktion«getauft hatte. Eine stromdurchflossene Leiterspirale induziert Strom in einer davon getrennten zweiten Spirale. Das ist alles, nein, es ist fast alles. Hertz

48 28 DIE VERSUCHE DES HEINRICH HERTZ benutzt zwar für seine Vorlesung Riess sche Spiralen, aber die sahen etwas anders aus. Abb. 9 Riess sche Spirale in der Originalzeichnung von Hertz Auf einer Hertzschen Originalzeichnung, die aus seiner Bonner Zeit stammt, sieht man deutlicher, was Hertz verwendet hat. Die Spiralen liegen berührungslos übereinander und sind jeweils mit zwei offenen Drahtenden versehen. Das ist wichtig, denn an beiden Paaren dieser offenen Enden wird Hertz kleine Fünkchen überschlagen sehen. Zu stürmisch und zu unregelmäßig Hertz sieht Funken, aber wo und wieso? Was möglicherweise Tausenden von Physikern in Tausenden von Vorlesungen passiert war, brennt sich für Hertz als etwas ein, das ihn nicht mehr loslässt. Wir rekonstruieren: Wenn er die Leidener Flasche nicht direkt mit der oberen Spirale verbindet, wie es eben tausend andere getan hatten, sondern zur Entladung der Flasche einen kleinen Luftspalt lässt, so dass ein Fünkchen überspringt, dann zeigen sich auch an den offenen Drahtenden der unteren Spule Fünkchen. So beschreibt es Hertz selbst. Was aber sind Fünkchen? Nach Feddersen sind es mediale Zeichen der Oszillation. Entladungen, das wusste Hertz, sind stets oszillatorische Vorgänge, es sei denn, der Widerstand ist riesig. Aber diese Spirälchen, was sollen die für einen Widerstand haben? Kaum einen. Was heißt es, wenn ganz kleine Leidener Flaschen, also Flaschen mit ganz geringer Kapazität, entladen werden, mit ganz kleinen Fünkchen an der oberen Spirale, und offenbar gleichzeitig, räumlich getrennt von dieser, an den Drahtenden der unteren Spirale auch Fünkchen entstehen? Nun, jedenfalls oben ist es ein mediales Zeichen einer sehr viel schnelleren Oszillation. Hertz hat, davon dürfen wir bei diesem literaturfesten Physiker ausgehen, Querstreifen von Feddersen vor Augen gehabt, wenn es um schnelle Oszillationen ging. Er wusste, was in den Fünkchen passiert. Ganz genau konnte er es bei denen an der oberen Entladungs-Spirale wissen, denn da war die Sache mathematisch durch die Belegung der Leidener Flasche klar; da standen die Zahlen auf dem Flaschen-Etikett, und der Rest war ganz leicht zu berechnen. Aber unten, was waren das für Fünkchen, die aus einem Spalt der gegenüberliegenden Spirale herauskamen? Wo war denn hier Kapazität? Offenbar nahezu

49 DAS AUFMASS DES REELLEN 29 keine. Wieso denn dann Fünkchen überhaupt? Hertz hatte etwas entdeckt und zweifelt.»anfangs hielt ich die elektrische Bewegung für zu stürmisch und zu unregelmäßig, um sie weiter benutzen zu können«(hertz 1891, 2). Ein wichtiger Satz. Hertz hielt die Sache also zunächst für Labordreck. Induzierte Funken, die Funken produzieren, das war ein Effekt, den man entweder für einen üblichen Schmutz, für einen typischen Fall von Experimentierrauschen, also für etwas halten konnte, was halt so beim Experimentieren passiert ; wie es vielleicht tausend andere Kollegen an eben diesen Riess schen Spiralen auch schon gesehen hatten. Oder aber da war etwas. Das waren die Schemen eines epistemischen Dings. Anfang Oktober 1886 notiert Hertz auf ein Experimentierprotokollblatt:»Gedanke, die Plötzlichkeit des Funkens zu untersuchen. Benutzung zur Einwirkung auf Dielektrica«(Laborprotokoll, Anfang Oktober 1886, Fölsing 1997, 269). Hertz also sieht nicht so sehr den Funken, als vielmehr seine Plötzlichkeit. Und das heißt, mit Feddersen: messbare Plötzlichkeit, und also übersetzt: Hertz sieht in den Fünkchen Oszillationen von sehr hoher Frequenz,»Plötzlichkeit«, als einen gleichwohl endlichen, messbaren Parameter. Hier ist zweifellos der Punkt, wo Hertz die Preisaufgabe von Helmholtz wieder einfallen musste, von der vorhin schon die Rede war, 1879 gestellt und in der Frist längst abgelaufen. Die Aufgabe hieß: Es möge jemand an einem elektrodynamischen Prozess mit ungeschlossenen Stromkreisen einen Effekt zeigen, der auf nicht-leitende Materialien wirkt, und damit experimentell aufweisen, ob diese nicht-leitenden Materialien einen messbaren Einfluss auf den Effekt hätten oder nicht. Mit dem Funken am Riess schen Spiralgerät springt bei Hertz also noch ein anderer Funke über. Dieser nächste Funke ist ein Funke im Symbolischen, also das, was man gewöhnlich einen Gedankenblitz nennt. In der Hertzschen, in der Helmholtzschen und in der Feddersenschen Terminologie ist ein Funke, der beim Anschluss der Leidener Flasche an eine Spirale aufblitzt, wegen der Oszillation auch ein elektrodynamischer Effekt. Funke produziert Funke, heißt also: Oszillation produziert Oszillation, heißt: Ein elektrodynamischer Effekt produziert einen weiteren elektrodynamischen Effekt. Das sieht Hertz, weil er die Kontexte kennt, und ab jetzt ist er auf seiner Spur. Weber oder Maxwell? Die Webersche Theorie sagt vorher, Dielektrika, also Glas, Holz, Papier, Pech, Asphalt oder Stein, können einen solchen elektrodynamischen Effekt nicht beeinflussen. Bei Weber ist elektrische Wirkung in den Raum Fernwirkung mit

50 30 DIE VERSUCHE DES HEINRICH HERTZ schnell nachlassender Wirkung im Abstandsquadrat. Diese Potentialwirkung ist keine kinetische, und also invariant in Bezug auf Dielektrika. Dielektrika in den Raumabstand zwischen zwei evozierte Funken eingebracht, dürften auf den Effekt keine Wirkung haben. Die Maxwellschen Theorie aber besagte: Dielektrika beeinflussen elektromagnetische Ausbreitungen sehr wohl. In Maxwells Theorie haben elektromagnetische Wirkungen im Raum Wellenstruktur, und Dielektrika sind folglich Brechungsmedien dieser Wellenstrukturen, so wie das Licht im Wasser oder die Sonnenstrahlen im Regenbogen gebrochen werden. Nach der Weberschen Theorie gibt es keine Wellenausbreitungen und also auch keine Brechungen. Bis zum 4. Oktober 1886 wäre alles dies tiefgraue Theorie geblieben, ein unnützes Gedankenspiel. Man mag jetzt besser ermessen, welche visionären und zugleich riskanten, welche abstrakt-mathematischen und zugleich phantasmatischen Dimensionen der Physiker Hertz mit zwei kleinen Fünkchen verbindet. Und vergessen wir nicht: In der physisch-physikalischen Welt, in der Hertz Wissenschaftler ist, existieren keine elektromagnetischen Wellen. Sie haben keinerlei physikalische Repräsentation. Seit fünfundzwanzig Jahren spuken sie zwar als Maxwellsches Theoriekonstrukt durch die viktorianische Physik, aber keiner nach seinem Tod 1879 hatte auch nur eine Idee, wie er sie hätte produzieren oder gar nachweisen sollen. Elektrizität in frei schwingender Wellenbewegung als physikalische Realität, das war pure Theorie, reine, abstrakte Mathematik. Seltsam genug: Selbst dann noch, als Hertz das Maxwellsche Aufmass der Wellen längst gesichert hatte, sein Befund also eine Existenz in einer physikalisch gesicherten Naturbeobachtung hatte, hält Hertz daran fest, dass Maxwell»reine Mathematik«sei. Das hat ebenfalls schon mit der epistemologischen Wende in die Moderne (deren Beginn ich mit den Hertzschen Versuchen ansetze) zu tun, von der anfangs die Rede war. Hertz:»Auf die Frage: Was ist die Maxwell sche Theorie? wüßte ich also keine kürzere und bestimmtere Antwort als diese: Die Maxwell sche Theorie ist das System der Maxwell schen Gleichungen«(Hertz 1894, 23). Das aber heißt, dass das, was Hertz sah, dennoch unbeobachtbar bliebe, außer man stellte es in die Form einer Mathematik des Reellen, in eine reine Form des Signifikanten. Dort operiert, was zu beobachten ist, gleichsam völlig bilderlos. Das Mathematische selbst eine Gleichung oder die Funktion von Operatoren ist nicht beobachtbar; denn sie selbst ist, wenn überhaupt, das Beobachtende. In den Maxwellschen Gleichungen operiert außer Vektoren nichts, was eine elektromagnetische Welle repräsentieren könnte. Es sei denn, man behauptete, zum Schrecken von Feynman, eine»zahl im Raum«sei vorstellbar. Wenn nicht, so gibt es nichts Vorstellbares in der Natur, das Maxwell entspricht. Jenseits des Operativen, der Operatoren und Operationen der Mathematik, ist nichts zu behalten, nichts zu begreifen und nichts zu vergessen. Alle Versuche also, die Hertzschen Versuchsreihen von Herbst 1886 bis Januar 1888 zu erläutern, darzustellen, wie es war, geraten umso mehr genau in diesen unabbildbaren, unanschaulichen, unsagbaren, unstellbaren Kontext. Hertz Experimentalsystem

51 DAS AUFMASS DES REELLEN 31 durchläuft in seiner kurzen Geschichte tatsächlich eine Achse, an der es einen Treffer erzielt, jenseits dessen es als Experimentalsystem nichts mehr darstellt. Die Unvorstellbarkeit des Medialen Der Grund für diese Unvorstellbarkeit liegt im Medialen, und zwar genauer in der durch Hertz selbst erschlossenen, historisch neuen Qualität des Medialen. Hertz wird vor sie durch seinen eigenen buchstäblich blitzartigen Einfall gestellt. Es ist ein Einfall, ein Gedanke, in dem unserer These nach schon selbst eine rezente mediale Überformung steckt, nämlich die Oszillationsfotografien Feddersens wieder vor Augen gebracht durch Colley. Das alles geschieht zufällig beim Rumhantieren mit einem Uraltgerät für physikalische Vorlesungen, das einen Effekt zeigt, den Hertz nun schrittweise medial aufzuspannen, medial zu stellen hat. Es gibt keine Wand, wie bei Wheatstones flüchtigen Effekten, und kein festes Fotopapier wie bei Feddersen. Hier gibt es nur Funken, die Funken abbilden, denn im Hertzschen Experiment ist ein Funke, den er empfängt in seinem kleinen Drahtgestell, nichts als ein Effekt eines Funkens, der da vorn aus dem Rühmkorff heraussprüht. Dieser erzeugt eine elektromagnetische Welle, welche das Drahtgestell empfängt und durch ein Fünkchen in seinem Spalt quittiert. Und an dieser Funkenprojektion soll, ganz wie bei Feddersen, eine Messung erfolgen? Hertz kommt aus den Funken nicht mehr heraus. Aber was ist die Mess-Dimension? Das Ganze geschieht nicht mehr auf Papier, sondern gleichsam in der Dimension der Dimensionen, im Raum. Fortan wird für alle technischen Medien gelten, was für den Hertzschen Vorlesungsraum, in dem er experimentiert, schon gilt: nämlich dass der Träger des Medialen sein Reelles ist. Das ist der Rubikon, hinter den fortan keine Medientheorie mehr zurückspringen kann. Hier ist kein Buch, kein Papier, kein belichtetes Glas, kein Zelluloid, sondern Raum, durch nichts anderes aufgespannt, als durch das Medium selbst. Der Raum zwischen zwei Funken ist das Mediale, das die Abbildung des Funkens auf den Funken trägt. Hertz, der Physiker, hat also den Raum seines Effekts abzusichern, auszumessen und aufzumaßen. Er muss, so oder so, seinen Effekt hart und damit wissenschaftlich reproduzierbar machen. Wir können auch sagen, er muss das Mediale seines Effekts reell machen. Er muss, wenn er sie schon nicht aufdecken kann, an den Achsen des Medialen drehen, um irgendeine Art von Sichtbarkeit zu erzeugen. Nur darin und nicht im unmittelbar Technischen wird die Wahrheit des Satzes liegen, dass es eben doch Hertz war, der das Radio erfunden hat. Hertz muss es mit Abstraktion versuchen, nämlich mit der Geometrisierung seines Raums; jeder Punkt muss ausmessbar werden. Dafür vereinfacht er zunächst die räumliche Anordnung des Experimentalaufbaus. Er biegt den Draht aus der Riess schen Impulsgeber-Spule zu einer Geraden auf, tauft diese Vorrichtung»Auslader«und baut als Funkenerreger einen Rühmkorff hinein. Ein

52 32 DIE VERSUCHE DES HEINRICH HERTZ ebenso konsistenter wie genialer Schritt. Damit ist der berühmte Hertzsche Dipol in der Welt, der jetzt, Winter 1886, noch nicht so heißt, aber später und dann auf alle Tage so genannt werden wird. Jahrzehntelang wird in Europa über solche Dipole das frühe Radio gesendet. Zwei Jahre wird Hertz, in einem seiner faszinierendsten Aufsätze, das diesen Dipol umgebende»spiel der Kräfte um eine geradlinige Schwingung«bis in alle Einzelheiten erklären, ableiten und aufmalen (Hertz 1888, 147; vgl. Abb. 12 bis 14). Die linke Spirale, in der er die chaotischen Empfangsfünkchen gesehen hatte, biegt er ebenfalls gerade, viermal gerade zu einem Rechteck, mit einer winzigen Öffnung für den Empfang der Fünkchen. Welch blinder Mut, diese Rektifizierungen vorzunehmen, um aus dem spiralisierten Kreisrund eine vereinfachte Orthogonalität zu konstruieren. Soviel ist sicher, eine Mathematik dafür hatte er nicht, als er es tat, im Winter In der Geschichte der Elektrizität hatte niemals jemand zuvor die Resonanz des Elektrischen stellen und aufmaßen müssen. Hertz sagt zu diesem Vorgang der Geometrisierung seines Experimentalaufbaus den Naturforschern drei Jahre später:»dies Mittel musste durch die Erfahrung selbst an die Hand gegeben werden, die Überlegung konnte es wohl nicht voraussehen«(hertz 1889, 349). Keine Frage, keine Philosophie und keine Physik hätte hier»überlegungen«des Denkens hin zu einem konkreten Mittel der Darstellung leiten können, weil das Reelle, um das es hier geht (und dessen Begriff den Überlegungen Jacques Lacans aus den 1950er Jahren zu verdanken ist), nicht gegenständlich gedacht werden kann. Fotoeffekt Schlagen wir noch einmal den Bogen. Dass Hertz die Resonanz der Fünkchen an einem Allerweltsgerät entdeckt, folgt aus der Überdeterminierung einer medialen Spur des Funkens und nicht aus physikalischer Logik. Er sieht ja zunächst nur die mediale Spur der Funken und fragt sich, welche physikalische Spur bestehen mag. Hertz hat jetzt, nachdem er etwas sieht, nichts anderes zu tun, als diesen Effekt zu sichern, er muss die Sache buchstäblich geradebiegen und die Erfahrung zur Erfahrung machen. Er muss sichern und veröffentlichen, die professorale Sicherung eines aus der physikalischen Forschung geborgenen Effekts. Nichts anderes beinhaltet seine erste Veröffentlichung vom März Hertz stellt dar, was später als Fotoeffekt in die Physikgeschichte eingehen wird. Für ihn bleibt das eine Nebensache, die seinem Problem nicht weiterhilft. Alles Folgende, also die Versuchsreihen vom Herbst und Winter 1887, dienen ausschließlich der experimentellen Austestung und Ausmessung dieses medialen Raums, den er sicher, starr und rechtwinklig zwischen Funken und Funken aufgespannt hat.

53 DAS AUFMASS DES REELLEN 33 Noch bis in den Sommer 1887 hinein begreift er den Resonanzraum zwischen Funken und Funken, im Kontext der Weberschen Physik, als ein wie auch immer oszillierendes Potential, als einen Potentialraum, der seine Wirkung in den Drähten repräsentiert. Der Begriff des Potentials war und ist ein Mathematem, ein Laplacesches Bündel an Funktionentheorien auf Papier und nicht leicht vorstellbar. In der Deutschen Physik des 19. Jahrhunderts war das Potential in der Elektrizität im Sinne Webers ein metaphysisch stimulierter Begriff (Meya 1990). Im elektrischen Potential sollten sich Fernkräfte, die reinen Kraftbeziehungen, also am Ende Insignien romantisch geistiger Natur entfalten können: actio in distanz. Dieses Potential, von Neumann und Weber fürs Elektrische definiert, erweist sich jetzt als mathematischer Unsinn im Fall der Anschreibung der elektrischen Wirkungen in einem Raum, mit dem Hertz es hier zu tun hat. Und Hertz sagt das auch so. Er sagt es immer noch vorsichtig, aber klar. Abb. 10 Heinrich Hertz, Skizze aus dem Laborbuch

54 34 DIE VERSUCHE DES HEINRICH HERTZ Am Anfang ist alles in diesem Raum noch ungewohnt und prekär. Alle Versuche,»Dielektrika«einzubringen, also Glasflaschen, umwickelte Holzgestelle, Berge von Asphalt und ähnliches zwischen Funken und Funken zu schieben, bleiben ohne greifbares Resultat. Über Monate hat er einen Effekt, aber er kann mit ihm nichts Rechtes anfangen. Erst zwischen Herbst und Winter 1887 wird Hertz allmählich klar, dass sich das, was er tut, nicht mehr im Rahmen der kontinentalen Weberschen Elektrodynamik beschreiben lässt. Dass das so war, wissen wir nur, weil Hertz es uns gesagt hat. Abb. 11 Heinrich Hertz, Skizze aus dem Laborbuch Nur durch ihn selbst wissen wir, dass Hertz nach monatelangem Scheitern des Versuchs, Nichtleiter in den Resonanzraum zwischen Erreger- und Empfängerfunken zu wuchten, darauf gekommen ist, den Raum, den Abstand zwischen seinen Geräten, die Dimension seiner Experimentation, anders zu begreifen..

55 DAS AUFMASS DES REELLEN 35 Vorsicht vor der gewöhnlichen Elektrizitätslehre»Erst ganz allmählich gelang es mir, mir klar zu machen, dass jener Satz, welcher die Voraussetzung meines Versuches bildete, hier keine Anwendung fände; dass bei der Schnelligkeit der Bewegung auch Kräfte, welche ein Potential besassen, in der fast geschlossenen Leitung Funken erregen könnten; dass überhaupt die grösste Vorsicht zu beobachten sei bei Anwendung der allgemeinen Begriffe und Lehrsätze, welche der gewöhnlichen Elektricitätslehre entstammten. [...] Ich sah ein, dass ich gewissermassen allzu gerade auf mein Ziel zugegangen war. Es gab ja noch eine unendliche Mannigfaltigkeit anderer Lagen des secundären gegen den primären Leiter, unter diesen konnte wohl solche sein, welche für mein Vorhaben günstiger waren«(hertz 1891, 5f ). Jetzt erst, im Dezember 1887, spannt er seinen Raum wirklich auf, in einer völlig anderen Geometrie, gekrümmt, sphärisch und dreidimensional. Er probiert und ahnt, was niemand vor ihm ahnen konnte, nämlich wie sich eine Welle oder etwas Wellenähnliches vom geraden Schwingungsdraht des Dipols»abschnürt«, dann gleichsam umklappt und als in sich geschlossenes Gebilde gekrümmt im Raum verbreitet: Elektromagnetismus, schwerer als Engel zu beschreiben. Jetzt misst er jeden Punkt im Raum und macht in seinen Labornotizen Schritt für Schritt, auch wieder buchstäblich Schritt für Schritt, Empfangspunkte aus, misst ihre Stärke, und es ergeben sich schemenhaft die ersten Umrisse dieser Wellengebilde. Er spannt die Dimensionen des Raums auf und misst wochenlang. Was er nicht messen kann, überbrückt er vermutlich durch erste Erwägungen in der Theorie und misst an solchen Stellen, die ihrerseits nur aus theoretischen Ableitungen erreichbar sind. So interpoliert er aus Theorie und Messung die Skizzen seines Karlsruher Raums.»Die Mechanik«,»in neuem Zusammenhange«Gleichzeitig und jetzt erst, um Weihnachten 1887/88, beginnt Heinrich Hertz, wirklich und ernsthaft Maxwell zu lesen, und bekommt eine Ahnung, welche tiefgreifenden Wechsel der Physik bevorstehen. Vor allem wird klar, was ihm selbst bevorsteht.»allgemeine Begriffe und Lehrsätze der Elektrizitätslehre«gelten nicht mehr. Das hieß: Abschied vom Begriff der Kraft als einem jahrzehntelang eingeübten Potentialausdruck von Fernwirkungskräften. Abschied vom Begriff der Kraft als dem Inbegriff der Verklammerung von Geist, Natur und Physik in der Tiefenstruktur. Abschied von einem deutschen Jahrhundert der Idee, dass die Natur das tut, was der Mensch denkt. Abschied vom Geist. Es wundert nicht, dass Hertz ab 1891 ganz aufhört zu experimentieren. Stattdessen fasst er den Plan, die»mechanik«,»in neuem Zusammenhang dargestellt«, zu schreiben, ein Grundlagenwerk, das was Wunder ohne den Begriff der Kraft auskommen wird. Ein Werk, dessen letzte Sätze er Philipp Lenard, seinem Assistenten, diktiert, als er, mit erst 37 Jahren, nur noch starr und bewe-

56 36 DIE VERSUCHE DES HEINRICH HERTZ gungslos daliegen kann, gezeichnet von einer den ganzen Körper erfassenden Sepsis der Mund- und Nasenhöhlen, einer Vergiftung, gegen die auch sechs Operationen nicht halfen und die sehr wahrscheinlich vom Quecksilberunterbrecher des Rühmkorff ausgelöst worden war. Dessen feine, giftige Dämpfe hatte Hertz mehr als ein Jahr lang, Winter 1886 bis Winter 1887, einzuatmen. Hertz stirbt mit 37, vermutlich an den Spätfolgen seiner Versuche zur Elektrizität. Die Schwingung als Zeichen Hertz hat, als erster Physiker überhaupt, dasjenige zu stellen und zu messen gehabt, was man nicht repräsentieren kann, nicht abbilden, nicht aufmalen und nicht denken kann: Zahlen im Raum (Feynman). Um (mit Lacan) den epistemologischen Kern der Sache im Visier zu behalten, schlage ich vor, diese epochale Unvorstellbarkeit von räumlich-wirklichen Zahlen, die die Medien der Moderne konstituieren, das Reelle zu nennen, das Reelle der Elektrizität. Seit Weihnachten 1887/88 ist Elektromagnetismus technologisch reproduzierbar; der Hertzsche Versuchsaufbau wird noch bei Marconis ersten Transatlantik- Versuchen, ein gutes Jahrzehnt später, deutlich wieder erkennbar sein. Seit Weihnachten 1887/88 ist Elektromagnetismus zugleich als theoretisch anschreibbare Mathematik in der Welt und damit an einem Platz, wo er»an seiner Schuhsohle klebt, ohne daß es etwas gibt, das es verbannen könnte«(lacan 1973, 24), um es mit Lacan zu sagen. Alles das ausgelöst hatte eine wahrhaft unbedeutende Sache, die man nur unvordenklich nennen kann, nämlich der Fund eines Fünkchens. Als dies aber geschehen war, hatte Hertz nicht einmal mehr die Wahl, das Reelle als Mediales nicht zu stellen, weil er das, was ein unvordenklicher Effekt einer Übertragung ist, als Medium und als Gegenstand seiner Experimentation zugleich vor sich hatte. Soweit es eine (ihm alles andere als geheuere) Theorie, nämlich die Maxwellsche, vorschrieb, hat er nach Maßgabe dieser Theorie Messungen gemacht. Danach setzte sofort die Finalisierung der Theorie ein 2 und zwar in Gestalt einer Normalisierung der Maxwellschen Gleichungen, inklusive aller Normalisierungen ihrer Schreibweisen und der Klärung ihrer mathematischen Struktur. Heute sind diese vier Gleichungen, die die Elektrizität vollumfänglich beschreiben, Erstsemester-Stoff. Wichtiger aber bleibt, dass Hertz selbst noch deutlich gesehen hat, wie jegliche Übertragung des und im Reellen, wenn sie denn beschrieben werden soll, eine Verschiebung im Semiotischen impliziert. Das ist ein Befund an einer wiederum ganz unscheinbaren, aber ebenso eindeutigen Stelle. Zu den Naturforschern sagt er zunächst:»die Dauer jeder einzelnen Schwingung [im Funken] ist viel kleiner, als die Gesamtentladung [des Funkens]«. Das ist schlichter Feddersen. Und fügt dann hinzu:»man kann auf den Gedanken kommen, die einzelne 2. Vgl. Die Neutralität der Technischen Medien, Seite 10ff.

57 DAS AUFMASS DES REELLEN 37 Schwingung als Zeichen zu benützen«(hertz 1889, 348). Nämlich als ein Zeichen für die Konstruktion und das Aufmass eines elektromagnetischen Feldes. Die Oszillation des Reellen Wenn mit und seit Hertz die Schwingung ein Zeichen ist, dann gilt das auch für die Umkehrung. Fortan wird das Zeichen als eine Oszillation anzuschreiben sein, als jenes intellegible Pendel, das Saussure um 1895 definiert, als Relation einer Undarstellbarkeit, die übertragen werden muss, damit sie als ein Effekt, als eine Verschiebung, ex post, immer unter Bedingungen eines Aufschubs oder eines Aufgeschobenen, sich darstellen kann. Diese radikale, selbstbezügliche Definition des Zeichens ist der Hertzschen äquivalent. Es ist eine Oszillation, Die Arbeit des Aufschubs und der Übertragung beginnt also schon mit Hertz. Er, der keine Ohren hat zu hören, muss der Versammlung der Naturforscher von 1889 mittels einer Verschiebung klarmachen, was Elektromagnetismus ist; er verschiebt die Sache in die Akustik und ihre feinsten Klangerscheinungen. Ich lese diese Analogie-Verschiebung ins Akustische als den ersten Expansionseffekt des Elektromagnetischen, das deshalb expandieren muss, weil es an seiner eigenen Stelle sich nicht erklärt und nicht überträgt. Insofern hat schon Hertz selbst als erster die Kette von Übertragungen losgetreten, die mit der Eroberung, dem Selbstverständnis und der Technologie des Elektromagnetismus seither verbunden sind. Funktelegraphie, Radio, Radar, Fernsehen, Computer, satellitengestützte Netze etc. bilden die Glieder in jener Kette einer süchtigen, offenbar unstillbaren Medien-Expansion, die mit dem Radio anhebt und deren Grund insofern nicht so sehr in einer allgemein-globalen»evolution der Kommunikation«(Merten 1994) zu suchen wäre. Wissenschaftshistorisch gesehen nämlich basiert, wie ich zu zeigen versucht habe, die Expansion der Medien auf keinem Muster von Selektion, Variation und Restabilisierung (= Evolution). Der Sinn konstruktivistischer Evolutionstheorien beruht vielmehr selbst schon auf den epistemologischen Voraussetzungen der modernen Medien. Für ihre Beschreibung sind, nach Hertz, nur noch

58 38 DIE VERSUCHE DES HEINRICH HERTZ Scheinbilder zu haben, und zwar drängende, stets neue und sich überbietende. Evolution ist nur eines von ihnen. ) Abb. 12 Ablösung einer elektromagnetischen Welle vom Dipol (1) Abb. 13 Ablösung einer elektromagnetischen Welle vom Dipol (2)

59 DAS AUFMASS DES REELLEN 39 Abb. 14 Ablösung einer elektromagnetischen Welle vom Dipol (3) (aus Heinrich Hertz,»Die Kräfte elektrischer Schwingungen behandelt nach der Maxwell schen Theorie«, 1888)

60

61 Das aufgelassene Experimentiergerät»Die Bedeutung der Sprache... liegt darin, dass in ihr der Mensch eine eigene Welt neben die andere stellte, einen Ort, welchen er für so fest hielt, um von ihm aus die übrige Welt aus den Angeln zu heben und sich zum Herrn derselben zu machen. Insofern der Mensch an die Begriffe und Namen der Dinge als an aeternae veritates durch lange Zeitstrecken hindurch geglaubt hat, hat er sich jenen Stolz angeeignet, mit dem er sich über das Thier erhob: er meinte wirklich in der Sprache die Erkenntnis der Welt zu haben«(nietzsche , 30).»RADIANT MATTER«Als Schöpfer des Wortes Radio muss der englische Chemiker und Physiker William Crookes angesehen werden, den, obwohl über einige Jahre ein praktizierender Okkultist (Stein 1993), die Chemie bis heute aus mehreren Gründen in ihre Ahnenreihe stellt. Abb. 15 William Crookes»Radiometer«, zum Beispiel war er seit längerem dabei, das spezifische Atomgewicht des Thalliums zu ermitteln. Thallium ist glänzend-grünes, weiches, hochgiftiges Schwermetall, dessen Entdeckung anhand eines grünen Strichs im Verbrennungsspektrum man ebenfalls William Crookes zuschreibt (Gay 1996). Entdekkungen von Elementen machen Forscher bekanntlich unsterblich. Crookes will

62 42 DAS AUFGELASSENE EXPERIMENTIERGERÄT nun das Atomgewicht seines neu gefundenen Elements bestimmen und bearbeitet das Problem mit den neuesten Tools, nämlich mittels hoch evakuierter, luftentleerter Glasröhren. Sie werden eine Physikergeneration lang seinen Namen tragen und»crookessche Röhren«heißen. Für die Bestimmung des Element- Gewichts bringt er in eine solche einen drehbaren Stab ein, auf dem ringsherum feinste Thallium-Plättchen befestigt sind. Der Forscher entdeckt nämlich, dass die dünnen Plättchen im Vakuum sich auf ihrer Achse wundersam zu drehen beginnen, wenn man die Röhre dem Licht aussetzt (Woodruff 1966). Für Crookes war das kein Zufallsfund. Der Effekt folgte vielmehr seiner spekulativen Theorie über das Wesen der Gravitation, also der Schwerkraft. Gravitation nämlich sollte, so wähnten, wie man heute vergessen hat, große Teile der viktorianischen Physiker- und Naturforschergeneration seit Michael Faraday, mit der Elektrizität, der elektrischen Anziehung, dem Magnetismus und auch dem Licht, zum Beispiel der Sonne, stofflich identisch sein. Crookes hatte nun dafür, so glaubte er, eine Repräsentation gefunden. Eine Abbildung. Seine Thallium-Plättchen drehen sich in und vor den korpuskularen Strahlen des Lichts. War das nicht auch eine Art Schwere, die da wirkt? Die Strahlung nennt er»radiant matter«, sein Röhrengerät mit eingebauten sich drehenden Thalliumplättchen den»radio-meter«. Ein solches Sing kann man heute auf jeder Kirmes kaufen, als Dekoration für den Schreibtisch oder den Lampenschirm. Mit diesem physikalischen Irrtum beginnt die Geschichte des Wortes Radio. Denn die Lichtstrahlen oder Lichtwellen waren es nicht, die die Plättchen drehen ließen; ob Licht aus Wellen oder massehaltigen Korpuskeln bestehe, war 1874 noch nicht entschieden. Es ist nicht Licht, sondern es sind die Erwärmungsdifferenzen an den Unter- und Oberseiten der Plättchen, die die Plättchen drehen lassen. Die dem Licht zugewandte Seite erwärmt sich mehr als die Unterseite, so dass auftreffende Gasmoleküle von den Seiten unterschiedlich abgestoßen werden. Und das Ganze funktioniert auch nur bei einem bestimmten Entleerungsgrad der Röhre. Es darf kein reines Vakuum sein.»strahlende Materie«oder»vierter Aggregatzustand«? Aber das alles wusste Crookes nicht, was ihn Jahre später, als er es schon besser wusste, nicht davon abhielt, die wissenschaftliche Welt, als weitgehender Autodidakt, der er sein Leben lang war und blieb (nach dem Vorbild des Buchbinders Michael Faraday, dem die Welt den entscheidenden Durchbruch im Wissen um die Elektrizität verdankt) mit seiner Theorie des»vierten«, nämlich strahlenförmigen»aggregatzustandes der Materie«die Physikwelt über einige Jahrzehnte in Atem zu halten (Crookes 1879). Dieser Aggregatzustand sollte sich in seinen verbesserten Röhren dadurch zeigen, dass die elektrischen Entladungen, die er in ihnen vonstatten gehen ließ, in vielen Farben leuchteten und Schatten hinterließen hinter eingebrachten Metallkreuzen in diesen Röhren auf ihrer Innenseite.

63 »RADIANT MATTER«43 Schon die Radiometer -Kraft-Röhre habe die Urkraft gezeigt, behauptete Crookes, und das sollte die Einheitskraft alles Seins, ein Zeichen, eine Repräsentation einer aeterna veritas sein. Ich trage nach, dass Crookes, abgesehen von der Prägung des Wortes Radio, auch mit seinen weiterentwickelten Röhren keine Urkraft und Welterkenntnis abbilden konnte. Aber seine schattenwerfenden Entladungen legten eine Spur. Sie zeigten einen bis dahin unbekannten Effekt. Crookes hatte aus einem spekulativen Kontext die Existenz strahlender Materie behauptet und dazu ein Repräsentationsgerät entwickelt, das ihm erlaubte, neben diesen sich hübsch drehenden Plättchen, Kathodenstrahlen in hoch-evakuierten Röhren zu erzeugen und abzubilden. Abb. 16 Eine»Crookessche Röhre«Seine Theorie dazu war zwar völlig unbrauchbar, aber genau dieses Setting von falscher Objektbehauptung und ihrer apparativen Repräsentation brachte die Sache weiter. Die nachfolgende physikalische Forschergeneration erforschte diese unscharfen Objekte, die sich durch»crookesche Röhren«erzeugen ließen, zwanzig Jahre lang sehr intensiv, um am Ende diejenigen Strahlungen messbar zu machen, welche die neuere Atomtheorie einleiteten, nämlich die masselosen Röntgenstrahlen einerseits und jene strahlenden Masseteilchen andererseits, die das zwanzigste Jahrhundert technisch dominieren sollten, nämlich die Elektronen. Die Röntgenstrahlung von 1895 und das Elektron von 1897 wurden mit vergleichsweise weitgehend modifizierten»crookesschen Röhren«gefunden, die jedoch in seinem Angedenken ihren Namen behielten. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass es Experimentiergeräte eines schillernden, okkultistischen Forschers waren, der an Gedankenübertragung glaubte, sich von einem jungen Klopfgeistermedium namens Katie King in seinem Badezimmer verführen ließ, die Telekinesen und Materialisationen in den Seancen des Mediums Donald Dunglas Home und Henry Slade beschrieb und schwebende Tische ebenfalls für wissenschaftlich ernstzunehmende Dinge erachtete. Auch Heinrich Hertz hat intensiv und lange mit den Crookesschen Röhren experimentiert. In Anschluss an diese Experimente (und der seines Assistenten Lenard) setzte J. J. Thomson seine Arbeit mit der Analyse der»kathodenstrahlen«in den Crookes'schen Röhren fort, mit der Folge der Entdeckung des Elektrons von Rutherford, Schüler Thomsons, entdeckt das atomare Gegen-

64 44 DAS AUFGELASSENE EXPERIMENTIERGERÄT stück, das Proton, erst 13 Jahre später. Mit Bohrs Interpretation dieses so gefundenen Atom-Modells begann die Quantenphysik.»These rays can pass into the brain«der Herkunftsort des Namens»radio«wäre geklärt, wiewohl das spätere Medium gleichen Namens mit den Strahlen, um die es Crookes ging, nichts zu tun haben sollte. Oder doch? Crookes bleibt dabei, dass Physik und Geist nicht zu trennen sind. Strahlungen sind Materie, nämlich nichts anderes als einer ihrer Aggregatzustände. Strahlungen bilden aber zugleich ein kontinuierliches Frequenzspektrum, das im Kontinuum seiner Wellenlängen das Kontinuum von Sprache, Licht, Geist und Elektromagnetismus umfasst. Im Jahre 1897 unternimmt der inzwischen zum Präsident der Londoner»Society of Psychical Research«erhobene William Crookes, langjähriger Fellow der»royal Society«, einen letzten Versuch, seine Theorie der Natur und Geist verbindenden Strahlung noch einmal zu untermauern ist das Jahr der Entdeckung des Elektrons, von der aber Crookes noch nichts wissen kann. Allerdings ist das Spektrum des Elektromagnetischen, durch die Hertzschen Versuche, seit einem knappen Jahrzehnt bekannt. Auch Röntgens»X-Strahlen«sind bekannt, überall in Europa werden bereits Menschenhände und -körper massenhaft durchleuchtet. Aber physikalisch ist diese Strahlung noch nicht durch Brechung und Beugung als Teil des elektromagnetischen Spektrums identifiziert. Es könnten immer noch die lang ersehnten Longitudinalwellen des Äthers sein, so spekuliert man in der physikalischen Community Europas. So dass Crookes es in seiner President s Address der»society for Psychical Research«unternehmen wird, die Grundlinien einer physikalisch begründeten»psychical science«zu entwerfen,»the embryo of something which in time may dominate the whole world of thought«(crookes 1897, 338). Die»Society for Psychical Research«, 1882 gegründet, war eine hoch angesehene Gesellschaft zur Erforschung der seltsamen Phänomene der Seancen, Telekinesen, Trance-Zustände von lebendigen Medien und anderer extra-sensorischer Phänomene der Wahrnehmung, die im späten 19. Jahrhundert Teile der wissenschaftlichen Forschergemeinschaft Europas in Aufregung versetzt hatten. Es versteht sich von selbst, dass weder die SPR noch die überwiegende Mehrheit der Forscherorganisation der viktorianischen Physik 1897 die Maxwellschen Gleichungen verstanden und internalisiert hatten. Die Gründe dafür liegen in der autoritären Skepsis Lord Kelvins und in ihrer schwierigen Mathematik. Erst durch die Vereinfachungen von Oliver Heaviside, die ihrerseits durch die Radio- und Wechselstromtechnologie erzwungen waren, werden Maxwells Gleichungen für die nachfolgende Physikergeneration allmählich zum Standard des Wissens (Nahin 1988). Dies muss vorausgeschickt werden, um zu verstehen, welch tiefem Irrtum Crookes 1897 noch unterliegen darf; und

65 »RADIANT MATTER«45 mag zugleich erahnen lassen, wie lange dieser Irrtum fortwirken sollte in der europäischen Epistemologie. In seiner Präsidenten-Adresse ist Crookes Thema die eben entdeckte Physik des elektromagnetischen Spektrums. Dieses Spektrum, so Crookes, sei (was unstrittig richtig ist) nichts anderes als ein Spektrum von Zeitabständen, nämlich von Frequenzen. So nimmt er, um es einfach zu machen, das Modell eines Pendels, verdoppelt die Pendelschläge in jedem Schritt und erklärt, welche Art von Wellenbereiche sich dadurch eröffnen:»als Ausgangspunkt nehme ich ein Pendel, das pro Sekunde einmal hin und her geht. Wenn ich dies immer wieder verdoppele, bekomme ich eine Serie von Schritten, die etwa dieser hier entspricht: Schritt Vibrationen per Sekunde Im fünften Schritt, bei 32 Vibrationen pro Sekunde, erreichen wir die Region, wo atmosphärische Vibrationen sich als Klang zu entdecken geben. Als nächstes gelangen wir zu einer Region, in welcher die Vibrationen stark ansteigen, und das Vibrationsmedium nicht mehr die dichte Atmosphäre ist, sondern ein außerordentlich verdünntes Medium, eine göttlichere Luft, genannt der Äther. Von dem 16. Schritt bis zum 35. steigen die Vibrationen von auf pro Sekunde, und solche Vibrationen erscheinen mit unseren Mitteln der Beobachtung als elektrische Wellen. Danach erreichen wir die Region des Lichts, das sind die Schritte 45 bis 51, das sind die bislang höchsten gemessenen Strahlen des Spektrums... Wenn wir die Region des sichtbaren Lichts verlassen, stoßen wir an eine, was unsere existierenden Mittel der Forschung betrifft, unbekannte Region, dessen Funktionen wir aber zu ahnen beginnen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die X-Stahlen des Professor Röntgen zwischen dem 58ten und 61ten Schritt gelegen sind. Und es scheint mir, dass in diesen Strahlen eine mögliche Übermittlungsart von Intelligenz liegen könnte, welche mit wenigen hinreichenden Postulaten, als ein Schlüssel dessen sich erweisen könnte, was bislang noch in der psychischen Forschung unklar ist. Es kann angenommen werden, dass diese Strahlen, oder gar Strahlen noch höherer Frequenz, direkt ins Gehirn hinein gehen und dort auf die Nervenzentren einwirken. Man kann sich denken, dass das Gehirn ein Zentrum hat, das diese Strahlen verwendet wie unsere Stimmbänder die Klangvibrationen erzeugen und die aussendet, mit der Geschwindigkeit von Licht, um damit direkt einzuwirken auf ein Empfangs-Ganglion eines anderes Gehirns. Auf diese Weise können zumindest die Phänomene der Telepathie und die Übertragung einer Botschaft von einer Empfindung auf eine Andere über lange Entfernungen in Bereich einer Gesetzlichkeit gebracht und begriffen werden«(*crookes 1897, 350f).

66 46 DAS AUFGELASSENE EXPERIMENTIERGERÄT Halten wir den Stand der Wissenschaft von 1897 gegen die Crookessche Präsidentschaftsrede von Es trifft zu, dass über die Röntgenstrahlen, was ihre Entstehung durch die Wechselwirkung stark gebremster Elektronen betrifft, noch nicht das mindeste»gewusst«sein kann. Niemand weiß 1897 etwas über abgebremste Elektronen und über die Quantelung der elektromagnetischen Energie, die Röntgenstrahlung generiert; niemand weiß, dass erst Plancks (von ihm selbst nicht eben geliebte) Konstante h zur korrekten Beschreibung des Spektrums verhelfen wird (ab 1900) und Verdoppelungen von Vibrationen nicht weiterhelfen, zumal Crookes die Medien Luft, Elektromagnetismus und Äther auf eine typische Weise ineinander über gehen lässt. Auch weiß niemand etwas von Photonen, oder gar von Uhren, die in Abhängigkeit ihrer raumzeitlichen Beschleunigung oder Geschwindigkeit schneller oder langsamer gehen. Kurz: 1897, in dem Jahr, in dem das Elektron entdeckt wird, ist der nahezu letzte Augenblick gekommen für eine ultimative, umfassende naturphilosophische Spekulation der Kontinuumsphysik, einer Physik also, die, wie die unendliche Vibrationenreihe von Crookes, bei der jahrhundertealten Behauptung bleibt: Natura non facit saltum die Natur macht keine Sprünge.»Ich wiederhole«, fügt Crookes hinzu,»die Spekulation ist eine strikt vorläufige. Ich wage aber, sie vorzuschlagen«.»die Zeit wird kommen, wo es möglich sein wird, sie experimentellen Tests zu unterziehen«(352). Diese Zeit Crookes Zeit sollte zwar nicht mehr kommen, insofern die Theorie der Quanten und der Relativität seinen Spekulationen über das Natur- Geist- Spektrum den Boden entziehen sollte. Gleichwohl, das europäische Radio, in England entstanden und daher auch von den Phantasmatiken der englischen Epistemologien à la Crookes stark geprägt, wird bis weit in die erste Jahrhunderthälfte hinein das Erbe seiner Spekulationen auszutragen haben. PARIS, LIVERPOOL, KRONSTADT, BOLOGNA Die Geschichte des Radios, dessen Prinzipaufbau im Jahre 1888 im Hertzschen Labor steht, hat nicht in Karlsruhe angefangen. Auch nicht in Bonn, wo Heinrich Hertz seinen nächsten Lehrstuhl bekam. Auch nicht in Berlin, wo sein Lehrer Helmholtz von Hertz selbst sofort in Kenntnis gesetzt worden war. Das europäische Radio hat nicht in Deutschland angefangen, sondern nimmt seinen Umweg von Karlsruhe über Genf, Paris, Liverpool, Kronstadt und Bologna nach London. Es entsteht nicht auf dem Boden der wilhelminischen Physik und nicht auf dem der englischen Physik des viktorianischen Empire. Das Radio als technisches Medium startet erst, nachdem die englische Seekabeladmiralität die Gerätschaften eines jungen, heißspornigen Bastlers importiert. Der junge Mann hatte zusammengerafft, was die Physik Europas ein halbes Jahrzehnt lang unbeachtet hatte liegen lassen Guglielmo Marconi. Seine Radiotelegrafie-Übertragungen im Auftrag des englischen Militärs lockten wiederum deutsche Beobachter an,

67 PARIS, LIVERPOOL, KRONSTADT, BOLOGNA 47 den Ingenieur Adolf Slaby zum Beispiel, und mit ihnen kam die Kenntnis zurück nach Deutschland und ins kontinentale Europa. Was ist der Grund für diesen äußerst seltsamen und äußerst folgenreichen Umweg? Er liegt im symbolischen Kontext der Hertzschen Entdeckung. Hertz entdeckte zunächst eine»strahlung«und dann den Elektromagnetismus, zunächst also die Wirkung einer Frequenz und dann erst ihren Träger. Er nannte das gefundene Phänomen die»elektrische Kraft«. Er konnte beweisen, dass sie (die elektrische Kraft) sich verhält wie Licht. Er konnte beweisen, dass er genau die Sorte von Wellen gefunden hatte, die in einer höheren Frequenz eine sichtbare Strahlung namens Licht darstellen. Die kleine europäische Forschergemeinde der Physik, die mit Elektrizität befasst ist, greift die Frage auf. Sie fragt: Wie kann das Spektrum der Frequenzen erforscht werden, zu dem Heinrich Hertz hier die Tür aufgestoßen hat? Welche Strahlungen gibt es noch? Was sind die Eigenschaften des Trägermediums der elektromagnetischen Wellen, genannt Äther? Ist das Spektrum des Elektromagnetismus kontinuierlich? Keine dieser Fragen führte zum Radio. Righi und Planck Zur besagten kleinen Physikergemeinde, die sich um die Hertzschen Entdeckungen kümmerte, gehört neben Edouard Sarasin und Lucien de la Rive in Genf zum Beispiel auch Augusto Righi, Professor für Physik an der Universität von Bologna. Righi ersann neue Verfahren der Funkenproduktion, um von den Hertzschen Wellen aufwärts bis zu den Frequenzen des Lichts zu kommen. Sein Ziel war, nicht ohne einen okkultistischen Pechant, der Nachweis eines ganz neuen Typus von Magnet-Strahlung (Carazza 1991). Dieser Nachweis ging wie so viele andere im strahlenversessenen fin de siècle 1900 (Asendorf 1989) in die Irre. Wäre er nicht der Nachbar der Marconis und ihres leidenschaftlich bastelnden Guglielmo gewesen, Righis Name hätte keine Bedeutung für die Radiogeschichte. Ich komme später auf ihn zurück. Allerdings in der Konsequenz der Arbeiten zur Ausforschung des elektromagnetischen Frequenzbandes liegt immerhin die Initialzündung für die Quantenphysik. Nach zahllosen empirischen Arbeiten zur Frage, wie das Kontinuum der elektromagnetischen Strahlung mathematisch anzuschreiben ist, wird Max Planck im Jahre 1900 seine entscheidende theoretische Entdeckung machen. Seine Hommage an Heinrich Hertz liegt in den ersten Sätzen seiner Arbeit. In Bezug auf das Verhältnis zwischen Energie und Frequenz im (vorgeblichen) Kontinuum des elektromagnetischen Frequenzbandes entdeckt Planck eine empirische Inkonsistenz, die nur damit zu erklären ist, dass das Spektrum des Elektromagnetismus eben nicht kontinuierlich aufgebaut ist, sondern sozusagen»springt«und nicht stetig ist. Planck findet heraus: Zwischen einer Frequenz und seiner nächst höheren besteht eine konstante Differenz und keine unendliche Abstufung. Seine theoretischen Berechnungen ergeben hier eine winzige,

68 48 DAS AUFGELASSENE EXPERIMENTIERGERÄT aber konstante Zahl. Im Jahr 1900 wird h gefunden, das sogenannte Plancksche Wirkungsquantum, das als konstante Größe h = 6, Js ab sofort und bis heute eine naturgesetzliche Unstetigkeit der Physik beschreibt. Ab jetzt, ab 1900, heißt jede Physik, die sich in den Dimensionen kleinster Wirkungen bewegt, Quantenphysik; ein weiterer Schritt der epistemologischen Wirkung der Hertzschen Versuche in die Moderne. Ontologische Reste Auch Ludwig Boltzmanns luzide Lektüre des Hertzschen Scheinbildtheorems gehört in diese Linie, folgenreich durch seine Adaption des Boltzmann-Schülers Wittgenstein 3. In gewisser Weise radikalisiert das Scheinbildtheorem auch den Psychophysikalischen Parallelismus der Quantenmechanik (Neumann 1932, 184ff), insofern nach Hertz alle Bilder der Natur, konstruiert von der modernen Physik, Scheinbilder sein müssen. Nach Hertz, aber mehr noch nach Boltzmann, Planck und John von Neumann, verkapselt sich der symbolische Diskurs der modernen Physik in sein epistemologisches Prinzip. Nicht mehr die Natur als Natur ist zu beobachten, sondern nur noch diejenige Natur, die mit realen Uhren und Messgeräten beobachtet werden kann. Vielleicht gerade deshalb konnte das Radio als technisches Medium nicht von der Universitätsphysik entwickelt werden. Das Radio repräsentiert nämlich viel stärker als jede akademische Experimentation, die, falls gelungen, in den Finalismus der Theoriebildung aufgeht, auch die ontologischen Reste und den Dreck der Effekte, kurz: das liegen gelassene Experimentiergerät selbst. Längst nutzlos für die Schulphysik, wurden die Gerätschaften des Hertzschen Versuches sechs Jahre später noch einmal in Betrieb genommen und in einen Kontext gestellt, den man eher den einer vormodernen, para-spiritistischen Neurologie nennen muss. Das Ergebnis gerät in die Hände eines jungen italienischen Bastlers und von dort aus in die Interessensphäre des englischen Militärs. Der Kohärer Sechs Jahre, zwischen 1888 und 1894, blieb der Experimentalaufbau der Hertzschen Versuche tatsächlich liegen. Zwar wiederholten Edouard Sarasin und Lucien de La Rive die Karlsruher Versuche in eigens aufgebauten Hallen 1889/ 90 noch einmal in Genf (Sarasin 1890). Aber dies geschah aus Gründen der notwendigen Reproduzierbarkeit wissenschaftlicher Experimentationen und führte (außer zur Korrektur von Rechenfehlern bei Hertz) zu keinen weiteren Entdekkungen. Sarasin und de La Rive hatten allerdings immense Schwierigkeiten zu überwinden. Denn, wie auch spätere Replikationsversuche beweisen sollten 3. Vgl. Scheinbilder, Seite 8ff.

69 PARIS, LIVERPOOL, KRONSTADT, BOLOGNA 49 (Wittje 1995): Hertz hatte großes Glück mit den baulichen Umständen seines Karlsruher Vorlesungssaals, der überwiegend aus Holz gebaut war und keinerlei Eisenträger oder durch Eisen verstärktes Mauerwerk enthielt. Eisen oder Eisenträger lenken die elektromagnetischen Wellen ab, streuen und reflektieren sie so stark, dass Hertz seine Empfangsfünkchen womöglich niemals hätte sehen können, wäre sein Vorlesungssaal nicht überwiegend aus Holz erbaut worden. Eine große Schwäche des Hertzschen Experimentalaufbaus war zudem unübersehbar: Sie enthielt kein einfaches Empfangsgerät für die neu entdeckten Wellen, sondern nur jene simplen Gestelle mit einem rund oder viereckig aufgezogenen Draht, der an einer Stelle eine winzige Öffnung ließ, über die Hertz ein Mikroskop-Okular angebracht hatte, um überhaupt Fünkchen entdekken zu können. Dieses Empfangsgerät war nichts für schlechte Augen und damit nichts für den normalen Gebrauch. Um 1890 kam Hilfe aus Paris, und zwar aus dem Kontext der Untersuchung menschlicher Nervenbahnen. An der Katholischen Universität lehrend und im elektrophysiologischen Labor der Salpêtriére experimentierend, hatte ein gewisser Professor Edouard Branly auf dem Wege zur Erforschung menschlicher Nervenfunktionen eine Glasflasche gebaut, die für die nächsten zehn Jahre zum einzigen Empfangsgerät elektromagnetischer Impulse dienen sollte. Abb. 17 Edouard Branlys»Flasche«(»Kohärer«) Branly und Baraduc An der Salpêtriére, wo Professor Branly um 1890 täglich nachmittags experimentierte, wurden schon seit Jahrzehnten Forschungen über die physiologische Beschaffenheit der psychischen Funktionen des Menschen angestellt (Blondel 1993). Es wurde, schlicht gesagt, nach einem quasi-elektrischen Schaltplan der Seele gesucht. Die Forschungen hatten eine lange, bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts reichende Vorgeschichte. Für die Diskussion des Branlyschen Nervenmodells aber ist vor allem eine Theorie von Interesse, die im späten 19. Jahrhundert in Paris virulent war und die Branly wohl gut kannte. Gemeint sind die Arbeiten von Hippolyte Baraduc, einem damals berühmten Neurologen und Gynäkologen. Als Gynäkologe war Baraduc, wie Branly als Physiker, in der Salpêtriére bei Paris tätig, einer großen Klinik für Geisteskranke, in der ausschließlich Frauen interniert waren. Baraduc hat zu Lebzeiten

70 50 DAS AUFGELASSENE EXPERIMENTIERGERÄT an die zwei Dutzend Bücher veröffentlicht und war darüber hinaus einer der wirksamsten Begründer dessen, was man fotografiehistorisch Gedanken-Fotografie nennt (Chéraux 2004). Von hier aus, nämlich von seinen Gedankenfotografien aus, ist er ein Urvater der abstrakten Malerei Vassily Kandinskys geworden aber das ist eine andere Geschichte (Hagen 1999). Abb. 18 Hippolyte Baraduc:»...portée sur le coeur«(fotografie ohne Kamera) Man macht es sich zu einfach, würde man annehmen, Baraduc sei in seinen fotografischen Abbildungen von Lebenskräften auf fotografischen Platten (Baraduc 1893) getäuscht worden durch Flecken und Überbelichtungs-Schatten, die bei der (fehlerhaften) Entwicklung seiner Fotoplatten übrig geblieben waren. Das ist zweifellos das, was wir heute sehen, aber das ist ebenso zweifellos nicht das, was Baraduc gesehen hat. Er sah in diesen Mustern, Streifen, Wolken und Schatten»Vibrationen der menschlichen Vitalität«. Das heißt, er sah darin Zeichen eines vitalen Fluidums namens»od«oder»psychod«, das in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts von einem obskuren Autor namens Theodor von Reichenbach in umfänglichen Forschungen entdeckt und großenteils vom berühmten Theodor Fechner in Leipzig anerkannt worden war. Von seriösen Wissenschaftlern allerdings war die Existenz eines»od«-fluidums niemals akzeptiert worden; aber wo sind wir, in den 90er Jahre des vorvergangenen Jahrhunderts? Ab Mitte der achtziger Jahre war Hippolyte Baraduc im elektrophysiologischen Labor der Salpêtriére tätig, setzte menschliche Mägen unter elektrischen

71 PARIS, LIVERPOOL, KRONSTADT, BOLOGNA 51 Strom, oder wusch sie aus, wie er es nannte, um mit Hilfe von elektrischen Entladungen Magen-Vergößerungen zu verhindern. Abb. 19 Das Elektrophysiologische Labor der Salpeterière Baraduc konstruierte zudem Instrumente zur sogenannten De-Elektrisierung des Gehirns, genannt»le decondensateur cerebral«. In einer Zeit, in der das Elektrokardiogramm erfunden wurde, unser gewohntes EKG, das nichts anderes als eine Ableitung von Herzströmen aufschreibt, behauptete Baraduc, dass es verschiedene elektrische Ströme gibt, die durch verschiedene Teile des Körpers strömen und sowohl exakt messbar als auch exakt bilanzierbar seien. Baraduc hielt für sicher, dass ein psychikales Fluidum, oder eben ein»psychikones Od«, wie er es nannte, so etwas sein könnte wie ein ätherisches Fluidum, das uns in irgendeiner Form von Wolke umgibt. Diese Wolken aus Fluida inhalieren wir, so Baraduc, mit der rechten Seite unseres Körpers und atmen das inhalierte Fluidum mit der linken Seite wieder aus (nichts, was heutigen Yoga-Atmungstechniken unbekannt wäre). Eine interessante Theorie, weil sie, in der Vorstellung von Baraduc, ermöglichte, eine Art Bilanzmessung vorzunehmen. Indem er die messbaren Quantitäten der Aspiration und Expiration, also der Ein- und Ausatmung des Fluidums, wohlgemerkt mit dem Körper, nicht mit dem Mund oder sonstigen Öffnungen, bilanzmäßig verglich, meinte er herausgefunden zu haben, dass ein normaler Verbrauch an»vitaler Kraft«von, angenommen, zehn Einheiten uns eine bestimmte Menge an psychischer Energie zuführt. Seiner Vorstellung nach sind wir auf diese vibrierende und pulsierende Weise stets mit unserer Umgebung verbunden, aus der wir unsere psychischen Energien ziehen. Hier liegen dann auch die Wurzeln für seine sogenannte»gedanken-fotografie«, die ihn in den spiritistischen und später auch in avantgardistischen Kreisen so berühmt werden ließ. Baraduc war sich sicher, dass psychische Besessenheiten nichts anderes seien als spezifische Störungen im körperlichen Austausch

72 52 DAS AUFGELASSENE EXPERIMENTIERGERÄT und der Einatmung/Ausatmung von psychischen Fluida um uns herum und damit auch fotografierbar seien. Deshalb glaubte er auch an die Wirkung seiner»zerebralen Dekondensatoren«und anderer Geräte, die er in der Salpêtrière entwickelt und gebaut hatte. In Baraducs abschließender Darstellung seiner»méthode Biométrique appliquée aux Sensitifis et aux Névrosés«in»Les Vibration de la Vitalité Humaine«, Paris 1904, wird»le Professeur Branly«ausdrücklich genannt, nämlich als Gutachter dafür, dass es sich bei den nachfolgenden 5000 Messungen, die Baraduc in 15 Jahren durchgeführt habe, nicht um schnöde elektrische, sondern um besondere biometrische Erscheinungen gehandelt habe (Baraduc 1904, 5). Um das zu begutachten, musste Branly Baraducs Theorien gut gekannt haben.»les neurones jouant le rôle des grains métalliques«in dieser Tradition wissenschaftlicher Forschungen an der menschlichen Seele liegt auch das, was Edouard Branly um 1890 in eben demselben Labor entwikkelt hat (Monod-Broca 1990, 171ff). Die Voraussetzungen für sein Gerät sind schnell zu verstehen. Wenn es nämlich psychische Fluida sind, deren Ein- und Ausatmung unsere psychischen Zustände bestimmen, dann bleibt noch das Rätsel aufzuklären, wie unser Körper diese Fluida aufnimmt und wie er sie gegebenenfalls auch wieder an die Umgebung abgibt. Dafür hatte nun nicht Baraduc das Modell und die Apparatur entworfen, sondern Branly: die Branly-Flasche, in welcher»les neurones jouant le rôle des grains métalliques«(204). Ein recht simples Ding, so groß wie ein zu beiden Seiten geschlossenes Reagenzglas, das mit losen Feilspänen aus leitendem Material (grains métalliques) gefüllt war (Abb. 17). Dieses Material aus Eisen-, Zink- und Kupferspänen war im Normalzustand nicht leitend für elektrischen Strom. Die Branly-Flasche wurde in einen Stromkreis geschaltet, der im Normalzustand keinen Strom beförderte, weil die Flasche diesen Stromkreis unterbrach. Erst dann, wenn von außen auf die Flasche elektromagnetische Wellen auftrafen, ausgelöst durch einen Hertzschen Dipol, dann bappten im Flascheninneren die Metallspäne zusammen und wurden leitfähig für einen elektrischen Strom. So stellte sich Branly nun vor, dass die Nerven im Körper funktionieren. Fluida treffen auf sie, und dann zünden die Nervenreize. Sind chaotisch viele Fluida um uns herum aktiv, dann leiten alle Nervenfläschchen im Körper Nervenströme und wir werden verrückt. Wieweit Branly im technisch-physikalischen Sinn je verstanden hat, was er entdeckte, ist in der Forschung bis heute umstritten (Blondel 1993; Cazenobe 1993). Sicher ist nur, dass Branly auch nach seiner revolutionären Flaschen-Konstruktion ein sehr genauer und selbstpräsenter Beobachter aller spiritistischen Seance-Experimente blieb, die z.b. am l Institut Général psychologique zwischen 1905 und 1908 unternommen wurden. Aber da war er nicht allein, sondern mit ihm z.b. die Nobelpreisträger Marie und Pierre Curie (Monod-Broca 1990, 217). Bis heute wird Branly in Frankreich als Vater des Radios (mit eigenem Museum) geehrt. Aber eben nur in Frankreich. Und daran ist soviel richtig, dass

73 PARIS, LIVERPOOL, KRONSTADT, BOLOGNA 53 es bis zum Branlyschen Fläschchen mit seiner leidlich passablen Detektorfunktion kein Empfangsgerät für die Hertzschen Wellen gab. Denn, wie Hertz selbst, mit Drahtgestellen durch die Landschaft zu laufen, um mit einem mikroskopischen Okular winzige Fünkchen zu entdecken, das war technologisch unbrauchbar. Anders das, was Branly auf knapp zwei Seiten als»variations de Conductibilité sous Différentes Influences Électriques«beschrieben hatte, 1890 veröffentlicht in den»comptes Rendus«der»Academie des Sciences«. Lodge's Kohärer-Augenexperiment Das las die wissenschaftliche Welt, das las auch der Maxwellianer Oliver Lodge. Er war es, der das kleine Ding den»kohärer«taufte und wer war denn schon dieser Branly? für seine eigene Entdeckung ausgab. Als im Januar 1894 Hertz mit nur siebenunddreißig Jahren starb, setzte Lodge den Kohärer in einer wissenschaftlichen Demonstration zu Ehren des verstorbenen Heinrich Hertz 1894 erstmals ein. Auch Lodge wollte damit nun keineswegs elektrische Signalübertragung demonstrieren, sondern schloss sich dem paraspiritistischen Kontext der französischen Herkunft des Ganzen auf seine Weise an. Nur dass er keine exotischen Theorien wie die fluidale Bilanztheorie des Hippolyte Baraduc entwikkelte, sondern sehr viel einfacher behauptete, mit dem Kohärer zeigen zu können, wie das menschliche Auge neurologisch gesehen funktioniert. Als Maxwellianer war ihm nur allzu bekannt, dass das Licht aus nichts anderem als elektromagnetischen Wellen besteht. Und folglich bestand das Ziel seiner Experimentation von 1894 darin, den Mechanismus zu zeigen, wie Wellen, die unsere Augen treffen, zu Nervenimpulsen im Gehirn führen: am Beispiel von einem Funkeninduktor auf der einen Seite des Gartens und einem Kohärer-Empfangs- Nervenmodell auf der anderen. So sollte es auch mit der Retina funktionieren, die, angeregt durch elektromagnetische Impulse, Strom ins Gehirn leitet. Der Kohärer war für Lodge, wie Crookes ein Verfechter der Existenz elektromagnetischer Gedankenübertragungen, eine technisches Analogon für deren Möglichkeit, ein symbolischer Stromschalter in die Hirnrinde sozusagen. Mit Telegrafie hatte die Sache 1894 jedenfalls nichts zu tun (Hong 1994). Die Funktion des Kohärers im Prinzip: Ein elektromagnetischer Energieimpuls trifft auf lose zusammenliegendes Material, das sich durch die Impulsenergie ausrichtet und so im Inneren des Kohärer-Behälters eine geschlossene Stromleitung erzeugt, die zum Beispiel ein elektromagnetisches Relais auslösen kann, um eine Glocke zu schlagen. Mit dem Kohärer war also aus dem Empfang einer Welle eine pure Impuls-Schaltung geworden. Elektromagnetismus wurde zum Impuls umgedeutet, und zwar völlig unabhängig von seiner Wellenform und seiner gegebenen Frequenz. Der Kohärer empfing nicht frequenzabhängig und konnte deshalb auch keine Frequenz von einer anderen unterscheiden. Der Kohärer war stattdessen die erste technische Schaltung im Reellen, ein Null/ Eins-Gerät, ein halber Flip-Flop-Schalter, aber eben nur ein halber, denn nach

74 54 DAS AUFGELASSENE EXPERIMENTIERGERÄT dem Empfang eines Impulses musste der Kohärer-Inhalt mit einem Hammer wieder lose geklopft werden, um den Stromkreis wieder zu unterbrechen. Die Antenne Dass die durch den alten Hertzschen Funkengeber, den Rühmkorff, ausgelöste Welle, weil sie Frequenz ist, auch eine elektrische Kraft darstellt, ein purer Impuls also, der messbar wird durch die Wirkung auf ein Fläschchen voller Metallspäne diese simple Botschaft, via Veröffentlichungen der Berliner Akademie auch in Liverpool und London 1888 bekannt gemacht, wurde von der Schulphysik nicht aufgegriffen. Er passte nicht in das Paradigma ihrer Fragen. Also geschah die Rezeption von der Peripherie her, von den Rändern des Diskurses, dort, wo er ausfranst und verbunden ist mit unvordenklichen Nebenfragen. So kommt Alexander Popov ins Spiel, Lehrer an der zaristischen Torpedo- Schule in Kronstadt. Er hatte, abgeleitet aus Franklins Blitzableitern des 18. Jahrhunderts, die fixe Idee realisiert, mittels langer Eisenstangen, tief ins Erdreich verbuddelt, heraufziehende Gewitter vorherzusagen. Mit einer Hertzschen Empfangs-Gerätschaft, nämlich den Drahtgestellen, die winzige Funkenüberschläge zeigen, wenn eine elektromagnetische Kraftwelle auf sie trifft, hatte er aufziehende Gewitter Stunden zuvor anzeigen können konstruierte er solche Drahtgestelle, dann unter Hinzunahme des Branlyschen (von Lodge requirierten) Kohärers (Aitken 1985, 193). In der Königlichen Marine Englands hatte Captain Henry Jackson bereits küstennah operierende Schiffe mit solchen Gerätschaften ausgestattet. Die Popovsche Antennenkonstruktion ging in wenigen Jahren um die Welt (Radovsky 2001). Marconi Die Veröffentlichungen der Antennenexperimente Alexander Popovs aus Kronstadt und Oliver Lodges Experiment von 1894 waren selbstredend auch im Hause des Professor Righi in Bologna bekannt. Sein Haus lag neben dem der Familie eines blutjungen Mannes, der, als unausgebildeter Physiker, getrieben von einer ehrgeizigen Mutter und ausgestattet mit einem blitzgescheiten Geschäftssinn, die Entwicklung des Radios tatsächlich in Gang brachte. Die Rede ist von Guglielmo Marconi, Jahrgang 1874, zu Zeiten von Branlys Veröffentlichung also 16 Jahre alt, zu Zeiten von Lodges Augen-Funk-Experiment gerade mal zwanzig. Zwischendurch war er durch die Aufnahmeprüfung fürs Physikstudium gefallen und gehörte auch später nie zu irgendeiner wissenschaftlichen Forschergemeinschaft. Zusammen mit einem der besten Physiker seiner Zeit, Ferdinand Braun, bekam Marconi für seine Erfindungen, die ausnahmslos nicht von ihm stammten, den Nobelpreis. Weil alles, was Marconi umgab, von Anfang an ein einziger geschäftsmäßiger Presse-Rummel war, ran-

75 DAS OHR ALS KRIEGSGERÄT 55 ken sich um seine Person unzählige Legenden, die vor allem von ihm selbst wieder und wieder um- und neugeschrieben wurden. So dass man, aus heutiger Sicht, kaum noch herausfinden kann, was an den vielen Marconi-Legenden wahr ist und was falsch. Soviel ist sicher: Marconi, Sohn einer reichen Erbin aus der Whiskey-Dynastie der irischen Jameson's, hat es mit achtzehn nicht auf die Uni geschafft und hatte gleichwohl von seinem Lehrer Augusto Righi, der auch der Nachbar des elterlichen Hauses war, genug gelernt, genug erfahren und genug Wissen erworben, um jene Gerätschaften zusammen zu basteln, die für eine drahtlose Übertragung elektrischer Impulse zu seiner Zeit existierten. Das tat er, wohl mit Hilfe von Righi, der alle Hertz'schen Experimente in seinem Labor nachgebaut hatte (Righi 1897), im weitläufigen elterlichen Marconi-Garten. Der professorale Nachbar spendierte einen leistungsfähigen Funkeninduktor, Marconi vergrub seinerseits ein paar Meter dickes Kupferkabel in die Erde und spannte das andere Ende an einen hohen Baum, baute Lodges Kohärer nach (oder bekam einen aus Righis Labor), und hatte damit das nötige Equipment beisammen, das für Radiotelegrafie über ziemlich weite Strecken, einige Dutzend, einige hundert Meter weit, ausreichend war. Seine Eltern waren reich, seine Mutter ehrgeizige Engländerin und der Nachbar ein Professor. Solche Zufälligkeiten, solche Kontingenzen sind es, die zuweilen den Übergang von Epistemologie in Technologie möglich machen. Denn mit diesem jungen Mann, einer Mischung aus Steven Jobs und Bill Gates der Elektrizität, einer Mischung aus technischem Findungsreichtum und großer Geschäftstüchtigkeit, mit diesem Pionier der Radiogeschichte sind wir nicht mehr in der Physik, sondern in der Neuzusammensetzung von verschiedensten Instrumentarien ihrer Experimentation, die sich zum Medium Radio nun gesellschaftlich fügen. DAS OHR ALS KRIEGSGERÄT Zur Verdeutlichung sei ein Lacansches Schema bemüht: Nirgendwo deutlicher als an der Technikgeschichte des Radios kann man sehen, wie aus einem physikalischen Experimentalaufbau, also einer Funktion des Imaginären im Reellen der Elektrizität, von seinem symbolischen Kontext (dem Diskurs der Gleichungen und Theorien der Physik) abgelöst, ein unrückholbares technisches Medium wird. Diese Unrückholbarkeit ist offensichtlich im physikalischen Experimentiergerät und in einer neuen physikalischen Instrumentation begründet. Sie liegt in dem Reellen ihres Operierens und sonst nirgendwo: Die Sache läuft, egal warum. Marconi jedenfalls konnte sie nicht erklären, anfangs schon gar nicht. So also müssen wir nicht lange über Marconi reden, denn über lange Zeit sind selbst noch seine großen Interkontinentalversuche ganz eng am Hertzschen Aufbau orientiert. Noch einmal zusammengefaßt: Marconi nimmt aus den Versuchsaufbauten des Kurzwellen-Labors von Augusto Righi mit in den väterlichen Garten: den Funkenerzeuger (ein Rühmkorff, wie Hertz ihn

76 56 DAS AUFGELASSENE EXPERIMENTIERGERÄT benutzte), den Kohärer von Branly/Lodge und die Blitzableiter-Antenne Alexander Popovs aus Kronstadt. Marconis einzige Neuerung in diesem ansonsten allbekannten Geräteaufbau war, nun auch die Sendeantenne zu vergraben. Diese Idee, die Antennen-Kabel zu vergraben (also zu erden), ist durch keine Theorie induziert, sondern ein Effekt des Bodens, auf dem der emsige Bastlerjunge zu Hause ist, nämlich im Riesengarten seines elterlichen Anwesens. Erst jetzt kamen Wirkungen Hunderte von Metern weit zustande und sogar über Hügel und Hindernisse hinweg. Mit dieser Gerätschaft entdeckte Marconi, der Nichtphysiker, jene Mittelund Langwellen, für die sich die zeitgenössische Physik nicht interessierte. Das heißt, er entdeckte sie nicht, sondern benutzte sie. Marconi geht, ohne dass er es weiß und nur auf der Basis von Experimentalgerät, das aus kontigenten Gründen in seinem Garten landete, den Weg ans andere Ende des elektromagnetischen Spektrums. Mit langen Wellen, durch lange Antennen Marconis erzeugt, experimentiert in der Physik, bis Marconis Erfolge es dann nötig machten, niemand. Seekabel England, die Großmacht des 19. Jahrhunderts im Status vergleichbar mit Amerika in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert England lebt um 1890 von seinem Seekabelnetz. Also vom überseeischen Transport von Signalen. Seekabel zu haben England hielt 70 Prozent aller Seekabel der Welt in Besitz und Funktion hieß für das viktorianische Imperium, den alleinigen Schlüssel zu einer kolonialen Weltmacht zu haben. Die Präpotenz des»all Red Cable«verband das Empire mit all seinen Kolonien und hielt damit zu den Orten seiner Rohstoffe Kontakt, und das in einer Geschwindigkeit, gegen die keine andere Macht etwas Vergleichbares aufbieten konnte. Ganz zu schweigen von der seekabelgestützten Vormachtstellung im internationalen Finanzsystem aufgrund der Informationsvorsprünge, die die Kabel in Bezug auf die Börsenmärkte verschafften. Dieses»All Red Cable«, dieses erste weltweite Informationsnetz, besitzen, hieß 1877 Königin Viktoria zur Kaiserin von Indien küren, 1881 Afghanistan, das südafrikanische Burenland, Cypern und das Zululand annektieren, Alexandria beschießen und Ägypten besetzen. Das Paradigma der Seekabel-Telegrafie ist das Paradigma der weltweiten Expansion der Befehle. Dass zu Beginn auch die viktorianische Universitäts-Physik, und zwar in der expliziten Gestalt ihrer überragenden Lichtgestalt William Thomson, dem späteren Lord Kelvin, in diese imperiale Seekabeltechnologie tief verstrickt war, darf nicht überraschen. William Thomson, ein Telegrafeningenieur, aus dem einer größten theoretischen Physiker des 19. Jahrhunderts wurde (Smith 1989), hatte seinen Adelstitel»Lord Kelvin«nicht wegen seiner theoretischen Werke bekommen. Der Grund war vielmehr sein äußerst praktisches Spiegel-Galvanometer, das noch die feinsten Ströme in den Seekabeln sicher in wertvolle Information verwandeln konnte.

77 DAS OHR ALS KRIEGSGERÄT 57 Elektrische Telegrafenkabel durch den Atlantik zu verlegen war Mitte des 19. Jahrhunderts ein ebenso großes Projekt wie Mitte des 20. die Mondlandung. Weshalb auch ein Autor wie Jules Verne sich die erste Verlegungsreise nicht entgehen ließ. Auch William Thomson war 1858 mit an Bord des Kabel-Dampfers von Irland nach Neufundland (Sharlin 1979, 141). Sein Thomson-Gesetz, eine Quadratformel für Impuls und Kabelwiderstand, die genau auf sein Galvanometer abgestimmt war, war jenes grundlegende Patent, welches eine telegrafische Buchstabenfrequenz von 3 ½ Sekunden oder nach heutiger Rechnung schmale 0,28 Byte per interkontinentaler Sekunde erlaubte, das sind 200 Botschaften à 20 Worte pro Tag, bei 30 Shilling pro Botschaft sind das 1,1 Millionen Pfund Umsatz pro Jahr pro Kabel. Darum wurde aus William Thomson Lord Kelvin. Gleichwohl: Die Seekabel, als die dann lagen, wurden immer fehlerhafter. Seltsame Verzögerungen der Signale belasteten den Informationsverkehr schon von Beginn an. Ich komme, weil es für die amerikanische Radiogeschichte von Bedeutung ist, darauf zurück. Tatsache war, dass oft genug selbst die einfachsten Codes nur unleserlich auf der anderen Seite ankamen. Erklärungen für diese sogenannten Selbstinduktionseffekte hatte die theoretische Physik im viktorianischen Britannien zwar schon. Aber keine Lösungsvorschläge. Gar keine. Preece Marconi stellt seine Gerätschaft die Mutter stellt alle Kontakte her zunächst bei italienischen Regierungsstellen vor. Sie winken nur unverständig ab. Also wird der junge Marconi, mit all seinen Gerätschaften aus dem väterlichen Garten im Gepäck, von seiner Mutter nach London geschickt, im Jahr Er soll sich William Preece vorstellen. William Preece, Offizier und gelernter Telegrafie-Ingenieur, ist auch Mitte der 1890er Jahre der Allein-Verantwortliche für alle Seekabel des Imperiums. Ihn, den Chef des Informationsimperiums, interessieren weniger die Größe dieser Macht, als vielmehr ihre unerklärlichen Fehler. Preece selbst hatte nicht die blasseste Ahnung, woher die Störungen in seinen Seekabeln rührten. Die große Physikelite, Lord Kelvin, Tait, Fitzgerald, auch Oliver Lodge, hatten nur Theorien. Vor allem den Maxwellianern stand der Praktiker Preece deshalb mehr als reserviert gegenüber. Diese theoretisierenden Mathematiker obskurer Wellen boten angesichts anhaltender Selbstinduktionseffekte, die täglich den Verkehr in den 170 tausend nautischen Seekabel-Meilen störten, und für die Preece geradestehen musste, nur abstrakteste Theorien an. Fakt war: Von den 14 transatlantischen Kabeln funktionierten 1896 nur 12, und auch die nur eingeschränkt (Bright 1898, 153). Selbstinduktionseffekte sind Ströme, die durch Ströme erzeugt werden, indem sich in den Kabeln unter Wasser um die Kabel herum Magnetfelder aufbauen, die wiederum Ströme induzieren, und damit die gege-

78 58 DAS AUFGELASSENE EXPERIMENTIERGERÄT benen Impulse, die durch die Kabel übertragen werden sollen, bis zur Unkenntlichkeit verzerren und teilweise sogar auslöschen. Für Preece, der sich für einen»practician«(baker 1976, 210) hielt und selbst schon mit Induktionseffekten und kilometerlangen Kabel quer durch die Bristol- Bay herumexperimentiert hatte, ging es bei dem, was dieser junge Wilde namens Marconi da im Gepäck hatte, nur um Fakten. Woher er das Zeug hatte, war Preece egal, welche Theorie dahinter stand, auch. Schaffte es dieser junge Mann, Telegrafiesignale drahtlos in Abständen von Seekabellänge zu überbrücken, gut. Wenn nicht, auch gut und auf Nimmerwiedersehen. Der junge Marconi baute auf und verblüffte. Zunächst ein paar Meilen innerhalb Londons, dann im Mai 1897 über den Bristol-Kanal (Aitken 1985, 217), eine Strecke, an der selbst Preece schon mehrfach gescheitert war. Danach zog Preece einen Schlußstrich, der für die weitere Techno-Ökonomie des Mediums entscheidend sein sollte. Der Leiter des»british Post Office«, selbst seit zwei Jahrzehnten erfolgloser Herr eines königlich-beamteten Entwicklungslabors, schloss diesen Laden und entließ seine so erfolglosen Mitarbeiter, die von diesem jungen Spund so gründlich düpiert worden waren. Preece riet Marconi zur Gründung einer privaten Firma,»The Marconi Wireless Telegraph and Signal Company Limited«1897, welche sich fortan alle wichtigen Patente der Radioentwicklung verschaffte und im Dienste des englischen Militärs erfolgreichst ausbeutete. Marconi Company Lange Zeit wird Marconi behaupten, dass seine geerderte Antennen Wellen ausstrahlen, die nichts mit Hertz zu tun haben. Im Gegenzug wanderten der Hertzsche Versuchsaufbau, samt Righi-Erweiterung, Popov-Antennen und Lodge- Kohärer, als Marconi-Patente in britische Akten. Marconi ist in der Tat der Gründer des ersten militärisch-industriellen Komplexes, immer ein freier Mann und immer im Dienste des Militärs. Mittels solcher militärisch-industrieller Komplexe wird die Entwicklung des Mediums auf der ganzen Welt vor sich gehen: in England mit der Royal Navy plus Marconi und seinen Companies, in Deutschland mit Reichswehr plus Telefunken, Lorenz und AEG, in Amerika mit der Navy plus AT&T. 4 Der Erste Weltkrieg war auch ein Krieg dieser konkurrierenden Firmen, und das folgende Unterhaltungsradio ist auf allen Seiten der erste große Return of Invest, um ihre im Krieg verausgabten Gelder zu amortisieren. Aber da das Ganze ja ein britischer Staatsbeamter namens William Preece angezettelt hatte, bildete 1907 das britische Unterhaus einen Italien-kritischen Untersuchungsausschuss, untersuchte den Fall und sprach eine Rüge aus (Aitken 1985, 225). Der Siegeszug der Marconi-Company ist nicht aufzuhalten: Im März 1899 gehen die Wellen erstmals über den englischen Kanal nach Frankreich. Die 4. Vgl. 1919, Navy-Bill, Seite 183ff.

79 DAS OHR ALS KRIEGSGERÄT 59 radiotelegrafische Ausrüstung der Britischen Befehlszentrale im Burenkrieg von 1898 ist der erste Einsatz im blutigen Kampf. 1900: Ausstattung von 26 Kriegsschiffen und 6 englischen Küstenstationen (Aitken 1985, 232). William Preece hatte natürlich von Anfang an Marconis wissenschaftliche Unbedarftheit gesehen, die dennoch die erwachsene Physikerwelt düpieren konnte: Ein Jüngling schaffte, was die ehrwürdigen Wissenschaftler nicht zustandebrachten! Aber schließlich will er Marconis Erfolge auf Dauer sichern und muss daher gegen dessen Unwissen angehen. Er überredet Marconi, einen erfahrenen studierten Physiker und Ingenieur vom Londoner University College in die Firma mitaufzunehmen. Ambrose Fleming, Jahrgang 1849, betritt die Bühne und sollte einer der wichtigste Radiotechniker des Mediums werden. Mit seiner Hilfe kann Marconi mit das ins Werk setzen, was Lord Kelvins Seekabel ein halbes Jahrhundert zuvor berühmt gemacht hatte, nämlich die Herrichtung einer transatlantischen Telegrafie-Verbindung zwischen England und Neufundland, nur eben jetzt drahtlos. Poldhu Das war im Dezember 1901, das legendäre erste interkontinentale Funk-»S«, ein Did-Did-Did, ein dreimaliges entsetzlich verrauschtes Zwitschern aus Poldhu, Neufundland, das so schwach war, dass nicht einmal Marconis Kohärer ansprach und Marconi sich und ein paar Presseleuten zum Beweis die Kopfhörer aufsetzen musste. So steht es dann in den Zeitungen, und so wird ab jetzt das Ohr ein Empfangsorgan für Schaltknackse aus elektromagnetischen Befehlsstationen. Marconi wird diese Ohren, nebst Menschen, jahrzehntelang in seinen Schulen drillen; aus dem atmosphärischen Rauschen und Knacksen die richtigen Knackser, also Signale einer Marconi-Anlage, herauszuhören, dazu bildeten die Marconi-Companies ein Heer von Spezial-Telegrafisten heran, die ab 1914 zunächst allen Kriegsparteien auf allen Seiten dienen durften. Marconis Strategie: mehr elektrische Funkenkraft, größere Antennen, längere Wellen, höhere Reichweiten der Impulse. Dabei durfte lange Zeit theoretisch völlig unklar bleiben, warum seine riesigen Antennenanlagen eigentlich funktionierten, also wieso Langwellen am hellichten Tag der Erdkrümmung folgen? Ambrose Fleming, der Mann fürs Wissenschaftliche bei Marconi, gab dazu klugerweise bis 1916 keinen Kommentar. So beginnt, ab 1901, über kilometerlange Langwellen mit interkontinentalen Reichweiten der Radioruf. Aber über lange Jahrzehnte wird in Europa unklar bleiben, ob es aus dem Radio ruft, oder ob das Radio ruft.

80 60 DAS AUFGELASSENE EXPERIMENTIERGERÄT DIE RADIO-RÖHRE UND DER GESANG OHNE HEIMAT Nicht alle aber waren 1901 mit der am Menschenohr gefunden Empfangsstrategie zufrieden, am wenigsten logischerweise Marconis Haus-Physiker Ambrose Fleming selbst. Sich auf Menschen und ihre Ohren zu verlassen, ist nie Sache der Physik gewesen. Und dann diese schmerzliche Peinlichkeit der Marconi- Technologie, dass ausgerechnet zwischen England und Neufundland der Kohärer, das bis dahin leidlich passable Empfangsgerät, ausgefallen und für solche Entfernungen ganz offensichtlich unbrauchbar war. Stattdessen jetzt dem Menschenohr trauen? Diesem hochirrtümlichen Organ, dessen Beschreibung jedem Physiker aus Helmholtz»Lehre von den Tonempfindungen«seit den 1860er Jahren bekannt war? Für die Physik war Seekabelempfang, seit Lord Kelvins Zeiten Ausschlag von Zeigern oder Schaltung von Strom, aber doch wohl nicht Knackser im Ohr. Der Edison»Effekt«Der Technikhistoriker Hugh G. Aitken vermutet, daß Ambrose Fleming sich nach dem (peinlichen) Sensationserfolg der Atlantiküberquerung von drei heftigen Knacksern im Ohr ab 1901 ernsthaft nach einer Alternative zum Kohärer umschauen musste, weil dieses Gerät sich für transatlantische Signale als unzuverlässig erwiesen hatte. Aus diesem Grund muss er sich eines Geschenks erinnert haben, das ein Geschenk eines Geschenks gewesen war und eigentlich schon acht Jahre verstaubt in seinem Laborschrank herumstand. Es waren zwei größere Glasbirnen, die der schon vielfach erwähnte Chef aller Seekabel Englands Sir William Preece von keinem geringeren als Thomas Alva Edison geschenkt bekommen hatte (Aitken 1985, 209). So klein kann die Welt sein, wenn es darum geht, die Radioröhre zu erfinden. Denn um nichts anderes geht es. Bekannt ist, dass Edison neben Phonograph und Filmprojektoren auch die Glühbirne erfunden hat, den glühenden Wolframfaden in den leidlich vakuumierten Glasbirnchen, der unsere Zimmer noch heute hell macht. Auf dem Wege zu dieser großen Nützlichkeit hatte Edison, Nicht-Mathematiker wie Faraday und Nicht-Physiker wie Marconi, zunächst einmal jahrelang mit allen möglichen Glühfäden experimentiert, welche (bis er schließlich auf Wolfram kam) in der Regel Ruß auswarfen und seine Birne früher oder später von innen schwarz werden liessen. Um diesen leidigen Glühfadenauswurf zu analysieren, schmolz Edison 1880 einen weiteren dünnen Draht in seine Birne ein und stellte sodann überrascht fest, dass zwischen diesem dünnen Draht, der frei über dem Glühfaden hing, und einem Pol der Glühlampe ein Strom floss, und zwar nur dann, wenn er den freihängenden Draht mit dem positiven Pol verband. Wenn der freihängende Draht mit dem Minus-Pol seines Stromerzeugers verbunden war, dann floss nichts. Dieser verblüffende Zufallsfund brachte die Verrußungs-

81 DIE RADIO-RÖHRE UND DER GESANG OHNE HEIMAT 61 frage allerdings kein Stück weiter. Überdies hatte Edison nicht die geringste Erklärung für diesen seltsamen Effekt. Also tat er das, was er immer tat: Er ließ sich seine Zwei-Drahtfadenröhre patentieren, nämlich als ein Gerät der Stärkemessung seiner mit Gleichstrom betriebenen Lampen (überflüssigerweise sozusagen von innen). Die Leute in seinem Labor sprachen vom»edison-effekt«. Abb. 20 Die Edisons Zwei-Elektroden -Röhre (Originalzeichnung ) The Wireless Valve William Preece, der mit Edison gut befreundet war, sah den Effekt 1884 in Amerika, verstand ihn ebenso wenig wie Edison selbst. Warum Edison seine nutzlosen Glaslampen seinem Freund Preece schenkte, ist nicht bekannt. Preece jedenfalls nahm sie mit nach England und verschenkte sie seinerseits an seinen jungen Universitätsfreund Ambrose Fleming weiter, der darüber tatsächlich in den 90er Jahren eine kleine Arbeit veröffentlichte, die in dem rätselhaften Satz mündete, dass vom Glühfaden auf den Draht irgendwie negative Ladung übergehe. Fleming verstaute die Birnen in seinem Laborarchiv und vergaß sie. Was Edison 1883 in der Kontingenz seiner Experimentation gefunden hatte, ohne es zu wissen oder wissen zu können war tatsächlich die erste aller Radioröhren oder mit elektrotechnischem Namen: die Diode. In diesem Ding fliegen negative Ladungen, sprich Elektronen, von dem heißen Glühfaden auf die Anode, und zwar dann und nur dann, wenn dieselbe in einem Vakuum steckt und

82 62 DAS AUFGELASSENE EXPERIMENTIERGERÄT mit dem positiven Pol des Glühfadens verbunden wird. Weder die Birnen noch ihre Funktion waren besonders eindrucksvoll, solange Edison, Preece, Fleming und die halbe Nicht-Radio-Welt es nur mit Gleichstrom zu tun hatte aber waren mit Marconi in Cornwall und Neufundland die langen Wellen da, was übersetzt auf Draht und Antenne hieß: Fleming hatte es mit chaotischen Wechselströmen zu tun, die einstweilen nur noch ein Menschenohr signaltechnisch filtern konnte, was nicht Marconi, aber seinem Physiker mißfiel. Ambrose erinnert sich der Birnen, die positive Ströme messen konnten, negative aber nicht. Also nahm er die alten Birnen aus dem Schrank, das war 1904, schloss die guten Edison-Orginale in einen Antennenkreis auf Empfang und erhielt einen vom Wechselstrom erzeugten gepulsten Gleichstrom, weil damals wie heute Anodenspannung nur durch den Plusanteil des einkommenden Wechselstroms entsteht. So fand Edisons Effekt-Birne als Diode und Gleichrichter, die allererste Stufe der Radioröhre also, 1904 Eingang ins Marconische System. Und so hatte die Physik das Schaltungs- Kommando wieder in der Hand, unabhängig vom trügerischen Menschenohr. Der Anodenpulsstrom an ein kelvinsches Spiegel-Galvanomenter angelegt, stellte die klassische Empfangs-Ordnung wieder her. Flemings Diode wurde Marconisches Patent und wie alles Marconische sofort weltweit bekannt. Und Flemings»Valve«1904 da es von der Diode zur Triode, also von der Gleichrichterröhre zur Verstärkerröhre (ich erspare jetzt alle Einzelheiten) kein großer Schritt ist (es wird lediglich ein weiteres Drahtgitter in die Glasbirne gebracht, das den Flug der negativen Elektronen beschleunigt, also verstärkt), fragt man sich, wieso Ambrose Fleming nicht selbst diesen kleinen Schritt weitergangen war und also man muss sagen, zum Glück die Verstärkerröhre nie ein Marconisches Patent wurde. Die Erklärung ist eine epistemologische, d.h. die Erklärung muss darauf abheben, was Marconi und Fleming wussten, und vor allem, was sie wissen wollten. Beide Strategen der Radiotelegrafie waren an Reichweiten und Verschaltungen, an kontinentalen Signalimpulsen im Dienste ihrer Majestät interessiert. Alles andere war zweitrangig. Fleming hatte es z.b. schon abgelehnt, sich mit solchen obskuren Erfindungen näher zu befassen, die ein gewisser Reginald Fessenden 1903 in Amerika zustandegebracht hatte, nämlich den»alternator«(aitken 1985, 63ff). Der Alternator wird für die amerikanische Radioentwicklung wichtig werden; ich komme später darauf zurück. Hier nur soviel: Der Alternator war ein Stromerzeugungs-Gerät, das wie ein normaler Stromgenerator funktionierte und also (annähernd) sinusförmigen, gleichschwingenden Wechselstrom erzeugte; doch war die Frequenz der Oszillationen (Plus-Minus-Plus ) schnell genug, diesen

83 DIE RADIO-RÖHRE UND DER GESANG OHNE HEIMAT 63 Wechselstrom, jedenfalls zu einem Teil, als Welle in den freien Raum zu entlassen. Audion Statt Marconi oder Fleming hat dann also Lee de Forest, ein von Marconi belächelter Technik-Bastler (der er doch selber war) aus Iowa, im Dezember 1906, also vor hundert Jahren, seine»audion«-verstärker-röhre zum Patent angemeldet (Hijiya 1992). Danach wurde schnell deutlich, dass Lee de Forest sein langes Leben lang im Sinn des physikalischen Wissens nie verstanden hat, was er da, wiederum aus purem Zufall, 1906 in seinem Labor gefunden hatte. Robert von Lieben, ein österreichischer Physiker, fand diese verstärkende Röhrenschaltung drei Jahre später, also 1909, innerhalb einer systematischen Experimentation für Telefunken in Berlin. Alle beide waren orientiert an Flemings und Edisons Vorstufen fügte dann Alexander Meissner in Berlin noch einen Rückkopplungsdraht in die Verstärkerröhren-Verschaltung ein, womit bereits alle wesentlichen Prinzip-Bauteile beschrieben sind, die nach dem Krieg als Radio- Sende- und Empfangsgerät funktionieren sollten. Die Röhre, nicht der Kohärer oder das menschliche Ohr, hat die gewöhnliche Wellenmathematik ins Radio einkehren lassen. Damit wurde Altbekanntes wieder wichtig, wie zum Beispiel die klassische Mathematik der analytischen Mechanik. Die Röhre setzt an die Stelle vom Knallen und Rattern der Impulsfunkensender so etwas wie ein Boot ins Radio, das lautlos, in langsamer Fahrt, auf dem spiegelglatten See seine Wellenkreise hinterlässt. Sprache und Musik sind auf solchen periodisch schwingenden Trägern bekanntlich gut aufgehoben. Und so wuchs, ab 1906, nach der Entdeckung des Röhrenprinzips, ein endemisches Gesinge und Gerede, Gegeige und Geklimpere auf allen erreichbaren, chaotisch unabgestimmten Frequenzen in New York, Boston und Pittsburgh. Hatte nicht Lee de Forest sein Audion-Röhren-Equipment schon an der Stimme von Enrico Caruso ausprobiert und die Pagliacci-Arien am 13. Januar 1910 abends aus dem Metropolitan Opera House übertragen? Und hatte man sich nicht auf Schiffen im Hafen und in Bastelstuben die Kopfhörer zugereicht, um das zu hören? Ja, so war's, und die New York Times titelte am folgenden Tag, so als ahne sie schon, was kommen werde: Radio»The Homeless Song Waves«.»According to its report, one listener, when asked if he heard the singing, replied that he could occasionally catch the ecstasy. «(Barnouw 1966, 27). Radio die heimatlosen Wellen der Gesänge. Das war in Amerika, nicht in Europa. Ich komme darauf zurück.

84 64 DAS AUFGELASSENE EXPERIMENTIERGERÄT DIE RÖHREN UND DER KRIEG Für amerikanische Bastler und Hobbyerfinder, die kein Geld hatten, 1906 oder 1910 in New York, war der Gleichrichter-Baustein namens Kristalldetektor das Beste. Wer ihn hatte, hielt ihn einfach in die Luft und konnte, vorausgesetzt, dass irgendwo in der Stadt De Forestsche Senderbastler unterwegs waren, hören. Aber auch die De Forestsche»Audion«-Röhre war bereits 1907 für einen halben Wochenlohn zu kaufen, womit der Startschuss gegeben war für die schnell wachsende Radio-Amateur-Bewegung in den USA, die in Amerika, nur durch den Krieg unterbrochen, eine so ganz und gar andere Radiogeschichte in Gang bringen sollte als in Europa. Aber auch in Berlin wird 1906 Caruso gesendet. Wenn auch von Schellack- Platten. Und dies geschieht schon gar nicht irgendwie,»homeless«, amateurhaft oder aus purem Vergnügen, sondern staatlich organisiert und von Amts wegen. Alle Aktivitäten der Telefonie und Telegrafie standen im Kaiserreich unter militärisch-hoheitlicher Staatsaufsicht. Die Ingenieure von AEG, Adolf Slaby, Georg Graf von Arco sowie Hans Bredow von Telefunken, waren seit 1896, seit den ersten Marconischen Versuchen, wachsam, hatten alles kopiert und geschickt die Schwachstellen des Marconischen Systems durch eigene Entwicklungen ersetzt. So gab es schon ab 1906 in Berlin einen Lichtbogensender Marke Lorenz-Poulsen, also einen Kontinuitätserzeuger im Elektromagnetischen sowie die von Liebenschen Radio-Röhren. Graf Arco und Ingenieur Slaby, vom preußischen Generalstab und den kaiserlichen Schranzen argwöhnisch beäugt, rückten 1909 endlich aus, um Kaiserin und Kaiser für Sprech- und Hörproben zu begeistern. Die Kaiserin äußerte den Wunsch, Graf Arco auf der unsichtbaren Gegenseite singen zu hören, woraufhin der Graf kommentarlos eine Carusoplatte aufs Grammophon legte. Hans Bredow, damals Oberingenieur bei Telefunken und später Begründer des Deutschen Rundfunks, zitiert die entzückte Verwunderung der Kaiserin und verschweigt die verärgerte Ablehnung des Kaisers. Bredow hat in seinen Memoiren den Werdegang des Deutschen Radios eindringlich geschildert (Bredow 1954). Nach dem Modell Marconis hatte Telefunken ab 1905 in Nauen, Königs-Wusterhausen und Norddeich reichweitenstarke Löschfunkensender gebaut ein deutsches Patent, die mit riesigem Geknalle ins Landesinnere hinein den ganzen Stolz des Kaisers zu befehligen hatten, nämlich zum Beispiel die Schlachtschiffe»Goeben«und»Breslau«, die Kreuzer»Ariadne«und»Köln«, den Panzerkreuzer»Blücher«. Sie alle liegen heute im ewigen Grab vor der chilenischen Küste oder im Skagerak. Der Rest ist den Geschichtsbüchern zu entnehmen: Die Deutsche Flotte blieb im Ersten Weltkrieg wirkungslos gegen die englische Seeblockade, welche ab 1911 mittels Marconischer Funkstaffetten zwischen den Shettlands und Norwegen einen undurchdringlichen Kordon bildeten, der bis zum Kriegsende hielt.

85 DIE RÖHREN UND DER KRIEG 65 Kriegsfreiwillig 1914 kündigt Hans Bredow seinen hohen Posten bei Telefunken und meldet sich zum Entsetzen der Geschäftsführung kriegsfreiwillig, begeistert wie Kaiser und Reich, nicht zur Marine, sondern zum Heer, dorthin, wo der Krieg entschieden werden sollte. Er wird, weil ungedient, zunächst einige Monate in Schlamm und Dreck einer Grundausbildung unterzogen und danach quer durch alle Fronten zu den Nachrichtentruppen geschickt. 1914, sagt er uns, gab es im ganzen Heer»8 Funkerabteilungen mit etwa 40 kriegsbrauchbaren Feldstationen. Während des Krieges neu aufgestellt: 247 Funkerabteilungen mit etwa 2000 Stationen«(Bredow 1956, 12). Eine Vervierzigfachung der Nachrichtentruppen, die vor allem durch aufreibende Stellungsschlachten an der französischen Front erzwungen war. Denn am Anfang des Krieges waren Truppen-Sender noch auf sechsspännigen Pferdekutschen montiert, die in den Morasten der Westfront allesamt verloren gegangen waren.»so ist das Schlachtfeld von Verdun«, schreibt Bredow,»der Geburtsort des Funkenkleingeräts geworden, das in einzelne Traglasten aufgeteilt und, bis in den Kampfgraben vorgebracht, der vorderen Linie... nach rückwärts die Funkverbindung ermöglicht«(33). Aber das blieb graue, euphemistische, todbringende Theorie. Denn je mehr Funken-Sender auf kleinem Raum gedrängt wurden, umso deutlicher wurde Befehl gegeben:»funk-telegafie Gebrauch... unzulässig, größte Beschränkung erbeten«(36), denn das»ausschließlich gedämpfte Funkgerät«, sprich das Funkengeknatter auf breitbandigen Frequenzen,»störte sich gegenseitig nachhaltig«und musste also immer dann, wenn es wirklich gebraucht wurde, außer Betrieb gesetzt werden. Röhrensender waren vom Heer nicht gefördert und nicht angeschafft worden. Der deutsche militärisch-industrielle Komplex, also das kaiserliche Zusammenspiel von Rüstungsindustrie und Militärstrategie, wurde im Ersten Weltkrieg zwar gegründet, aber funktionierte nicht. April bis Ende Mai 1917 erlebt Bredow die brutale, massenmörderische Schlacht an der Aisne und in der Champagne, die mit Hunderttausenden von Toten und ohne jeden Terraingewinn endet. Wie als wolle er der Heeresführung, die bis dahin AEG, Telefunken und Lorenz sowie die röhrengestützte Funktelefonie stiefmütterlich behandelt hatte, zeigen, was hätte gewesen sein können wenn, zitiert der einfache Gefreite Bredow (aber Ex-Telefunken-Chefingenieur) nun eigenmächtig Alexander Meissner aus Berlin heran, den Entwickler des neuesten Röhren-Rückkopplungssenders. Der steht nun auf den eben noch umkämpften Schlachtfeldern und macht mit einer kleinen Einheit Radio, d.h. Wort, Musik, Grammophon und Geige auf abgestimmtesten Frequenzen. Bredow lässt sogar ein Empfangsgerät in ein Auto einbauen, worin er dann Graf Arco und Major Sachs auf dem Versuchsfeld in der Champagne, in der Umgebung von Tausenden gefallener Soldaten, spazieren fährt, und im Auto hören die drei: Grammphonmusik und nette Grußworte aus der nahegelegenen Experimentier-Baracke. Diese Eigenmächtigkeit, begangen mitten in den Stellungs-

86 66 DAS AUFGELASSENE EXPERIMENTIERGERÄT schlachten an der Westfront, bringt Bredow wenig später vor ein Kriegsgericht. Aber da ist der Krieg schon zuende und man spricht ihn frei. Hans Bredow wird noch weitere sechs Jahre warten müssen, bis endlich einer immer noch knappen Mehrheit der preußischen Generalität klar wurde, dass nur die Röhrenempfänger, so klein, dass sie in ein Auto, besser noch in einen Panzer passten, alle Schmach an der Somme und Marne würden ausmerzen können. Hitlers Blitzkriege, ab September 1939, hätten nicht ohne Funk geführt werden können, nämlich auf UKW, in den Panzerbrigaden Guderians, geleitet vom Führungspanzer aus mit Guderian selbst am Kommando-Mikrophon. Aber das wird erst gehen, nachdem ein neuer militärisch-industrieller Komplex voll in Funktion getreten war, finanziert durch das Unterhaltungsradio für die Massen. Von 1923 an wird in Deutschland Radio gesendet (ohne Unterbrechung, bis auf den heutigen Tag). Bredow hatte darauf gesetzt: Für ein Radio, das Massen erreichen sollte, mussten Millionen und Milliarden von Röhren gebaut, verkauft und neu entwickelt werden, in Hunderten von Zyklen der Entwicklung und Produktion. So wurden Radio-Röhren von Anfang an ein unverzichtbarer Bestandteil des militärisch-industriellen Komplexes in Deutschland und Europa.

87 Kulturinstrument Rundfunk Wir verdanken das Deutsche Radio im wesentlichen Hans Bredow, einem ehemaligen Telefunken-Chefingenieur, der als Staatssekretär der Reichspost vor allem die Röhrenindustrie seines alten Arbeitgebers aus der daniederliegenden Elektronikindustrie im Blick hatte, als es darum ging, in Deutschland den Röhrensender und Röhrenempfänger als Massenprodukt einzuführen. BREDOW Man lese in Bredows Kriegsmemoiren nach, was dieser fanatische Pionier unternahm, um im Ersten Weltkrieg die Funktionstüchtigkeit des neuen drahtlosen Mediums unter Beweis zu stellen. Der junge leitende Ingenieur bei Telefunken, verantwortlich für den Bau und die Installation einer Reihe von transkontinentalen Funkstationen (Nauen, Königswusterhausen u.a.) kündigt tags nach der Mobilmachung fristlos, um als einfacher Gefreiter kriegsfreiwillig zu dienen. Drei Jahre später wird er neben den frischen Gräbern der Gefallenen in der Champagne die ersten Röhrensender testen. Das trägt ihm eine Anklage beim Kriegsgericht ein, denn man warf ihm vor, mit Röhrenexperimenten unmittelbar hinter der kämpfenden Front eigenmächtig und befehlswidrig gehandelt zu haben (Bredow 1954, 49ff).»Funkerspuk«In den revolutionären Wirren nach dem Krieg entstanden in Deutschland Arbeiter- und Soldatenräte in verschiedenen Städten des Reiches. Anfang November 1918 hatten zudem auch»die Soldatenräte der Funkertruppen, in deren Hand sich alle militärischen Funkstellen befanden,... zu einer 'Zentralfunkleitung' zusammengeschlossen, um eine von der Regierung unabhängige Telegraphenorganisation zu bilden«(87). Diese revolutionäre Zentralfunkleitung der Soldatenräte (ZFL) erwies sich als das, was sie war: ein Haufen eher unpolitischer, funkversessener ehemaliger Angehöriger der Funkertruppen, also unter Zivilbedingungen: Amateure. Es ging ihnen nicht darum, der Revolution ein unabhängiges Sprachrohr oder gar ein Kampfmittel zu verschaffen. Hätten sie das gewollt, dann wäre ihre Macht, nämlich die Vernetzung aller Militärfunkstellen in Deutschland und damit die Kontrolle über den drahtlosen Nachrichtenverkehr, kein schlechter Trumpf gewesen. Aber im Kern hatten die revolutionären Funker ganz zivile Ziele. Sie wollten, ganz ähnlich wie die kriegsentlassenen Funkamateure in den USA, die neue Technologie der Radiotelegrafie und der Radiotelefonie überhaupt erst einmal in Gang bringen. Im Kriegsdienst hatten sie deutlich genug gesehen, wie wenig die leitenden Stäbe im Chor von dem

88 68 KULTURINSTRUMENT RUNDFUNK neuen Medium verstanden. Die Zentralfunkleitung bezeichnete sich deshalb als»vorkämpfer des Reichsfunkdienstes«und ihre Mitglieder in den Funkräten als»diejenigen, die das deutsche Funkwesen mit ihrer eigenen Hände Arbeit und geistigen Entschlossenheit geschaffen haben«(lerg 1970, 51). Die eben aus dem Krieg zurückgekehrten Militärfunker waren schlicht arbeitslos und suchten für ihr kommendes Zivilleben eine ordentliche Anstellung (49ff). Ihre Wahrnehmung, dass Heeresleitung, Regierung und ihre Bürokratien sich um das neue Medium wenig kümmerten, war völlig berechtigt. Ein Jahr später noch wird Hans Bredow in einer nahezu verzweifelten Rede vor den alten Führungscliquen immer noch Mühe haben, Radio als zivile Technologie durchzusetzen gab es in der Reichspost für die neue drahtlose Technologie nur ein untergeordnetes Referat. Die Militärs, die vier Kriegsjahre lang die Entwicklung sowieso nur mit halbem Herzen betrieben hatten, fielen als Auftraggeber nun gänzlich aus. In diese Lücke wollte die Zentralfunkleitung stoßen im Sinne einer Neuorganisation des deutschen Funkwesens durch eine nicht-staatliche Initiative. Wie wenig umstürzlerisch die Sache war, zeigte sich, als alle beteiligten Parteien, nämlich Vertreter von Reichpost, Innenministerium und Zentralfunkleitung Ende November 1918 im Kriegsministerium zu einer Sitzung zusammenkamen, um die Lage zu beraten. Bredow beschreibt in seinen Erinnerungen, worum bei diesem Treffen im Kern gerungen wurde:»der Initiator der 'Zentralfunkleitung', Ingenieur Meyenburg, ein Zivilangestellter der 'Technischen Abteilung der Funkertruppen', versuchte die Notwendigkeit der Übernahme des Funkverkehrs durch die Funkertruppen mit der Unfähigkeit der Telegraphenverwaltung zu begründen. Die Verwaltung habe bisher nichts für den Funk geleistet, und von den verkalkten Beamten sei auch nicht zu erwarten, dass sie das modernste Nachrichtenmittel entwickeln könnten. Eine Lostrennung des Funkverkehrs vom Drahtverkehr der Reichspost läge deshalb unbedingt im deutschen Interesse«(Bredow 1956, 90). Das Ergebnis dieser Sitzung ist legendär und die Rolle, die Bredow dabei spielte, höchst bemerkenswert. Man versprach der revolutionären Zentralfunkleitung, dass alsbald in der Reichspost eine eigene Betriebsabteilung für das Funkwesen eingerichtet werden sollte. Das konnte Bredow nur unterstützen, denn er selbst sollte wenig später deren Chef werden. Zweitens sagte man die Bemühung zu, in diese neue Abteilung die Zentralfunkleitung»als besondere Funkbetriebs- Verwaltung «einzugliedern. So bot man den idealistischen Revolutionären sichere Beamtenpositionen an und hatte sie mit einem Schlage friedlich gestimmt. Allerdings hielt Bredow dieses Versprechen nie ein. Aber der sogenannte»funkerspuk«war nach dieser Sitzung vorüber. Nicht auf Seiten der Revolutionäre (USPD, Spartakus), wohl aber auf Seiten der konservativen und staatstreuen Beamtenschaft der neuen Republik blieb dieser Spuk noch lange das abschreckende Beispiel für die jederzeit drohende Gefahr einer nicht-staatlicher Verfügung über den Rundfunk und die drahtlosen Dienste.

89 BREDOW 69»Die Eroberung des Äthers«Hans Bredow, deutschnational und kaisertreu, war in diesem Streit zwischen Regierung und Zentralfunkleitung der entscheidende Fachgutachter gegen die ZFL gewesen. Mit seiner eigenen Person und Kompetenz konnte er das Argument von der verkalkten Bürokratie entkräften. Kein Fachargument blieb unwiderlegt. Bredow war ein glänzender Elektrotechniker, ein fähiger Ingenieur, allerdings ohne Berufsabschluss, der die Entwicklung von den ersten Funkentelegrafie-Sendern an kannte, die 1904 in Deutschland versuchsweise gebaut wurden. Er kannte alle Techniken, alle Beteiligten, alle wichtigen Patente und Verfahren. Mit 24 Jahren war er in das Unternehmen eingestiegen, das in Deutschland die technische und technologische Entwicklung sowohl der Radiotelegrafie als auch des nachfolgendes Rundfunks wesentlich bestimmen sollte: Telefunken. Bredow wurde dort mit 25 Jahren Abteilungsleiter und stieg mit dreißig zum stellvertretenden Unternehmenschef auf. Wie alle Pioniere des drahtlosen Funk, war Bredow ein Besessener.»Mein Ziel war die Mitarbeit an der Eroberung des Äthers«(Bredow 1954, 24) schreibt er immer noch voller Pathos Mitte der fünfziger Jahre in seiner Autobiografie und bekennt, auch nach fünfzig Jahren»beim Hören eines Musikstückes im Rundfunk oder bei einer Darbietung auf dem Bildschirm zuerst immer wieder aufs Neue das große Wunder«(29) zu empfinden. Von seiner formalen Bildung her war Bredow als gelernter Elektrotechniker ohne abgeschlossenes Studium für die neue Technik so gut qualifiziert wie tausend andere. Abgesehen von seiner Stellung in einem großen Unternehmen unterschied ihn wenig von der Kompetenz und Besessenheit eines Amateurs. Nur hatte er das Glück gehabt, in jungen Jahren zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle gewesen zu sein. Nicht gerade ein Steve Jobs, aber in gewisser Weise, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, ein deutscher Bill Gates seiner Zeit. Hans Bredow wusste sehr genau, welche umfassenden Kenntnisse und Qualifikationen Radioamateure in Sachen Funktelegrafie kurz nach der Jahrhundertwende um 1900 durch ihre unermüdlichen Basteleien sich hatten erwerben können. Guglielmo Marconi, über dessen erste Funkversuche die Radiotelegrafie in Europa ab 1896 in Verbreitung kam, war selbst ein blutiger Amateur und erst Anfang zwanzig gewesen. Bredow wusste um das Amateurhafte der frühen Entwicklung des Radiomediums, aber als Unternehmensboss eines großen deutschen Konzerns stand er strategisch auf der anderen Seite. Anders als in den USA, wo es nach dem Krieg zu einer Allianz zwischen den Zehntausenden Funk-Amateuren und der Elektroindustrie gekommen war, widerstrebte es dem Unternehmensführer in Deutschland offenbar zutiefst, auf die Selbstorganisation von Amateurradiofunkern zu setzen oder sie zu befördern. Bredow kannte die internationale Szene und wusste, wie verbreitet in England und Amerika die amateurhafte Funk-Bewegung war. In Deutschland blieb es dagegen strikt verboten, mit solchen Techniken privat zu experimentieren.

90 70 KULTURINSTRUMENT RUNDFUNK»Erst im Ersten Weltkrieg [haben] Hunderttausende die Bedeutung der Technik und die Vorteile einer gewissen Handfertigkeit kennen gelernt.... Aus diesen Kreisen ist in allen Ländern die große Amateur-Bewegung der Nachkriegszeit entstanden«(bredow 1956, 186).»Radio Big Business«Aus einer Massenbewegung von zehntausenden von Radioamateuren entstand in den USA ab 1920 der öffentliche Rundfunk. Es ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich, wie Bredow diese Tatsache von Beginn an abwertete. Ohne die rigorose Verbotspolitik in Deutschland und anderen europäischen Staaten, auch in England, hätte diese Entwicklung ebenso bei uns stattfinden können.»zuerst begannen amerikanische Amateure bald nach Kriegsende mit der Aussendung von Schallplattenmusik über kleine Versuchssender, die von den an Zahl immer mehr zunehmenden Amateur-Empfängern aufgefangen wurden. Bald wurden auf diesem Wege auch bezahlte Reklamenachrichten verbreitet, um die Sendekosten zu decken. Hieraus hat sich schließlich der amerikanische Werbefunk entwickelt. Während wir uns in Deutschland über die kulturellen und politischen Aufgaben eines Rundfunks den Kopf zerbrachen, erkannten die amerikanischen Kollegen schon die geschäftlichen Möglichkeiten. Wie die Amerikaner dieses Problem auffassten, geht schon daraus hervor, dass das umfangreichste Werk jener Zeit über den Rundfunk nicht etwa den Titel führt Rundfunk als Kulturmittler oder Rundfunk als politische Macht, sondern bezeichnenderweise Rundfunk als großes Geschäft ( Radio big business )«(Bredow 1956, 186). Interessant ist nicht nur, dass, sondern wie Bredow die historischen Zusammenhänge verwischt. Das Buch, auf das er anspielt, stammt nicht aus den Anfangzeiten der Radioentwicklung, sondern aus dem Jahre Es erschien fast zwanzig Jahre nach der US-Radiogründung. Es hieß nicht»radio Big Business«sondern»Big Business and Radio«(Archer 1939). Leonard Archer hatte hier in der Tat eine erste große Historie des amerikanischen Radios zusammengetragen und zwar zu einem Zeitpunkt, als das Radio in den USA als Massenmedium etabliert war. Zeitgleich herrschte in Deutschland der Nazi-Faschismus, der seinen Siegeszug nicht zuletzt der Nicht-Etablierung des Radios als Massenmedium verdankte, aufbauend auf Bredows falschen Radio-Direktiven zu Beginn der 20er Jahre. Archers Buch schildert überdies die Kommerzialisierung des US- Radios kritisch genug. Es gab in den USA langanhaltende Debatten über das Verhältnis von Kommerz und Radio, mit entsprechenden Beschränkungen und Gegenmaßnahmen. Sie reichen fort bis in die späten 90er Jahre und sind gerade heute wieder hochaktuell.

91 »DER INDUSTRIE EIN NEUES TÄTIGKEITSFELD «71»DER INDUSTRIE EIN NEUES TÄTIGKEITSFELD «Nicht wenige Zeitgenossen des Jahres 1923 waren fassungslos. Das Radio sollte in Deutschland nun also beginnen, in der schlimmsten Inflation, inmitten einer völlig bankrotten Wirtschaft, inmitten schwelender und offener Bürgerkriegszustände und bei verheerender Arbeitslosigkeit?»Es drängt sich die Frage auf«, muss selbst Bredow 1923 einräumen,»... ob eine derartige Einrichtung eine Lebensnotwendigkeit für Deutschland ist und ob es berechtigt ist, jetzt Neuerungen einzuführen, die nicht unmittelbar dem Wiederaufbau dienen. Das deutsche Volk ist wirtschaftlich verarmt. Es ist nicht zu bestreiten, dass auch die geistige Verarmung Fortschritte macht. (...) Ein freudloses Volk wird arbeitsunlustig. Hier setzt die Aufgabe des Rundfunks ein, und wenn es auf diese Weise gelingen sollte, allen Schichten der Bevölkerung künstlerisch und geistig hochstehende Vorträge aller Art zu Gehör zu bringen, wenn gleichzeitig der Industrie ein neues Tätigkeitsfeld eröffnet und damit neue Arbeitsmöglichkeiten geschaffen werden, dann wirkt der Rundfunk aufbauend, und das deutsche Volk hat ein Recht auf ihn.«(bredow 1956, 217.) Kulturinstrument Das Deutsche Radio begann als Kulturradio mit einem klassischen Kulturauftrag. Unterhaltung als Pflege des Brauchtums in Musik und erbauliche Vorträge ein traditioneller, ein hegender Kulturbegriff. Damit verbunden der selbstgesetzte Bildungsauftrag mit Hörspielen, die gekürzte Theaterstücke boten und Übertragung von Konzerten aus dem Konzertsaal. Das Programm so auszulegen, hatte bei Bredow seine guten Gründe. Denn noch im September 1923, einen Monat vor dem Start, hatte das Reichsinnenministerium versucht, den Rundfunk als ein zentralstaatliches Organ unter seine Kontrolle zu bringen. Wäre das gelungen, der Deutsche Rundfunk wäre ein sehr viel politischeres, aber vermutlich völlig regierungsabhängiges Organ geworden. Hans Bredow wusste, dass sich unter der Führung des Innenministeriums keine privaten Gesellschaften würden finden lassen, die den Betrieb von Radiosendern überhaupt in Angriff genommen hätten.»wurde der Rundfunk als Instrument der Politik betrachtet, so war das Reichsministerium des Innern federführend«, schreibt Bredow.»Wurde er aber als Kulturinstrument angesehen, dann gab es überhaupt keine zuständige Reichsstelle, da die Kulturfragen zum Bereich der Kultusministerien der einzelnen Länder gehörten«(172). So war es in Deutschland vor achtzig Jahren und so ist es noch heute. Wegen ihrer Kulturhoheit ist Rundfunk seit Weimar Sache der Länder. Die Nazis haben das abgeschafft, die Verfassung der Bundesrepublik nimmt diese Weimarer Tradition wieder auf. Das deutsche Radio kam als»kulturinstrument«in die Welt, aber als antipolitisches. Kultur wurde im Radio im besten Sinn, mit schlechtesten Folgen instrumentalisiert. Es war Bredows Intention, alle aktuellen Bezüge zur sozialen

92 72 KULTURINSTRUMENT RUNDFUNK Wirklichkeit und damit die politische Öffentlichkeit aus dem Radio auszuschließen. Damit wurde indirekt, aber mit verheerenden Konsequenzen, etabliert, was schon der erste große deutsche Radiohistoriker Winfried Lerg Mitte der sechziger Jahre deutlich markieren musste: Im Weimarer Radio herrschte ein obrigkeitstreu und mythisch überhöhtes Verständnis des Staates vor. Der Staat wurde von Bredow und der Bürokratie der Ministerien verstanden als ein absolutistischer Körper der Macht, der in natürlicher Größe über allen Parteien steht. Alle Agierende waren Staatsbeamte, die ihren Eid auf die Staatsfahne leisteten und nicht auf eine Regierung oder gar ihr Parlament. Was die Post und die Publizistik betraf, also Briefe, Bücher, Zeitschriften, Zeitungen und eben auch das Radio, stellte sich auch der Weimarer Staat in die absolutistische Tradition des»postregal«, das in Europa schon zu Zeiten des Buchdrucks eingerichtet worden war. Dieses Postregal»gab der Verwaltung«nun auch»die elektrischen Kommunikationsmittel in die Hand; noch ehe ihre spezifisch publizistischen Möglichkeiten erkannt waren, wurden sie zu öffentlichen Diensten erklärt und ihre Leistungsverwaltung mit hoheitlichen Rechten ausgestattet«(lerg 1970, 307). DAS ÄTHER-PARADIGMA Das Radio wurde in Deutschland (und so in den meisten Staaten Europas) von einer Allianz der Elektroindustrie und der Staatsbürokratie etabliert. Die Personifizierung dieser Allianz: Hans Bredow, zunächst Ingenieur, dann Staatsbürokrat. Gefestigt und getragen aber wurde diese Allianz durch den spezifisch europäischen Horizont einer Epistemologie der Elektrizität, das heißt: durch das Wissen von dem Wissen, das die Wissenschaft und ihre Techniker von dem elektromagnetischen Medium hatten, das es nun aufzubauen galt.»it is now recognised that the universe is filled with a homogeneous elastic yet continuous medium which transmits heat, light, electricity, and other forms of energy from one point to another. The discovery of the real existence of this ether is one of the great events of the Victorian era«(bright 1898, 695) heißt es in einem englischen Seekabel-Lehrbuch von Der Träger der Radiowellen ist der Äther. Das ist für die Gründerepoche des Radios ausgemacht. Die Existenz des Äthers, auch»weltäther«genannt, ist die Basis des Wissens aller Elektroingenieure. Ein absurder Stoff, wie geschaffen für jede metaphysische Spekulation, phantasmatisch in seiner überbordenden Widersprüchlichkeit und deshalb nur in der Verbrämung eines Wissens haltbar, das sich in seinem Namen autoritär abkapselt: unsichtbar, unzusammendrückbar, so hart wie Diamant, dabei durchlässiger als Luft, aber völlig schwerelos, oder jedenfalls doch»unwägbar«. So lesen wir es noch 1924 in dem Radio-Bastler-Laien-Handbuch von Peter Lertes, einem der Gründer von»radio Frankfurt«. Lertes schreibt:

93 KULTURTRÄGER RUNDFUNK 73»Dieser Weltäther ist demnach auch der Träger, der Übermittler der mit den Lichtwellen wesensgleichen elektromagnetischen Schwingungen der Radiotelegraphie und [Radio]-telephonie«(Lertes 1924, 7). Wenn das englische Handbuch sagt, die Entdeckung des Äthers sei eine der größten Errungenschaften der Viktorianischen Ära, also im englischen Empire unter der Herrschaft von Königin Viktoria, so können Deutsche Ingenieure nicht anstehen, den Äther als ihren imperialen Stoff noch einmal zu reklamieren. Ein so absoluter Stoff fungierte in der ihm zugehörigen Epistemologie schon an und für sich als Inbegriff einer absolutistischen Staatsmaxime, der sich die Beamtenschaft in Europa verpflichtet wusste. Dass Albert Einstein allerdings bereits 1905 den Äther durch den Beweis der speziellen Relativitätstheorie im besten Sinne des Wortes physikalisch erledigt hatte, verschlug dagegen nur wenig. Im physikalischen Sinn war es nach Einstein unnötig geworden, vom Äther und Weltäther zu sprechen. Wie hartnäckig die Widerstände gegen Einsteins These waren, ist am Beispiel der»arischen Physik«und ihres Hauptprotagonisten Philip Lenard (Assistent von Heinrich Hertz) seit den frühen 20er Jahren überdeutlich und gut erforscht (Lenard 1920, 1922; Hentschel 1996). Weil allerdings auch die Relativitätstheorie nicht zeigte, wie elektromagnetische Wellen vom Mechanismus her sich fortbewegen, sagt auch Lertes, ein immerhin republikanischer Radiobastler-Lehrer von 1924,»wollen wir doch an der Ätherhypothese festhalten«. Oliver Lodge wird bis an sein Lebensende, selbstredend, an der Äthervorstellung festhalten und mit ihm die»deutsche Physik«der Nobelpreisträger Johannes Stark und Philip Lenard bis weit in die vierziger Jahre hinein. In dem Wahn, für alle Welterscheinungen experimentelle und zugleich ontologische Beweise und Modelle finden zu wollen, und seien es auch übersinnlich spiritistische wie bei Lodge, hielt die»arische Physik«, vor allem gegen die Juden Einstein, Sommerfeld und andere, an dem Äther als einem in sich völlig widersprüchlichen, ja fast absurden Modell der Sinnlich/Übersinnlichkeit fest. Der Äther war für diese Physiker im streng epistemologischen Sinn etwas Para-Okkultistisches. Und gerade darin einem überzogenen, autoritären Staatsbegriff völlig äquivalent. KULTURTRÄGER RUNDFUNK Die Epistemologie des para-okkultistischen Äthers und die imperiale Ideologie eines absoluten Staates bilden den Horizont für die Entwicklung des europäischen Radios. Zur entscheidenden Konsequenz bringt diese Wissens-Mischung Hans Bredow, der Gründer, oder wie er selbst am liebsten genannt werden wollte:»vater«des Deutschen Radios. Er ist Techniker, Ingenieur, kein studierter Physiker, also bestenfalls mit dem besagten Durchschnittswissen eines Peter Lertes gewappnet, das von der Existenz eines imperialen Äthers einerseits ausgeht und ist zugleich geprägt von der Treue zu einem mythisch überhöhten Staat

94 74 KULTURINSTRUMENT RUNDFUNK andererseits. Bredow ist handelnder Regierungsbürokrat, nämlich leitender Regierungsdirektor und dann Staatssekretär im Postministerium. Staatssicherheit vor Publizistik Winfried B. Lerg beschreibt die Folgen:»Die Parole vom Kulturträger Rundfunk... lenkte... alle diejenigen, vor allem die Nachrichtenagenturen und Verlage von den publizistischen Möglichkeiten des neuen Mediums ab und brachte jene zum Schweigen, vor allem die Parteipresse und die Funkfachpresse, die ahnten und bald äußerten, welche publizistische Realität nun entstanden war und vorsichtig ihre Ansprüche auf Mitwirkung anmeldeten. Zum andern aber ließ sich mit diesem rasch zum wohlfeilen Schlagwort erhobenen Begriff alle Legitimität für die alleinige Leistungsverwaltung in einer so repräsentativen Angelegenheit wie der Kulturvermittlung nachweisen, die nach absolutistischen Leitbildern einer öffentlichen, sprich: staatlichen Verwaltung bedurfte. Es schien, als sei ein alter nationalistischer Wunschtraum wahr geworden, demzufolge man die Verbreitung wahrer Kultur als den höchsten Zweck des Staates anzusehen habe«(lerg 1970, 301). Das Entscheidende an dieser Parole vom Kulturträger Rundfunk bleibt, was sie ausschließt und ausschließen will. Nämlich das Politische, das Soziale und das Gesellschaftliche als Themenfelder im Radio.»Staatssicherheit geht vor Publizistik«übertitelt Winfried B. Lerg seine entscheidende These.»Jede genossenschaftliche Organisationsform, für die unter der neuen Verfassung durchaus Platz ist, scheitert nun an dem Misstrauen in die republikanischen Freiheiten... Die Furcht vor umstürzlerischen Aktionen, vor allem von kommunistischer Seite, liefert die Schlagworte, um jegliche Art öffentlichen Interesses am Funk mit harten Bestimmungen auszuschließen. (...) Was allein gelingt, ist, wiederum eine staatspublizistische Verwendung zu finden für eine monopolistisch konzentrierte und protegierte Wirtschaftsberichterstattung. Es bedeutet für den Funk zunächst einen Schritt zurück aus der Publizität heraus in den Bereich halbamtlicher Nachrichtenübermittlung an wenige, bekannte und bestimmte Empfänger«(Lerg 1970, 310). Mit einem Wort: In Europa startet das Radio mit der Angst vor der Masse, mit der Angst, dass aus dem Medium ein Massenmedium werden könne. Nirgendwo in Europa ist beim Start des Radios als allgemeinem Kommunikationsmittel ein freier Zugang aller Bürger zu allen Themen oder ein demokratischer Zugang der Öffentlichkeit zum Medium Radio insgesamt anvisiert worden. Der Ausschluss alles Politischen und Sozialen gilt fast überall, auch da, wo, wie in der Schweiz, der Rundfunk zunächst halbstaatlich und regional aufgestellt wird. Zwar wollte auch hier der Bundesrat keineswegs die verhassten amerikanischen Verhältnisse des freien Marktes einreißen lassen, aber war dann doch»unter geregelten Bedingungen bereit..., öffentlichen wie privaten Initianten nicht nur Empfangs-, sondern auch Sendekonzessionen zu erteilen«(schade 2000, 124). Schon 1925 stellten Regierung und Bundesbehörden der Schweiz

95 EXKURS: ZUM VERHÄLTNIS VON MEDIEN- UND WISSENSGESCHICHTE 75 noch einmal klar, dass»am Radio keine gesellschaftspolitischen Debatten kontrovers geführt werden sollten. Der [schweizerische] Rundspruch«hatte»ideale und nationale Ziele«zu verfolgen und musste»im Rahmen der guten Sitte und im Geiste strikter Unparteilichkeit betrieben werden«; konsequenterweise durften die Einrichtungen»nicht zu parteipolitischen Propagandazwecken benützt werden«. In den Ausführungsbestimmungen zur Konzession präzisierte die Ober-Telegrafen-Direktion:»Nachrichten von allgemeinem Interesse wie Tagesneuigkeiten, politische und sportliche Nachrichten, Wirtschafts- und Finanzmitteilungen müssen ohne Kommentar verbreitet werden«(176). Kein Massenmedium Ihre Epistemologie hat die Rundfunkgründungen in Europa darin gehindert, sich zu einem Massenmedium zu entwickeln. Zu diesem Resümee kommt jedenfalls die große radiohistorische Arbeit über die Schweiz von Edzard Schade:»Mit ihrer Beschneidung der aktuellen Berichterstattung verhinderten die Bundesbehörden, dass das Radio zu einem wirklich attraktiven Informationsmedium wurde. Die freisinnig dominierte Presse konnte mit Unterstützung der Bundesbehörden vorerst verhindern, dass der Rundfunk das Zeitungsmonopol in der tagesaktuellen gesellschaftspolitischen Berichterstattung brach. Das Radio konnte sich auf diese Weise nicht zu einem Massenmedium entwickeln, das umfassend und schnell die Gesellschaft beobachtet und entsprechende Kommunikationsangebote macht. Damit war den schweizerischen Rundfunkstationen verwehrt, eine der wesentlichsten Funktionen von Massenmedien offensiv wahrzunehmen«(414f). Bredows Kulturbegriff steht für diese Funktion der Verhinderung, dass»das Radio... umfassend und schnell die Gesellschaft«der Weimarer Republik beobachtete. EXKURS: ZUM VERHÄLTNIS VON MEDIEN- UND WISSENSGESCHICHTE Diese Kritik freilich geht von einem Wissen aus, das wir erst heute, zum Beispiel auf dem Stand konstruktivistischer Medientheorie, artikulieren können. Insofern gehen diese Kritik wie auch die systematischen Thesen des Historikers Lerg an einer Historik des Radios im strengen Sinn vorbei. Erst nachdem sich das Massenmedium Radio entwickelt hat, wissen wir, was ein Massenmedium ist, nämlich das einzige Funktionssystem der Gesellschaft, das die Gesellschaft als Gesellschaft beobachtet. Es existieren jedenfalls keine früheren Theorien. Dafür, dass wir das wissen, ist die Entwicklung von Radio und Fernsehen selbst die Voraussetzung, zwei programmhistorisch eng verkoppelte Medien. Keine konstruktivistische Theorie würde dabei behaupten, dass die beiden großen elektronischen Massenmedien die Gesellschaft adäquat beobachten. Sondern nur, dass die Massenmedien dasjenige System darstellen, in welchem Beobach-

96 76 KULTURINSTRUMENT RUNDFUNK ter in der Gesellschaft beobachten, wie Beobachter in der Gesellschaft beobachten. Beobachtungen von Beobachtungen werden in den Medien permanent selektiert, kopiert, variiert und restabilisiert, wie man sagt, auf eine»autopoietische«, sich also selbst reproduzierende und selbst entwickelnde Weise (Luhmann 1996). Das können wir heute so sagen, nicht deswegen allein, weil wir die Massenmedien, im Unterschied zu den Radioanfängen von 1923, als ein entfaltetes System mit Fernsehen, Satelliten und Computern haben. Sondern wir können es sagen, weil wir eine Epistemologie haben, die uns dieses System beschreiben lässt, und diese Epistemologie entstammt dem Diskurs der Kybernetik, der selbstregulierenden Maschinen und dem Feld der programmierten Adressierung insgesamt, also einer Epistemologie, die im weitesten Sinne aus der Theorie der Quantenmechanik und der Computer resultiert. Die epistemologische Differenz Am Anfang aber, eben zu Beginn der zwanziger Jahre, war nicht nur dieses Wissen von der Beschreibbarkeit gesellschaftlicher Systeme nicht präsent. Es war nicht einmal in Ansätzen ausgebildet, denn es setzt auf Entwicklungen auf, die in der Naturwissenschaft überhaupt erst im Entstehen begriffen waren. Also kann man nicht, um es salopp zu sagen, Bredow vorhalten, er hätte es besser wissen können. Man muss vielmehr sagen, im Sinne der Genauigkeit einer genealogischen Historik des Mediums Radio, dass Bredow und dass auch Vanoni oder Nussbaum, also die Beamten der Schweizer Obertelegrafendirektion, ihr bestes Wissen in die Gründung des Radios in ihren Ländern und Staaten investierten. Es war für sie epistemologisch unvorstellbar, eine politische Beteiligung der Masse an der Entwicklung des Massenmediums Radio zu denken. Das Wissen, das sie vom Medium hatten, syntonisch einen Staats-Imperialismus mit einem Ätherbegriff zusammenfügend, verstellte genau diese Möglichkeit. Nie zuvor war ein technisches Medium existent gewesen, dass sich in der einfachsten technischen Definition (des Äthers) schlicht und einfach an alle wenden konnte, ohne dass irgendjemand wusste oder wüsste, an wen genau zu welcher Zeit an welchem Ort. Die epistemologische Differenz ihres Wissens ließ keine Vorstellung zu, welche Art der Beteiligung der Masse der Hörer an diesem Medium denkbar sein könnte. Sie konnte nur auf dem Wege des Ausschlusses definiert werden, weil dieser Ort der Beteiligung selbst nur als Leerstelle im ätherischen Weltbild dieses Wissens existierte. Als positives Bild trat an die Stelle: ein hoch abstrakter und mythisch aufgeladener Begriff der Kultur, der mitsamt seiner Staatsvorstellung aus der absolutistischen Autoritätslehre herstammte. In Bezug auf die Welt, die technisch erschlossen jetzt vor den Technikern lag, ergab der Bezug auf die Massen, die jetzt durch das Radio erreichbar waren, nichts als einen Blick ins absolut Leere. Hysterie und Chaos (dafür stand das US-amerikanischen Radio) wurden als Zerrbilder an die Wand gemalt, als

97 DER AUSSCHLUSS DES POLITISCHEN 77 stünde der Umsturz des Staates auf dem Spiel. Vor diesem negativen Horizont einer Leerstelle im Wissen (angefüllt mit hysterischen Angstbildern) erfolgte der Ausschluss des Politischen aus dem Medium Radio. Das und nicht irgendwelche Verschwörungen und Machenschaften sind der Grund, weshalb gegen die apolitische Kulturgründung Radio sich in Deutschland kaum eine grundsätzlich kritische Stimme erhob. Einige wenige taten es dennoch, zum Beispiel Bert Brecht, der bekanntlich sehr deutlich, wenn auch nur mit einem einzigen veröffentlichten Aufsatz, zum Thema intervenierte. Begrenzte Epistemologien Gerade das Beispiel der aus rückschauender Sicht so fatal und fehlerhaft zu nennenden europäischen Rundfunkeinführungen zeigt sehr deutlich, dass in den Fragen der Medien immer nur der Diskurs der Beschreibung und Selbstbeschreibung von Medien möglich ist, der epistemologisch gegeben ist. Anders gesagt: Wir wissen über die Medien jeweils das, was ein jeweils mit ihnen verkoppeltes Wissen über sie zu sagen erlaubt. Das mit dem Radio in seiner Einführungsphase in Europa verkoppelte Wissen ist eine para-okkultistische Physik des Äthers, die epistemologisch auf Übersinnliches und gleichermaßen auf dominante Autoritätsmuster setzt. Dazu sind absolutistisch-autoritäre Gesellschaftsideologien komplementär, die ausschließen, der Masse eine demokratisch legitimierte Entwicklung zuzutrauen. Für das gesellschaftliche Szenario, das das Radio als Unterhaltungsmedium technisch möglich macht unabzählbare Empfänger an unbestimmten Orten, hat dieses Wissen keinen Begriff und keine Worte. Deshalb werden sie auch, in den Anfängen, von niemandem gesprochen. DER AUSSCHLUSS DES POLITISCHEN Um abschließend kurz auf die Schweiz und Edzard Schades vorbildliche Analyse zurück zu kommen:»als Massenmedium hatte die SRG ein professionelles Interesse an aktualitätsbezogenen Sendungen«erst»ab der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre«, und zwar»mit der Suche nach schweizerischen Eigenheiten«. Erst in den späten dreißiger Jahren wird in der Schweiz und so auch in Europa das Medium Radio zum Massenmedium, wo ihm jetzt auf einmal»ein riesiges Feld aktualisierbarer Themen«(Schade 2000, 424) offen steht. Aber kaum dringt das Medium Radio massenmedial durch, versinkt Europa für sechs Jahre im Krieg und braucht danach, ab 1945, mindestens zehn weitere Jahre, um wieder auf eben jenen Stand zu kommen, der auf der anderen Seite des Atlantiks in der USA bereits Mitte der Dreißiger Jahre erreicht war. Anfang der 1960er Jahre beginnt in England und Holland der Einfluss der amerikanischen massenmedialen Kultur zu wirken, und wir beobachten den Anfang einer radiohistorischen

98 78 KULTURINSTRUMENT RUNDFUNK Konvergenz, deren vorläufigen Schlusspunkt wir seit der Jahrtausendwende beobachten können. Wir halten, jetzt aber mit dem Wissen Bredows, ja fast mit seinen eigenen Worten fest: Das Radio gründet sich als Medium unter Ausschluss des Politischen. Noch eine vorgreifende Anmerkung ist angezeigt. Dieser Ausschluss des Politischen, der eine lange Verzögerung der massenmedialen Evolution des Radios in Deutschland und Europa mit sich bringt, bedeutet im Umkehrschluss keineswegs, dass ein Einschluss des Politischen, also die Abbildung und Wiedergabe politischer Debatten und sozialer Diskurse an sich schon den Weg für eine Evolution des Mediums als Massenmedium wiese. Insofern argumentiert der Historiker Schade an diesem Punkt systematisch verkürzt. Gerade der amerikanische Weg wird uns zeigen, dass die Emergenz des Massenmediums keineswegs vom Einschluss des»politischen«im journalistischen Sinn abhängig ist. Vielmehr war es der Einschluss des Sozialen in der besonderen Form einer im Feld der Unterhaltung rivalisierenden Stimmenpolitik, mit der das amerikanische Medium Radio zum Massenmedium wurde. Bildungstraditionen Die Dominanz des Kulturauftrags im deutschen Radio schloss zwar die Entwicklung von journalistisch-politischen Beobachtungen der gesellschaftlichrealen Welt aus, dafür aber die Entwicklung von fiktiven Hörformen explizit ein. Deshalb kann u.a. das europäische, in Sonderheit aber das deutsche literarische Hörspiel auf eine sehr lange und große Tradition zurückblicken. Trotz der einschneidenden Zäsur des Nazirundfunks unter Goebbels gibt es denn auch hier, in der literarisch orientierten Ästhetik des Rundfunks, übergreifende Kontinuitäten von den Anfängen bis weit in die 70er Jahre hinein. Nur als Beispiel genannt sei der Fall Günter Eich. Sein erstes Hörspiel wurde 1931 gesendet, es folgten mindestens fünfzig weitere unter der Nazi-Diktatur, und erst dann kam Eich zu seinem großen Nachkriegsruhm als Mitglied der Gruppe 47 und preisgekrönter Hörspieldichter. Der Rundfunk als»kulturinstrument«wurde konsequenterweise in Deutschland denn auch nach den bewährten Modellen des bürgerlichen Bildungsbetriebs, nach den Vorbildern von Konzert- und Vortragssaal organisiert. Bredow suchte und fand Investoren im Bereich des Mittelstandes, die Rundfunkbetriebe auf privater Basis gründeten und sie mit einer Postlizenz aus der Behörde Bredow betrieben. Es wurde eine (anfangs viel zu hohe) Empfangs-Gebühr von Staats wegen angeordnet, die zu sechzig Prozent an diese privaten Unternehmungen weitergereicht wurden. Schallplattenfirmen, Photoartikel-Hersteller, Kunsthändler oder Besitzer publizistischer Unternehmen waren die bevorzugten Kandidaten, die Bredow zur Gründung von Rundfunkgesellschaften in Betracht zog. Mangels Geräten für den Privatbetrieb wurde Rundfunk zunächst in öffentlichen Räumen aufgeführt. Einer der ersten Radiounternehmer, Ernst Ludwig

99 DER AUSSCHLUSS DES POLITISCHEN 79 Voss, veranstaltete Saalfunk gegen Eintrittsgeld. Aber es gab zunächst auch dafür keine geeigneten Lautsprecher.»In größeren Städten entstanden öffentliche Hörstuben, in München beispielsweise ließen sich für 1924 zwei Einrichtungen dieser Art nachweisen: die eine im amtlichen Reisebüro, die andere als öffentliche Radio- und Opern-Hörstube im Ausstellungspark auf der Theresienhöhe«(Marßolek 1999, 207). Keine Öffentlichkeit Nach alledem ist es nicht überraschend für die Entwicklung des Weimarer Rundfunks, dass die Entdeckung des eigentlichen publizistischen Potentials des Mediums zögerlich und halbherzig einsetzt. Natürlich hatten die Programmpresse, insbesondere die Redakteure der Zeitschrift des»deutschen Rundfunk«, diesen Prozess stets eingefordert:»aktualität lautete das Stichwort, und Kritiker empfahlen, das Mikrofon auf Alltagswanderung zu schicken, in die Zentralmarkthalle, auf den Schlachtviehhof, auf die Fernbahnhöfe, oder (...) an den Kassenschalter einer Großbank, in ein Theater bei Premieren zu eilen. ( Unser Osterwunsch Aktualität in: Der Deutsche Rundfunk 1928) Als Experimentierfeld für das neue publizistische Verständnis aktueller Berichterstattung sollte sich die Sportreportage erweisen. Ab 1928 begannen einige der deutschen Sendegesellschaften Reportagebüros einzurichten, und fortan wurde Live-Berichterstattung zu einem gebräuchlichen Programmelement, das den bestehenden Programmstrukturen ein wichtiges dramatisches Element hinzufügte.«(214) Aber das blieben Ausnahmen. Abb. 21 Offizielle graphische Darstellung von 1930 Der staatlich reglementierte Rundfunk der Weimarer Zeit transportierte schon deshalb keine»öffentlichkeit«, weil in seinen Programmen Nachrichten und politische Informationen Mangelware blieben. Ab 11 Uhr brachten die Sendegesellschaften in der Regel ganze drei Nachrichtensendungen bis Mitternacht.

100 80 KULTURINSTRUMENT RUNDFUNK Die Devise vom»kulturinstrument Rundfunk«hatte inzwischen Gesetzeskraft erreicht.»der Rundfunk dient keiner Partei. Sein gesamter Nachrichten- und Vortragsdienst ist daher streng überparteilich zu gestalten.«so stand es in den»richtlinien über die Regelung des Rundfunks«der ersten Rundfunkordnung von 1926 (Lerg 1970, 368). Das Reichsinnenministerium verstand darunter die strikte»politische Neutralität«des Rundfunks. Parteipolitische Auseinandersetzungen sollten»unter allen Umständen«von dem Medium ferngehalten werden (Leonhard 1997, 175). Das Programm wurde durch Überwachungsausschüsse kontrolliert, die nach den Vorstellungen des Reichspostminsteriums, also nach Bredows Vorstellungen zusammengesetzt waren. Live-Sendungen waren von daher nur äußerst beschränkt möglich, der Ablauf von Gesprächsrunden, soweit sie denn überhaupt vorkamen, musste im Vorhinein genau fixiert werden.»offiziell in ihrer Einflußnahme auf das Nachrichten- und Vortragswesen beschränkt, maßten sich [die Überwachungsausschüsse] gelegentlich an, auch über Hörspiele, Revuen, Chorsinfonien, Lesungen oder Kinderfunksendungen zu urteilen, in der Regel bemäntelt damit, daß ihre Urteile angeblich der politischen Aussage, nicht der künstlerischen Qualität des Beanstandeten galten. Gerade diese Übergriffe prägten in der Öffentlichkeit das negative Image der Ausschüsse und die Vorstellung eines in jeder Sekunde von verständnislosen Bürokraten überwachten Radioprogramms«(232). Aber eine politische Öffentlichkeit im Sinne des Zusammenspiels der Publizistik, der Zeitungen und der elektronischen Medien, wie wir es heute kennen und wie es die Struktur des Massenmediums prägt, existierte in der Weimarer Republik nicht. Rundfunk wurde auf dem Verordnungswege reguliert, im gut funktionierenden Zusammenspiel der Bürokratien zwischen Reich und Ländern, zwischen Post- und Innenministerium. Das Parlament hat sich in der Weimarer Republik um den Rundfunk nicht gekümmert. Allein das ist schon ein Ausweis dafür, dass das Radio als eine hoheitliche, trans-republikanische Institution gesehen wurde, jenseits der Auseinandersetzung der Parteien. So gesehen war der Begriff des»kulturinstruments«, den Bredow für den deutschen Rundfunk prägte, eine von vorneherein gesetzte Notverordnung. Zugleich auch der sichere Garant dafür, dass Rundfunk Instrument der Staats-Bürokratien und nicht des Parlaments war, ein Spiel, das Oberregierungsräte und Staatssekretäre in den Ministerien miteinander aushandelten. DER RADIORUF Im Radio ist alles, was gesprochen wird, ein doppelter Sprechakt. Frage, Statement, Antwort, Nachricht, Kommentar oder Hinweis wirken zweifach. Das Radio ist selbst eine Art Performanz der Performanz, ein Performativ des Performativen, insofern jeder im Radio geäußerte illokutionäre Sprechakt immer noch eine weitere Illokutionarität hat, nämlich die, dass er aus dem Radio

101 DER RADIORUF 81 kommt. Den Horizont aller Sprechakte, die aus dem frühen deutschen Radio kommen, schlage ich vor den Radioruf zu nennen. Die Sprechhaltung im deutschen Radio, über die ersten Radiojahrzehnte hinweg, bringt diesen Horizont oft genug ganz buchstäblich an den Tag.»Wir rufen alle Hörer«ist die hundertfach gesprochene Eingangsfloskel der ersten Radioprogramme. Noch 1930 wird Rudolf Arnheim konsterniert konstatieren, dass im Radio durchweg zu laut gerufen und im zackig militärisch-oberlehrerhaften Ton überartikuliert und gebrüllt wird.»mancher Redner glaubt, wenn er zu vielen spreche, müsse er auch laut sprechen; mancher wieder ist von Volksversammlungen und Hörsälen her an einen Posaunenton gewöhnt, der das Mikrofon erzittern macht«(arnheim 1936, 25). Die Sendenden im Radio heißen bis in die fünfziger Jahre hinein die»rufer«, jedenfalls im Titel einer der wichtigsten literarischen Rundfunk-Zeitschriften, erschienen von 1931 bis 1954:»Rufer und Hörer«. Das Radio ruft. Der Unterschied zum amerikanischen Radio ist auch hier signifikant. Einen Radioruf gibt es auch, aber hier wurden nicht Hörer, sondern das Radio gerufen, im Modus von Ruf- und Gegenruf. Von ihrer ersten Stunde an bekamen US- Stationen Rufcodes, wie sie das Handelsministerium schon immer den Schiffen gegeben hatte. Die erste Station des Unterhaltungsrundfunks bekam den Rufcode»KDKA«und geht, wie wir noch sehen werden, schon ab Herbst 1920 in Pittsburgh on air. In den USA wird das Radio gerufen; es ruft, mit seinem Rufcode, eine Station die anderen Rundfunkstationen. Dazu später mehr. Doppelt ausgeschlossene Sozialdimension»Der Lautsprecher ist ein Instrument der Massenpropaganda, das man in seiner Wirksamkeit heute noch gar nicht abschätzen kann. Jedenfalls haben unsere Gegner nichts damit anzufangen gewusst. Um so besser müssen wir lernen, damit umzugehen«(goebbels , 372). Die offizielle Einführung des deutschen Radios im Oktober 1923 geschah an einem Tag, an dem weiterhin 50% der Arbeiter arbeitslos waren, ein Kilo Brot 5000 Millionen Mark kostete. Gerade war der Hamburger Arbeiteraufstand blutig niedergeschlagen worden. Die Wochen zuvor hatte es überall im Reich heftige Hungerdemonstrationen gegeben, und es herrschte seit September Ausnahmezustand. Am Morgen waren die sozialdemokratischen und kommunistischen Minister in Sachsen und Thüringen aus dem Bett geholt, aus dem Amt gejagt und ins Gefängnis gesteckt worden. So hätte man die urplötzliche Einführung des Radios am 23. Oktober 1923 auch als eine prophylaktische Bürgerkriegsmaßnahme sehen können, wenn das Programm etwas anderes als friedlich daherplätschernde zwei Stunden Musik geboten hätte. Und doch, auch dieser Entzug des Politischen und Aktuellen war eine Prophylaxe, wenn auch wohl

102 82 KULTURINSTRUMENT RUNDFUNK eine ungewollte. Nach knapp zehn Jahren wird ihr Ende durch die oben zitierte legendäre Eintragung markiert, die in Goebbels Tagebüchern zu finden ist. Dazwischen liegen zehn Jahre Unentschiedenheit, zehn Jahre ahnungsvolles Nachspüren, zehn Jahre Ausprobieren, zehn Jahre lang heilloses Spekulieren deutscher Intellektueller über ein Medium, das von Anfang als»kulturinstrument«und damit vor allem negativ gegen seine unbekannte gesellschaftliche Funktion definiert war. Wegen seiner doppelt ausgeschlossenen Sozialdimension konnte das Radio zehn Jahre lang nur ein Ruf ins Leere bleiben und wurde im Gegenzug selbst zur Instanz mysteriöser, metaphysischer, verstiegener, spiritistischer und verspottender Anrufungen jeglicher Art. Und blieb für intrinsische Kriegsziele weiterhin offen. Im Folgenden schildere ich einige dieser Anrufungen aus der damaligen Diskussion unter Literaten, Publizisten und Radiomachern. Man könnte den Diskurs dieser Anrufungen auch diskursive Shifter nennen. Shifter nannte Roman Jakobson (1957) den Typ von Worten, die sowohl symbolische und konventionelle Bedeutungen als auch rein indikative Funktionen im Diskurs haben, aber nur in der Oszillation beider Ebenen ihre lokale Semantik gewinnen. Karl Kraus»Hat Menschengeist Natur so aufgestört, daß er sie zwingt, von allem, was da tönt, ins taube Ohr der Menschheit zu ergießen? Welch mißgestimmtes Maß im Allgenießen, Wie sie Musik aus allen Sphären hört und nichts von jedem Jammer, der da stöhnt.«es ist nicht eines seiner besten Gedichte aus der Fackel, Jahrgang 1925, aber eines seiner wortgewaltigsten. Kraus nimmt den Kulturanspruch des Radios nicht an, ohne seine Technik, ebenso naturalistisch wie romantisch konnotierend, als Störung, als Überforderung, als Missstimmung hinzustellen. Mißton der Menschlichkeit, Choral der Qualen, stürz in das grausam lustverwöhnte Ohr und laß den Diskant der Dinge hören!«(schneider 1984, 37) Die Rede ist, wie man vermuten darf, (auch) vom audio-ästhetischen Stand des Radios aus dem Jahre Als angenehm wird man ihn nicht bezeichnen dürfen. Auf dem schmalsten Mittelwellenband, mit unzureichenden Mikrophonen aufnehmend und schlechten Kopfhörern empfangend, durchsetzt von Fasing und Phasenschwankungen der Modulation, krächzt das Radio in die Ohren. Wenn nun dennoch unter diesen Bedingungen gesendet wird, meint der sprachgenaueste Literat der Jahrhundertwende 1900, dann darf nicht»kultur«, sondern muss der Diskant ihres Missgelingens Thema werden. Eine in Poesie verpackte Lehre, der er selbst allerdings nur bedingt Folge zu leisten bereit war:

103 DER RADIORUF 83»Am 13. November 1930 präsentierte Karl Kraus in Berlin als Regisseur und Hauptdarsteller [Shakespeares] Timon von Athen. Die Aufführung blieb allerdings für diejenigen unverständlich, die das Drama nicht kannten: ein Oratorium; keine dramatische Sendung «(in Leonhard 1997, 1094), wie in der Kritik der Rundfunkzeitschrift zu lesen war. Kraus gab in demselben Jahr zudem, singend und sich dabei am Klavier begleitend, seinen fulminant zeitkritischen Offenbach-Zyklus über die Ätherwellen. Tote Helden Das Weimarer Radio kommt aus dem Krieg, und die Kundigen wussten, dass seine Geräte im Krieg ihre erste Probe bestanden hatten. Radio bewahrt damit nicht nur in seiner Technik die Signifikanz des Krieges und die Erinnerung an die Katastrophe, sondern gewinnt, unter Ausschluss des Politischen und des Sozialen, jetzt darin seine intrinsischen Wahrheiten. Man muss die begeisterten Literaten der 30er Jahre nur genau lesen, um buchstäblich die Stimme jener toten Helden von den Schlachtfeldern in Frankreich im Radio noch einmal zu gewärtigen. Der deutsche Radioruf bekommt die Antworten aus seiner Vorgeschichte zurück. Und keineswegs nur von den rechten, deutschnationalen, anti-republikanischen Literaten. Wir finden sie ebenso, wenn nicht noch deutlicher, bei den linken. Zum Beispiel bei Johannes R. Becher, Sohn eines Oberlandesgerichtspräsidenten, literarisch (zunächst) ein Anarchist der Form, dem leidenschaftlichen Expressionismus der Gruppe Heym, Schramm und Toller nahestehend, während des Krieges Pazifist, 1917 Mitglied der USPD, dann Spartakusbund, dann KPD, des Hochverrats angeklagt,1934 ausgebürgert, ab 1950 Mitglied der SED, seit 1954 Kulturminister der DDR, 1958 gestorben, dieser Johannes R Becher dichtet 1929:»Zeit und Raum sind tönend überwunden Und das große Wunder, es geschieht: Alle Sender haben sich verbunden, Und sie singen dir ein trunknes Lied. Setz dich nieder. Vor dir steht ein Trichter. Nur ein Knopf. Wenn du ohn' Zaudern drehst, spricht zu dir aus ferner Stadt ein Dichter, Worte, wie du sie sonst nie verstehst. Dreh den Knopf! Wer wird sich melden? Wen wird jetzt dein Zauberruf erreichen? Senden Antwort dir die toten Helden? Vogelzwitschern in ein Pausenzeichen. Drehe wieder, und die Stimme schwindet, Und der ganze Äther jubiliert. Wer nichts Wunderbares dabei findet, hört nicht, wie SEIN Herz dort jubiliert. Und du hörst des Mannes Stimme nah, Und er steht in deines Zimmers Mitte: Lenin spricht, der Mann, der kam und sah,

104 84 KULTURINSTRUMENT RUNDFUNK Und die Völker folgten seinem Schritte. Ja, im Winter sind die Nächte lang, Unser Blockhaus liegt weit von der Stadt. Manchmal fällt noch von der Wand ein Klang, Wenn der Schlaf uns längst umfangen hat. Dreh den Knopf! Wer wird sich morgen melden?! Senden Antwort uns die toten Helden?!«(Schneider 1984, 59f) Johannes R. Bechers proletarisches Liebeslied an das Radio von 1929.»Radio Wunder der Alltäglichkeit«. Möglicherweise vorgetragen in einer der Pausen eines jener Konzertabende, die Hans Flesch, Intendant in Berlin, ab 1930 der jungen deutschen Lyrik geöffnet hatte (Leonhard 1997, 1008). Das relativ späte Gedicht verbindet Krieg und Revolution noch einmal und verklärt jenes Cäsarenbild Lenins ins»veni vidi vici!«, das realiter doch bereits der stalinistischen Kollektivierung gewichen war, um schließlich die Universalprojektion des Radios ins kommunistische Ideologem münden zu lassen: Mein Herz ist der Äther. Aber unterm Kulturanspruch ist jedes politische Phantasma, lyrisch verbrämt überdies, wieder nur ein Geräusch der Kultur und darum harmlos und sendbar. Radio-Attentismus Den Rundfunk (zwanghaft) als»kulturinstrument«betreiben, hieß für die ersten zehn Jahre seines deutschen Bestehens auch, die Kultur und ihren Betrieb weitestgehend für den Funk zu instrumentalisieren. Stichwort Theaterkritik. Eine lange und wechselvolle Debatte, übrigens bis auf den heutigen Tag, wie man Theaterkritiken, die Domäne des geschriebenen Feuilletons, ins Radioprogramm integrieren könne. Hans Flesch, dem ich ein eigenes Kapitel zu widmen habe, betritt auch hier Neuland, indem er dem Starkritiker der»weltbühne«, dem Österreicher Alfred Polgar, dessen Schriften 1934 auf Goebbels Bücherscheiterhaufen landen werden, den Programmplatz für einen vierzehntäglichen»theaterquerschnitt«erschließt (Leonhard 1997, 1075). Das Experiment, einem Theaterkritiker allein eine solche»stimme der Kritik«zu geben, wurde von den Überwachungsausschüssen bald wieder kassiert, auch deshalb, weil Polgar wegen seiner Zugehörigkeit zur Weltbühne als Linker galt. Ein Linker zu sein, in den Augen der Rundfunk-Überwachungs-Ausschüsse der Weimarer Republik, hatte aber nichts damit zu tun, für eine freie Entfaltung des Radios als einem publizistischen Medium der Gesellschaft zu kämpfen. So wird auch der engagierte Linksintellektuelle Polgar von dem neuen Medium viel eher in die Untiefen kosmophilosophischer Abgründe geführt. Er schreibt:»in jedem Raumpunkt wären also sämtliche Geräusche der Welt versammelt... die Totalität der Erscheinungen, soweit sie durch das Ohr... wahrnehmbar sind, virtuell vorhanden! Eine erschüttende Vorstellung, die jeden, der philosophisch

105 DER RADIORUF 85 zu denken versteht (mich also leider nicht), in Abgründe der Spekulation führen muß«(schneider 1984, 47). Wie viele Linke ahnt Polgar zwar auch, dass hinter der technischen Maske des Mediums ein Potenzial stecken müsste, elektromagnetisch alle erreichen zu können, eine Möglichkeit, die durch die Zurichtung und Einengung auf den Kulturvermittelungs- und Unterhaltungsanspruch nicht zur Entfaltung kommen durfte.»ein quälender Gedanke«, fügt Polgar denn auch ahnungsvoll hinzu,»dass das Rundfunkwunder fast ausschließlich Unterhaltungszwecken dient. Es ist so, als ob ein großer Magier, der wirklich über gewaltige Zauberkräfte verfügt, sein Hauptengagement im Lunapark nähme«(47). In der großen Metapher vom»wunder«aber konvergiert (und endet) die Wahrnehmung nahezu aller Intellektueller in allen politischen Lagern Deutschlands. Auch ein so kluger Gesellschaftsbeobachter wie Alfred Polgar ahnt nur, dass Radio mehr sein könne als ein Kulturinstrument, aber er kann nicht beschreiben was oder wie. Vor diesem positiv wie negativ bewerteten Horizont des isolierten Radio- Kulturanspruchs, offenbart sich, bei nahezu allen zeitgenössischen Beobachtern, ein Attentismus gegenüber dem Medium. Eine abwartende Haltung, eine ungelöste Spannung, ein Querstand, eine Schieflage, nicht wissend, wie man außer durch verstiegene Unkenntlichmachung der gegebenen Lage eingreifen solle. Überbetont werden deshalb die metaphysischen Spekulationen über Abgründe des neuen Mediums, seine unheimliche Herkunft aus dem Nichts. Umgekehrt werden seine ortungslose Allgegenwart und Universalität, im Sinne einer Beschreibung des Technischen, überhöht, und es drängen erdbebenhafte Metaphern, endzeitliche Bilder in den Vordergrund, aber auch mythisch überzogener nationalistischer Wahn. Das Radio bringt kolonialistische Ersatzbefriedigungen ins Haus, das Polarmeer so gut, wie die»beduinen aus der Wüste«, die»neger von Harlem«und die»armen von den Südseeinseln«, wie es bei dem Berliner Rundfunktexter, Kaufmann, Brecht-Freund, Mitarbeiter Paul Dessaus und Paul Hindemiths namens Robert Seitz heißt:»nicht mehr bist du mir fern, du Matrose auf einsamem Schiff im Polarmeer. Nicht mehr bist du mir fern, die Beduine der Wüste, Nicht mehr du, gehetzter Mensch in allen Metropolen der Erde, Nicht mehr du, Neger in Harlem, Und du glückselig Armer auf den Inseln der Südsee. Überall zu euch hin schwingt mein Gruß. Überall her aus der Welt kommt ihr zu mir«(schneider 1984, 42). Im Ghetto des attentistischen Kulturanspruchs, dazu epistemologisch fixiert auf seine technische Beschreibung als Schwingungsvermittler aus dem Weltäther, drängen die Reflexionen über das Radio zu einer positiven Radio-Ontologie. An der unmöglichen Stelle einer Forderung, das Medium gesellschaftlich zur Entfaltung zu bringen, wird die Gesellschaft selbst mit weltätherideologischen und para-imperialistischen Metaphern überzogen und dabei werden die Möglichkei-

106 86 KULTURINSTRUMENT RUNDFUNK ten des Radios in reine Phantasmagorie verschoben. Wenn Seitz dichtet:»alaska ist neben mir und China«, dann bleibt das pure Fiktion, weil in den 20er Jahren niemand irgendein Signal aus Alaska, wo es kein Radio gab, oder von der Kuomintang-Station in Nanjing hätte empfangen können, denn die hatte eine viel zu schwache Leistung (Rosen 1988, 69). Alles erinnert daher eher an ein nicht aufgelöstes Drängen, das von unklaren Mächten angeschoben wird. Radioitis!»Es ist einen jeden Unbefangenen und Unverbildeten mit immer neuem Staunen erfüllendes Ereignis, wenn man mit einigem radiotechnischen Geschick durch geringfügige Drehungen im Laufe einer Minute den Apparat auf die entlegensten Stationen in aller Welt richten kann. Für den besinnlichen Menschen liegt dann die radiometaphysische Frage sehr nahe: sollte nicht der menschliche Geist selbst ein solcher Sender von Wellen sein? Sollte er nicht imstande sein, sogenannte Gedankenwellen mit gleicher Geschicklichkeit in die verschiedensten Gegenden zu senden, wo sie von entsprechend abgestimmten Geist-Antennen aufgenommen werden könnten?«(in Kümmel 2002, 457) Dieser hier offen artikulierte Spiritismus des Radios liegt auf der psychotischen Spur, der aus der Epistemologie des Radios emergiert und vom Attentismus des Bredowschen Dogmas vom»kulturinstrument«noch einmal angeheizt wird. Was soll das sein, ein»kulturinstrument«? Ein Instrument, auf dem die Kultur spielt, oder ein Mittel der Kultur? Und wie soll man es hören? Kritiker empfehlen bereits 1928 eine»diät des Hörens«, raten zu einem»kontemplativen Zuhören«, Orientierung durch Programmzeitschriften, gesammeltes Lauschen, Abwehr von Anreiz und Sensation und dem Versuch, das Hören richtig zu lernen (in Lenk 1997, 154ff). Der oben zitierte Religionsphilosoph Johannes Maria Verweyen geht die Frage grundsätzlicher an. Der katholische Philosoph, als Opfer des Holocaust heute noch als Märtyrer geehrt ( kurzzeitig Generalsekretär der Deutschen Theosophischen Gesellschaft, von der Gestapo 1934 verhaftet, 1945 in Bergen Belsen umgebracht, Verweyen gibt dem in Weimar verbreiteten»topos vom krankmachenden Gebrauch technischer Medien eine überraschende Wendung. Zerstreutes Radiohören zur Unterhaltung mit häufigem Senderwechsel sei eine Hingabe an die materielle Welt und lasse den Menschen selbst zur Maschine werden.«deswegen müsse der Physik des Radios, wie Albert Kümmel Verweyens Position resümiert, eine Metaphysik an die Seite gestellt werden.»letztere enthüllt aber nichts anderes, als daß das menschliche Gehirn bereits ein Radio ist. Wie der Okkultismus half, die ersten Radioversuche (1894 durch Oliver Lodge) auf den Begriff zu bringen, dient hier das technische Medium als Modell telepathischer Fähigkeiten des Menschen«(Kümmel 2002, 461). Verweyen übernimmt das Motiv der Bildung einer Kulturnation via Kulturinstrument Radio. Aber dieses Motiv muss die doppelt ausgeschlossene Sozial-

107 DER RADIORUF 87 dimension des Mediums wieder einbeziehen und ist daher konsequent nicht artikulierbar ohne die Vorstellung einer spirituellen und unsichtbaren Gemeinschaft. Verweyens Radiotheorie nimmt im Ergebnis auf fatale Weise, weil auf spiritistischem Niveau, die kommende Volksverschaltung durch das faschistische Radio vorweg. Will man der Radioitis, also dem puren Konsum von Radio, begegnen, so ergibt sich auf philosophischer Ebene nur die Gleichsetzung zwischen Telepathie und Radioempfang.»Vielleicht wäre es lediglich eine Sache der Schulung im Sinne einer erhöhten Konzentration, von der die Ausweitung des telepathischen Bereiches abhinge. Zugleich würde die Analogie zur Radiotechnik den Gedanken nahelegen, dass auch bei dem unmittelbaren Fernempfang von Gedanken anderer Menschen die wechselseitige Abstimmung eine große Rolle spielt«(verweyen, in Kümmel 2002, 458). Nicht anders wird sich Goebbels die Verschaltung von Volk und Führer vorstellen können. Radiofurcht Solcherart metaphysischer Radio-Ontologien findet man in den Texten der Weimarer Intellektuellen über das Radio nicht selten. Da auf der Seite der Hörer wie auf der Seite der Macher die epistemologische Sperre existierte, nämlich das Anathema der Vorstellung einer freien, den Bedürfnissen einer gesellschaftlichen Kommunikation entsprechenden Radiopraxis, treten unbeantwortbare Scheinfragen an die Stelle: Kann das Radio auch rufen, wenn auf der Seite der Rufenden niemand zur Rufzeit anwesend ist? Was überhaupt ist die Anwesenheit des Radios, was ruft sie hervor? Etwas Göttliches, die Reaktualisierung einer biblischen Szene? Anton Kuh Anton Kuh, Mitarbeiter pazifistischer Literaturzeitungen in Wien, Autor der»weltbühne«und später der liberalen Exilzeitungen»Neue Weltbühne«und»Pariser Tageblatt«, schreibt 1930 in der Zeitschrift»Querschnitt«über das Gegenstück dieser metaphysischen Erwartungen, die Angst:»Ich fürchte mich vor dem Radio. Humanistisch gesinnte Menschen (im Gegensatz zu den Elektrotechnikern) befreunden sich schwer mit einer neuen Erfindung. Ihre Phantasie..., wiewohl doch gerade für Dichtungskraft und Blitzesschnelle bekannt kommt nicht so rasch mit. Lange Zeit steht das technisch Neue in ihrem Dasein wie ein trojanisches Pferd, das die Götter zur Versuchung ins Leben hineinpraktiziert haben. Sie... haben die vermaledeite Gewohnheit, nach dem Sinn zu fragen, bevor sie über Zwecke disponieren.... Doch auf das Thema Radio angewandt: Inwiefern dräut hier ein trojanisches Pferd? Was haben Götter mit Ingenieuren zu tun?... In meinem Hotelzimmer

108 88 KULTURINSTRUMENT RUNDFUNK stand eines Tages der böhmische Ingenieur P.,... Er trug seine neue Hypothese vor: das Radio als Lebenszerstörung. Der Mensch, sagte er, sei selber Antenne; so stehe es für den, der die Legende der Jericho-Trompeten zu deuten wisse, schon in der Heiligen Schrift geschrieben. Und er folgerte in einem Treppauf-Treppab von Fachbegriffen, die meinem Ohr chinesisch klangen, daß die potenzierte Wellenverstärkung am Ende die Zertrümmerung jener lebenden Antenne Mensch bewirken müsse... Nun begriff ich alles: warum die Musik aus Stuttgart wie Geistergewinsel durch den Kopfhörer sickert; warum die Spuck-, Dröhn-, Schlürf-, Dampf-, Stick- und Rassel-Stimmen wie totlebendig aus dem Lautsprecher schallen; warum die Luft in einem radioerfüllten Gemach wie überanstrengt und künstlich aufgepumpt klingt.... Die Menschheit hat den Weltraum zu ihrem Grammophon erniedrigt. Was soll da werden?... Aber die Stimme ist lebendige Energie. Sie kann nicht sterben, sie verstärkt sich im Weltall, sie schwillt und kreist und tobt und_?... Vom Berge Sinai herab darf nur Gottes Stimme schallen«(in Schneider 1984, 52ff). G. H. Mostar In seiner jetzt technophantastisch unabweislichen, transzendental stilisierten Anwesenheit wird das Radios zu einer mythischen Instanz des (Gegen-)Rufs. Die Welle, die der Hörer empfängt, wird zum»du«, das befragt werden kann. Gerhart Herrmann Mostar, ebenfalls ein linker und gesuchter Radioautor von Lesungen und Hörspielen des Weimarer Radio, dichtet so:» Der unbekannten Kraft Aus hockender Häuser Enge, durch kriechenden Qualm Fliegt unsere sinnende Sehnsucht Dir zu, Dumpf an die Glocke des Himmels dröhnt unser Psalm: Wir suchen Dich, Du! Wir haben Netze an unsere Dächer gehangen, Webend wie Spinnen, wie Spinnen blind, Wir haben in surrendem Draht Deine Falter gefangen, deren Schwingenschläge ein Singen sind, In unseren Stahlohren, wenn alle Wellen verschwangen, Rauschte Dein Wind Aber wir fanden Dich nicht, Du klingende Kraft, Fanden nicht einmal ein Wort, daß Dir Namen schafft, In flüchtigen Funken nur ist uns Dein Sein gesellt, Durch rasende Räder nur donnert Dein Rauschen her, Dein Wind nur braust uns dunkel und schwer, Du singendes Feld, Du schwingendes Meer, Du unfaßbar fremde, erdlose Welt!... Und wir ahnen dumpf, was Dein Wesen ist. Daß Du ein Rauschen in Gottes Baum Oder der Atem Gottes bist!

109 DER RADIORUF 89 Aus hockender Häuser Enge, durch kriechenden Qualm Fliegt unser jubelnder Glaube Dir zu, Hell an die Glocke des Himmels hallt unser Psalm: Wir finden Dich, Du!«(in Schneider 1984, 44f) Was Mostar hier schreibt in der Zeitschrift»Deutscher Rundfunk«1927 ist eine ausgewachsene psychotische Szene. Mostar, Redakteur in Bochum, München und bei den großen Berliner Blättern»Vorwärts«,»Berliner Tageblatt«und»Vossische Zeitung«, wird ebenfalls Opfer des kommenden Regimes, dessen Radioideologie er ungewollt mit vorbereiten hilft. Auch seine Bücher wurden verbrannt wie die Dutzender anderer linker Schriftsteller, er entgeht den Verfolgungen nur knapp und macht sich nach dem Krieg durch Gerichtserzählungen und einige amüsante Kolportage-Romane einen Namen. Shifter des»du«die»shifter«-struktur reproduziert sich aber auch noch einmal auf der Ebene des Radiomachens, nämlich in der Radioarbeit der Hörspielmacher. Auch ihnen bleibt der Zugang zum Medium als einem gesellschaftlichen Massenmedium verstellt, durch den doppelten Ausschluss der sozialen und damit politischen Dimension des Radios. Die psychotische Radio-Szene von 1927 ist die Szene des»du«. Nicht das Radio duzt den Hörer, sondern umgekehrt. Nicht im Radio wird eine Alternanz erzeugt, die zum Du einlädt (wie die Serial - oder DeeJay -Stimmen des amerikanischen Radios 5 ), sondern das Radio selbst wird zum Du. Sehnsuchtsvoll gesucht, mit Spinnennetzen an den Häusern gelockt, sprich: mit Antennen eingefangen, geht es um eine»unbekannte Kraft«, um das»wesen«des Radios. Die Wesensfrage aber bleibt unbeantwortbar und kann wieder nur durch das technische Phantasma imaginiert werden. So stilisiert sich in einem Klima, das epistemologisch immer noch durch das Äther-Paradigma der Physik des 19. Jahrhunderts bestimmt ist, das Radio zu einer transzendentalen Schimäre des Absoluten. Eine absurde Lähmung ist die Folge, alle Entwicklungsperspektiven des Mediums werden durch die Blockade eines attentistischen Medienspiritismus noch einmal verstellt. Was die Radiomacher und Literaten der 20er Jahre, von Karl Kraus bis Hermann Hesse, von Arnolt Bronnen bis Arnold Zweig, von Max Bloem bis Johannes R. Becher uns über das Radio mitteilen, sind weniger analytische Beobachtungen als vielmehr metaphorische»shifter«, die von einem Diskurs geregelt werden, der diesen Literaten selbst weitgehend verborgen geblieben ist. Soviel zu den kritischen Rezipienten des Mediums. 5. Vgl. Das normalisierte»du«, Seite 251ff.

110 90 KULTURINSTRUMENT RUNDFUNK ABSOLUTE RADIOKUNST Aus dem intellektuellen Selbstverständnis ihrer Zeitgenossen konnten die Radiomacher des Weimarer Rundfunks insofern kaum Hinweise ziehen. Fritz Walter Bischoff, studierter Philosoph und Germanist, Theaterdramaturg, Hörspielleiter und dann Intendant in Breslau, nach dem Krieg Mitbegründer und über Intendant des Südwestfunks Baden-Baden, Bischoff sah die Diskussion schon 1929 mit klarem Realismus, nämlich als eine»zeit babylonischer Verwirrung der Ideen, der Kunstlosigkeit aus Kunstbetriebsamkeit, deren Lage durch die Halbwahrheiten der tagtäglich neu emporbrandenden Schlagworte und den Wettlauf um den flüchtigen Nobelpreis des Augenblicks gekennzeichnet ist«(in Bredow 1950, 141).»Es scheint fast so, als ob die Zeit, ihrer geistig-seelischen Verwirrung müde, sich das gewaltige Verständigungsmittel, das sich im Rundfunk darstellt, schaffen musste, um die Vielfalt, das Durcheinander der Stimmen und Rufe in einen wellendurchstrahlten Bannkreis zu schlagen, dessen Peripherie unbegrenzt, dessen Mittelpunkt aber im Herzen des Hörers selbst liegt«(141). Auch hier, auch bei den engagierten, gebildeten und technisch versierten Radiomachern bleibt die Verfangenheit in das epistemologisch geprägte Äther-Paradigma («wellendurchstrahlter Bannkreis«) spürbar. Dessen Metaphysizismus lässt den doppelten Ausschluss der Sozialdimension des Radios unangetastet. Gleichwohl bewegen sich Bischoff (und mit ihm Hans Flesch, Kurt Weill, Paul Hindemith und andere) auf einem anderen, weil künstlerisch reflektierten Niveau. Noch einmal Bischoff:»Das Wort im Rundfunk hat heute die Aufgabe, zur absoluten Funkkunst hinzuführen. Eine symphonisch-akustische Gliederung literarischer Darbietungen, gerichtet in die Zeit und über die sozial-vielfältige Struktur der Zeit hinaus in das Herz des Hörers, muss, es kann gar nicht anders sein, zu einem Kunstprodukt führen, das Wort und Musik zusammenfügt und in letzter endgültiger Totalität sich als akustisches Kunstwerk, als reines Hörspiel darstellt«(144). Bischoff und mit ihm eine Generation von Künstler der 1910er bis 1930er Jahre verdichten an der Stelle des von ihnen mehr oder minder registrierten Ausfalls der Sozialdimension des Rundfunks das Postulat einer»absoluten Funk-Kunst«. Kurt Weill Unter absoluter Kunst wird heute, wie ein Blick in ein beliebiges Kunstlexikon lehrt, Kunst ohne Gegenstandsbezug verstanden oder Kunst ohne Relativierung ihrer Darstellungen durch einen Gegenstandsbezug. Dieser Kunstbegriff ist um die Jahrhundertwende 1900 entstanden, mit Kandinsky um 1910 in der sogenannten Ungegenständlichen Malerei berühmt geworden. Aber von Kandinsky

111 ABSOLUTE RADIOKUNST 91 her klärt sich der epistemologische Kontext des Begriffs der Absoluten Kunst nicht allein. Da man die Spuren zurückverfolgen kann, wie das Konzept der Absoluten Kunst in die Diskussion um die Entwicklung von Radioprogrammen und Hörformen hineingekommen ist, beginnen wir bei Kurt Weill. Er war es, der den Begriff der»absoluten Radiokunst«geprägt und schon sehr früh, im Jahre 1925, in die Diskussion gebracht hatte. Kurt Weill ist heute eher bekannt als Komponist der drei großen Songspiele»Mahagonny«,»Dreigroschenoper«und»Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«, die er zusammen mit Bert Brecht schrieb und die ein völlig neuartiges musikalisches Theater hervorbrachten, das die Entwicklung dieses Genres im 20. Jahrhundert maßgeblich bestimmen sollte. Weniger bekannt ist, dass Kurt Weill ein wichtiger publizistischer Beobachter des frühen deutschen Rundfunks war und von 1924 bis 1929 an die hundert Artikel in der damals führenden Zeitschrift»Der Deutsche Rundfunk«verfasst hat. In vieler Hinsicht sind Weills Aufsätze leicht zu unterschätzen. Der junge, noch ganz unbekannte Komponist hatte sein Geld zunächst einmal als Barpianist in den billigeren Berliner Kaschemmen verdient, bis er dann, praktisch mit dem Tag der Radioeröffnung in Deutschland, als es gerade mal 5000 Abonnenten für das neue Medium gab, in der besagten Wochenzeitschrift eingestellt wurde, um Vorschauberichte und Nachschau-Kritiken über die zahlreichen Musiksendungen zu schreiben. Alle frühen Opernübertragungen, von Mozarts Zauberflöte über Beethovens Fidelio bis hin zu Wagners Tannhäuser, werden von ihm rezensiert. Sein Diskurs ist auffallend sachlich und ohne jeden metaphysischen Pomp. Schnell ist seine Position in der Zeitschrift so gut, dass er auch zu anderen Themen schreiben kann und schreibt. Er hat ja überdies eine einmalige Chance. In den fünf Jahren, in denen Kurt Weill als Radiorezensent arbeitet, entwickelt sich das Radio aus seinem Experimentalstadium heraus zu einer Vorform des Massenmediums. In vielen seiner kurzen Texte entwickelt er Thesen über das zeitgenössische Radio, die ihn als Medientheoretiker auf eine Stufe mit Benjamin und Brecht stellen. Nicht umsonst finden wir bei Weill denn auch eine der wenigen klaren und unumwundenen Defizitdiagnosen des Mediums Radio in der Weimarer Republik, wie sie deutlicher nicht sein könnte. Der schwerste Fehler des politischen Lebens»Vom ersten Anfang des deutschen Sendedienstes an haben die leitenden Stellen eine solche Ängstlichkeit gegenüber den politischen Tagesfragen gezeigt, daß die Behandlung politischer Probleme heute zu den heikelsten Themen des gesamten Sendedienstes zählt. (...) Es ist auf die Dauer ein unhaltbarer Zustand, daß die wichtigen außen- und innenpolitischen Fragen, von denen oft die Geschicke Deutschlands abhängen, und die auch vielfach in das Privatleben des einzelnen hineinspielen, im Rundfunk so gut wie gar nicht berücksichtigt werden und höchstens einmal nachträglich in Form eines Vortrages behandelt werden, wenn sie längst nicht mehr aktuell sind. Ist es richtig, daß der Rundfunk sich prinzipiell dem Kampf der Parteien fernhalten muß? Die Politik gehört heute zu den weni-

112 92 KULTURINSTRUMENT RUNDFUNK gen großen Gebieten, die von den breitesten Massen der Bevölkerung mit großer Aufmerksamkeit verfolgt werden. (...) Eine der schönsten Aufgaben des Rundfunks könnte darin bestehen, die breiten Massen des deutschen Volkes, an die ja nur er herankommt, zu einer realen politischen Denkweise hinzuführen. (...) Eine solche Einbeziehung der Politik in die Rundfunkprogramme mit dem Ziele einer politischen Ertüchtigung des deutschen Volkes könnte mit Leichtigkeit so durchgeführt werden, daß die Angehörigen aller Parteien zu ihrem Rechte kämen. Man müßte dann Vertreter aller Parteien veranlassen, zu dem betreffenden politischen Tagesproblem Stellung zu nehmen, und zwar ohne den Standpunkt nach irgendeiner Seite zu nivellieren oder der Meinung des»allgemeinen Publikums«anzupassen. So würde sich hier zum ersten Male die Gelegenheit bieten, einen der schwersten Fehler des politischen Lebens, die Unkenntnis des Standpunkts der Gegenpartei, zu beseitigen«(weill 2000, 381). Weill erkennt den Grundmangel und den Grundfehler der deutschen Radiogründung und ist damit einer der wenigen Publizisten der Weimarer Republik, die gegen das Bredowsche Verdikt von der Politikfreiheit des Radios Einspruch erheben. Unter ihnen ist er sicher der nüchternste und illusionsloseste. Tucholsky beispielsweise hat 1926 ebenfalls den»patriotischen Rundfunk«attackiert. Der sei so,»wie wenn einer sagt: Wir erlauben die neuen Automobile, die da aufgekommen sind; aber es dürfen nur Generäle und nationale Studenten darin fahren«(in Schneider 1984, 208). Weill dagegen bleibt unpolemisch und klar in seinen Analysen. Zugleich gibt er weder den Kulturanspruch des Radios auf, noch spielt er ihn gegen eine Politisierung des Mediums aus. Seinen Überlegungen ist wenig hinzuzufügen, weil sie dem Stand unserer heutigen Dinge entsprechen. Unnötig hinzuzufügen, dass Weill wie Tucholsky, Max Brod oder Ernst Bloch einflusslos blieben. Der neusachlichen Nüchternheit der Weillschen Position gegenüber dem Öffentlichkeitsausschluss des Radios entspricht seine Kritik des Kulturbegriffs als instrumentelles Substitut. Weill versteht zu viel von Kultur, speziell von der Musikkultur der letzten Jahrhunderte, um nicht zu sehen, dass bloße Übertragungen von Opern und Schauspielen eins zu eins dem Medium Radio kulturell und künstlerisch nicht gerecht werden. Deswegen prägt und propagiert er ab 1925 den Begriff der»absoluten Radiokunst«. Es ist eine Begriffsprägung, die an neue Tendenzen im Film anknüpft, um daraus einen auch für den damaligen Kulturdiskurs eher ungewöhnlichen Horizont zu erschließen. Absoluter Film»Möglichkeiten absoluter Radiokunst«heißt Kurt Weills programmatischer Artikel, der Aufmacher des 26ten Heftes von»der Deutsche Rundfunk«aus dem Jahr In die Artikelspalten eingearbeitet finden wir die Wiedergabe von abstrakten Grafik-Entwürfen zu einem sogenannten»absoluten Film«von Viktor Eggeling.»Ein geometrisches Thema wird aufgestellt und wird dann in allen möglichen Umgestaltungen, nach rein musikalischen Gesetzen verarbeitet«(weill 2000, 267).

113 ABSOLUTE RADIOKUNST 93 Pionier dieses abstrakten, oder wie Weill und Eggeling sagen: absoluten Films war Walter Ruttmann, den Weill auch namentlich in seinem Artikel erwähnt. Der abstrakte Film also ist der terminus a quo für die neue Definition einer»absoluten Radiokunst«, die Weill zu definieren versucht. Was sieht man in einem absoluten Film, den man kennen muss um absolute Radiokunst zu verstehen?»farbiger Schaum und Seifenblasen tanzten und schwebten über die Leinwand, Springbrunnen und Fontänen aus Licht und Schatten schossen in die Unendlichkeit, große Wellen, wie eine donnernd aufschlagende Brandung mit ihrem großartigen Klang kamen angaloppiert, wurden hochgeschleudert, zitterten in der Luft, stiegen auf zu einem Crescendo. Und sie streuten eine längliche Perlenlinie aus, oder war es ein dünner glitzernder Sprühregen, der einen hohen Ton hinwegwusch, der jedoch noch lange nachklang, durchdringend und ekstatisch. Kugeln und runde Scheiben in harmonischen Farben kamen ins Blickfeld, gerollt, einige prallten, wütend wie von Kanonen abgeschossen, andere sanft und heiter wie Spielzeugballons aufeinander, manche küßten sich oder stießen einander zurück oder vereinigten sich miteinander wie weiße oder rote Blutkörper. Abb. 22 Walter Ruttmann»Opus IV«, 1924 Scharf wie Splitter schössen Dreiecke durch den wilden Sturzbach der Formen. Wolken kamen auf, breiteten sich auslösten sich auf, verschwanden. Feuerschlangen flammten durch diese gemalte Musik: ohne Zweifel ein farbiges Echo einer herausragenden Note«(in Goergen 1989, 100). So beschrieben Zeitgenossen den Eindruck dieser abstrakten Filme, die in den frühen zwanziger Jahren vielfach in den Kinos liefen. Allerdings, und das macht die Sache komplizierter: Weill ist ein Anhänger der Idee, aber kein Freund ihrer Realisierung.»Diese abwechslungsvolle Aneinanderreihung rein optischer Gestaltungskräfte, dieses kontrapunktische Ineinandergehen von Linien und Kreisen, zu denen schließlich auf dem Höhepunkt als ausdrucksvollste Komponente die Farbe hinzukommt, ( ), es kann wohl einen Ausdruck vermitteln, aber das, was ausgedrückt werden soll, fehlt: die Seelenhaftigkeit, der innere Gesang. Dieser Mangel am Wesentlichen macht den absoluten Film zum Kunstgewerbe«(Weill 2000, 267).

114 94 KULTURINSTRUMENT RUNDFUNK Weill hält zwar an der Idee des absoluten Films fest, weil hier auf der Ebene völliger Ungegenständlichkeit nur das Filmische, nur die Bewegung von Figurationen in der Zeit Thema wird. In Bilder umgesetzt, überzeugen aber den neusachlichen jungen Komponisten diese expressionistischen Fiktionen nicht. Und da er auch weiß, wie intensiv sich längst die Werbewirtschaft dieser neuen grafischen Trickfilmtechniken angenommen hat, und Fischinger, Eggeling und Ruttmann inzwischen sehr gutes Geld mit ihren sogenannten absoluten Filmen verdienen, die in Wahrheit für Liköre (und auch Rundfunkgeräte) werben, platziert er diese Kunstrichtung dorthin, wo wir Nachgeborenen sie ebenfalls platzieren sollten, nämlich in die Anfänge der kunstgewerblichen Produktionen der optischen Werbung. Akustische Zeitlupe Dennoch: Der Begriff des absoluten Films gibt Weill die Blaupause für die Forderungen nach einer absoluten Radiokunst. Man ahnt, was er meint, wenn man die handgemalten kolorierten Filme Ruttmanns oder Eggelings sieht. Irgend so etwas muss doch auch mit dem Radio möglich sein, vermutet Weill.»Was der Film an Neuem gebracht hat: den fortwährenden Szeneriewechsel, die Gleichzeitigkeit zweier Geschehnisse, das Tempo des wirklichen Lebens und das überlebensgroße Tempo der Persiflage, die marionettenhafte Wahrhaftigkeit des Trickfilms und die Möglichkeit, eine Linie von ihrer Entstehung bis zu ihrem Übergang in andere Formen zu verfolgen all das auf akustische Verhältnisse übertragen muß das Mikrophon auch schaffen. Wie der Film die optischen Ausdrucksmittel bereichert hat, so müssen die akustischen durch die Rundfunktelephonie ungeahnt vermehrt werden. Die»akustische Zeitlupe«muß erfunden werden und vieles andere. Und all das könnte dann zu einer absoluten Radiokunst führen«(weill 2000, 268). Aber wie?»klänge aus anderen Sphären: Rufe menschlicher und tierischer Stimmen, Naturstimmen, Rauschen von Winden, Wasser, Bäumen und dann ein Heer neuer, unerhörter Geräusche, die das Mikrophon auf künstlichem Wege erzeugen könnte, wenn Klangwellen erhöht oder vertieft, übereinandergeschichtet oder ineinanderverwoben, verweht und neugeboren werden würden. Um das Wichtigste nochmals zu betonen: Ein solches Opus dürfte kein Stimmungsbild ergeben, keine Natursinfonie mit möglichst realistischer Ausnutzung aller vorhandenen Mittel, sondern ein absolutes, über der Erde schwebendes, seelenhaftes Kunstwerk mit keinem anderen Endziel als dem jeder wahren Kunst: Schönheit zu geben und durch Schönheit den Menschen gut zu machen«(269). Durch diese Zeilen überträgt sich ein Kunstideal, dem Weill aus ganz anderer Herkunft anhängt, die er auch nie verleugnet hat. Es ist die Tradition seines großen Lehrers Ferruccio Busoni. Sie bildet die zweite wichtige Quelle für das Konzept einer absoluten Radiokunst, wie sie die ästhetischen Radiomacher des Weimarer Radios fordern.

115 ABSOLUTE RADIOKUNST 95 Busoni Über die kunstgewerbliche Verflachung des abstrakten Films despektierlich reden, ohne das Kunstideal eines absoluten Kunstwerks aufzugeben, kann Kurt Weill deshalb, weil er sich weniger auf den Expressionismus eines Vassily Kandinsky als vielmehr auf Ferruccio Busonis»Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst«von 1907 bezieht. Ferruccio Busoni war einer der besten Pianisten und Dirigenten seiner Zeit, zudem ein herausragender Komponist, der für einige Jahre zum wichtigsten Lehrer Kurt Weills wurde. Busoni ging es darum, Musik jenseits der Tonalität und jenseits der Differenz zwischen Komposition und Interpretation zu denken und zu fordern. Musik ist für Busoni ein Absolutes, ist wie»tönende Luft und über die Luft hinausreichend; im Menschen selbst ebenso universell und vollständig wie im Weltenraum; denn sie kann sich zusammenballen und auseinanderfließen, ohne an Intensität nachzulassen«(busoni 2001, 53). Für den Busoni-Schüler Kurt Weill wird das Radio zum Medium einer künstlerischen Perspektive, wie sie Busoni vorschwebte. Auch Busonis Pathosformel einer»neuen (Ton)-Kunst«ist inspiriert von elektrischen Experimentationen seiner Zeit. Wenn Kurt Weill für die geforderte absolute Radiokunst ein»heer neuer, unerhörter Geräusche«fordert,»die das Mikrophon auf künstlichem Wege erzeugen könnte, wenn Klangwellen erhöht oder vertieft, übereinandergeschichtet oder ineinanderverwoben, verweht und neugeboren werden würden«(53), dann hat diese Forderung, so blumig abstrakt sie klingen mag, einen sehr handfesten Hintergrund. Busoni selbst nämlich hatte für seine Ästhetik der Neuen Tonkunst eine wesentliche Referenz in einem elektrischen Apparat gefunden, der sich sehr detailliert in Busonis Programmschrift beschrieben findet. Abb. 23 Der Spieltisch des Telharmoniums von Cahill

116 96 KULTURINSTRUMENT RUNDFUNK Cahills Telharmonium» Dr. Thaddeus Cahills Erfindung. Dieser Mann hat einen umfangreichen Apparat konstruiert, welcher es ermöglicht, einen elektrischen Strom in eine genau berechnete, unalterable Anzahl Schwingungen zu verwandeln. Da die Tonhöhe von der Zahl der Schwingungen abhängt und der Apparat auf jede gewünschte Zahl zu stellen ist, so ist durch diesen die unendliche Abstufung der Oktave einfach das Werk eines Hebels, der mit dem Zeiger eines Quadranten korrespondiert«(52) Die hier beschriebene Gerätschaft ist nicht anderes als eine der Vorformen der modernen Syntheziser, Dynamophon oder Telharmonium genannt, erbaut von einem Juristen und genialen Amateurbastler im Jahre 1900.»Für sein Instrument, das [Cahill] bezeichnenderweise Dynamophone nannte, verwendete er zwölf Wechselstromgeneratoren einen für jeden Ton der chromatischen Skala, wobei jeder Generator so eingerichtet war, dass er neben dem Grundton noch sieben Obertöne einzeln erzeugen konnte.(...) Der Erkenntnis folgend, daß die Klangfarbe eines Instrumentaltons abgesehen vom Einschwingvorgang wesentlich von Art und Stärke der darin enthaltenen Obertöne abhängt, setzte Cahill nun bekannte und neue Klänge aus den Wechselströmen eines oder mehrerer Generatoren zusammen. Das erste Instrument wurde im Jahre 1900 in Washington vorgeführt; bis 1906 entstand... ein weiteres Instrument groß wie eine Maschinenhalle mit 145 Dynamos, das man in der Telharmonic Hall in New York aufstellte. Für einige Zeit war es so für die New Yorker Fernsprechteilnehmer möglich, über ihr Telefon Musikdarbietungen des Telharmoniums wie das Instrument jetzt nach seinem neuen Standort hieß zu empfangen«(block 1980, 48). Für Busoni und wohl auch für Weill war diese revolutionäre Erfindung eines vollkommen synthetischen Klangerzeugers von fundamentaler Bedeutung. Denn gleich mehrere unlösbar erscheinende Probleme der bisherigen Musikentwicklung schienen jetzt lösbar. Das tonale System war aufgehoben, denn das frequenzbasierte elektrische Dynamophon (ein ganzer Maschinensaal voll Gerät) konnte jeden beliebigen Ton erzeugen und durch Hinzumischung von beliebigen Obertönen im Prinzip auch jeden beliebigen Klang. Zweitens war damit die Fesselung der Musik und der Komposition an bestimmte Instrumentationen gelöst und damit drittens der Weg für Busonis Utopie der Musik geöffnet, die in einer Musik ohne Interpreten bestand.»die Instrumente sind an ihren Umfang, ihre Klangart und ihre Ausführungsmöglichkeiten festgekettet, und ihre hundert Ketten müssen den Schaffenwollenden mitfesseln«, hatte Busoni geschrieben.»dazu gesellt sich die Manieriertheit der Instrumentalisten in der Behandlung ihres Instrumentes«(Busoni 2001,41). Das alles konnte jetzt vergessen sein, nach der Erfindung Cahills, die Busoni so enthusiastisch feiert. Jetzt endlich war sie möglich geworden, die»absolute Musik!«(14). Dass Ferrucio Busoni, einer der genialsten Komponisten und Musiker der Jahrhundertwende 1900, einer elektrische Maschine, einem Dynamophon, das er selbst weder gehört, noch gesehen, noch je gespielt hatte, von dem er nur eine,

117 ABSOLUTE RADIOKUNST 97 wenn auch umfängliche, Beschreibung kannte, die Eignung zuschreibt, Inbegriff einer neuen»absoluten Musik«zu werden, ist schon erstaunlich. Zu erklären ist diese gleichsam blinde Entschiedenheit dieser Programmatik nur, wenn man den epistemologischen Horizont, also die Äther-Elektrizität und ihre Allkraft-Phantasmatik noch einmal einbezieht. Noch einmal: Das Dynamophon existierte, es spielte, es machte Töne aus Elektrizität. Und zwar auf eine so neuartige und zugleich alles Wissen über Töne und Klänge der Zeit einbeziehende Weise, dass man darauf setzen konnte, wenn man dieser Epistemologie der Elektrizität zudem ontologische und metaphysische Eigenschaften zuschrieb.»nehmen wir es uns doch vor, die Musik ihrem Urwesen zurückzuführen; befreien wir sie von architektonischen, akustischen und ästhetischen Dogmen; lassen wir sie reine Erfindung und Empfindung sein, in Harmonien, in Formen und Klangfarben (denn Erfindung und Empfindung sind nicht allein ein Vorrecht der Melodie); lassen wir sie der Linie des Regenbogens folgen und mit den Wolken um die Wette Sonnenstrahlen brechen; sie sei nichts anderes als die Natur in der menschlichen Seele abgespiegelt und von ihr wieder zurückgestrahlt«(53). Radio-Trautonium Hier liegt auch das Bindeglied zwischen Busonis Absolutem und Kurt Weills Konzept der absoluten Radiokunst. Das»Heer neuer, unerhörter Geräusche«, das Weill für den Rundfunk fordert,»die das Mikrophon auf künstlichem Wege erzeugen könnte, wenn Klangwellen erhöht oder vertieft, übereinandergeschichtet oder ineinanderverwoben, verweht und neugeboren werden würden«, das ist, so gesehen, mehr als eine blumige Äußerung frommer Wünsche. Weill ist in dem gleichen epistemologischen Kontext zu Hause wie sein Lehrer Busoni, und er weiß, dass ein Radio, das auf der Reproduktion elektrotechnischer Verfahren basiert, im Sinne eines Cahillschen Dynamophons oder im Sinne des abstrakten Films, Möglichkeiten einer gleichermaßen absoluten Kunstform haben könnte. Wie diese»arteigene Rundfunkkunst«aussehen soll, das weiß er 1925 oder 1927 noch nicht. Cahills Maschinenhalle namens»teleharmonic Hall«, die man inzwischen in New York aufgebaut hatte, und in welche Besitzer eines Telefons sich zu satten Preisen einschalten konnten, um rein elektroakustische Klänge zu empfangen, diese Gerätschaft hatte sich nicht bewährt, weil weder Cahill ein Musiker war, noch andere Musiker oder Komponisten das Instrument spielen wollten (Block 1980, 48ff). Weill kann auch noch nicht wissen, dass zwei Jahre später, also 1927, die»rundfunkversuchsstelle«gegründet werden wird, in der Paul Hindemith, der Komponist, und Oscar Sala, ein Musiker und Ingenieur, tatsächlich ein Instrument entwickeln und bauen werden, das wie kein zweites von Busonis Traum inspiriert ist. Es hiess Trautonium. Es wurde u.a. von Alfred Hitchcock zur Vertonung seines Filmes»die Vögel«eingesetzt, weil nur das Trautonium jene unheimlichen Geräusche erzeugen konnte, die wie echt klingen

118 98 KULTURINSTRUMENT RUNDFUNK sollten. Harald Genzmer und Paul Hindemith haben zahlreiche und bis heute gültige Kompositionen für dieses elektroakustische Musikinstrument erstellt. Seit den 1960er Jahren hat allerdings der vom Ingenieur und Komponisten Robert A. Moog entwickelte Syntheziser die Entwicklung der elektroakustischen Musik völlig überholt und mit seinem Einsatz in der elektronischen Pop- Musik von»the Zodic«über»Tangerine Dream«bis hin zu den Hip-Hoppern der Gegenwart einen Siegeszug vollzogen, der niemanden heute mehr daran gemahnen würde, dass ursprünglich einmal elektroakustische Musikinstrumente für die Utopie einer»absoluten Musik«Pate gestanden haben und sich ihr verdanken. Abb. 24»Radio-Trautonium«, 1933 Dass das Trautonium in seinen ersten Entwicklungsstufen in den dreißiger Jahren tatsächlich als integrierter Rundfunkempfänger angepriesen wurde, zeigt, wie eng die Verknüpfung von Rundfunk- und elektroakustischer Tongeberforschung in Deutschland gediehen war. Es ist nicht mehr festzustellen, ob es tatsächlich gelang, viele Rundfunkhörer zu dieser Extension ihres Gerätes zu bewegen. Sie mussten sich für das Volkstrautonium, das Mitte der 30er Jahre auf den Markt kam, ein Bedien- Bord hinzu kaufen, auf dem dünne Metallblättchenangebracht waren, die man sowohl drücken als auch ein wenig reiben musste, um die verschiedenen Töne zu erzeugen.»pauke wie Flöte und nie gehörte Klangeffekte«waren damit möglich, und doch ist das Volkstrautonium, wie so viele andere tote Medien der Mediengeschichte, heute schlicht und einfach vergessen. Es sei denn, man schaut auf die glänzende WEB-Page von Bruce Sterling, auf der eine weltweite Gemeinde seit Jahren der Tausenden von toten Medien gedenkt, die die Mediengeschichte auf ihrem Weg zurückgelassen und vergessen hat (

119 ABSOLUTE RADIOKUNST 99 Ich habe in diesem Zusammenhang nur auf die beiden toten Medien»Dynamophon«und»Trautonium«hinweisen wollen und müssen, weil beide Medien zu einem Zeitpunkt, wo es sie noch nicht gab, oder als sie gerade im Entstehen waren, eine fiktive und ideologische Überdetermination erfahren haben, nämlich, im Falle Busoni, als Inbegriff einer»neuen Tonkunst«, oder, im Falle Kurt Weill, als Inbegriff einer»absoluten Radiokunst«. Technische Geräte der Elektrizität stehen hier deshalb als Inbegriff eines Erwartungshorizontes in Rede, weil die Elektrizität selbst in der Ätherphysik der Jahrhundertwende die Ontologie eines»geistigen«in der Materialität und der Dimensionalität der wirklichen Welt verspricht. Kurt Weill transportiert 1925 diesen Begriff der»absoluten Kunst«in die Rundfunkdiskussion hinein, indem er ihn erstens von Busoni und zweitens vom Absoluten Film her nimmt. Auf eine gewisse Weise kann er damit rechnen, dass der elektronische Klangerzeuger Radio hier früher oder später mit einer eigenen Klangwelt wird nachziehen können und müssen. Allerdings, und das zeigen die Texte Kurt Weills auch: Bei ihm, der offenbar genug Radio gehört hat in diesen frühen Jahren, gibt es keine technizistische Medienphantasmatik in dem Sinn, dass er glaubt, die Entwicklung der Radiokunst sei ein technisch oder künstlerisch deterministischer Prozess.»Zunächst«, schreibt Weill,»gilt es, den Rundfunk für die breiten Massen, für das Volksempfinden zu einer Selbstverständlichkeit, zu einem Lebensbestandteil zu machen. Erst auf dem Boden eines feststehenden Begriffs, einer wohlvertrauten und beliebten Gegebenheit läßt sich etwas Wesentliches errichten«(weill 2000, 269). Zu einem Medium aber, das Lebensbestandteile, also soziale Fragen vermittelt, war der Weimarer Rundfunk nicht angetreten. Hallo Welle Erdball Fritz Walter Bischoff, technisch versierter und künstlerisch hoch engagierter Intendant der»schlesischen Funkstunde«, hat die»absolute Radiokunst«, die Weill forderte, programmatisch weiterverfolgt. Eine Konnotation, die man diesem Begriff ja nicht ansieht, die aber aus seinem Kontext stammt, ist das, was die Zeitgenossen»die Maschine«nannten. Vor allem der Frankfurter Rundfunkgründer Hans Flesch, aber auch Fritz Walter Bischoff in Breslau, hielten nichts davon, das Radio auf ein reines Übertragungsinstrument von Theaterstücken, Opern oder sonstigen Singspielen zu reduzieren. Flesch und Bischoff wissen, was zu seiner Zeit nur wenige wissen. Nämlich dass es im Radio ein vor dem Mikrophon sich abspielendes Originalkunstwerk nicht geben kann. Stattdessen muss Radio produzieren und das hieß, sich eines Tonträgers bedienen.»friedrich Bischoff lieferte die praktische Verwirklichung dieser Idee. Anschließend an [eine] Arbeitstagung der Reichsrundfunkgesellschaft 1930 wurde den Teilnehmern im Funkhaus Bischoffs fixierte Hörfolge Hallo, hier Welle Erd-

120 100 KULTURINSTRUMENT RUNDFUNK ball, aufgenommen auf einem vom Bildstreifen abgetrennten Tonstreifen des Films, vorgeführt«(funke 1962, 43). Damit war der Ausgangspunkt zur Entwicklung der neuen technischen Speichermedien geschaffen, ab 1941, was Deutschland betrifft, des Tonbandes, ab den 90er Jahren dann die Digitalen Speicher auf Festplatten, CDs oder DVDs. Bis zum Jahr 1930 aber waren alle Hörfunksendungen inklusive aller Hörspiele und sonstiger literarischer Sendungen als Live-Sendungen realisiert worden. Auch liegt gibt es einen großen Unterschied zur amerikanischen Entwicklung, wo Radio-Serials schon sehr früh zunächst auf Schallplatte aufgenommen, und dann bei verschiedenen Radiosendern zur gleichen Zeit gesendet wurden. In Deutschland aber waren Aufzeichnungsgeräte in den Funkhäusern nicht vorhanden. Brauchbare akustische Aufzeichnungsgeräte gab es überdies erst in der Folge der Erfindung des Tonfilms. Alle vor-produzierten Hörspiele Bischoffs wurden auf diesem (sehr teuren) Zelluloid hergestellt.»bei diesem sogenannten Tri-Ergon-Verfahren handelte es sich um die Umwandlung von Schallwellen in Elektrizität, Licht, Bromsilberschwärzung des Films und rückläufig wieder in Licht, Elektrizität und Schallwellen, ohne daß dabei der Charakter der Schallwellen eine Deformation zu erfahren brauchte«(43). Eine Revolution im Medium Audio: Schneiden, kürzen, umstellen, Inserts, all dies war jetzt zum ersten Mal in der deutschen Radiogeschichte möglich. Indem Bischoff die Mechanik des Filmstreifens (so der zeitgenössische Ausdruck) zu Hilfe nahm, konnte er montieren und erst mit dieser Montage» eine rhythmische Exaktheit und eine Freiheit in der Wahl der Klangmittel «erreichen, wie zeitgenössische Kritiker schrieben,» die von keiner unmittelbaren Sendung erreicht wurde «.»Hallo! Hier Welle Erdball! Hallo! Hier Welle Erdball! Symphonie der Zeit! aus dem Äther schwingt sie, schwillt sie und donnert heran. Es geht nicht um Himmel, Hölle und Ewigkeit, aber Euch, die ihr hört, geht es an. Bruchstücke, Wortfetzen, Augenblicke, aufleuchtende, wieder verdämmernde Menschengeschicke. Jagd nach Glück, Kampf um Geld und Besitz, es klingt vorüber, zuckt auf Blitz um Blitz. Bitte suchen Sie nicht nach Zusammenhängen. Alles soll einfach sein, ohne Kunst, hörbares Leben, aus dem ersten Knockout soll sich kein Drama ergeben, aus dem zweiten kein Lustspiel, aus dem dritten kein rührsam Gedicht. Empfangen Sie bitte das ganz wie einen Zeitungsbericht. Wählen Sie aus, was Ihnen am besten gefällt, der Erdball meldet sich! Symphonie der Welt! London Fußballmatch, Japan Urwaldkampf, Ministerkrise, die Straße in Lärm und Gestampf, Zwischendeckpassagiere, Amerikareise, ruhlos dreht sich die Erde im Kreise. Achtung! Einschalten zum ersten Bild:

121 ABSOLUTE RADIOKUNST 101 Maschinen rasen! Das Telephon schrillt! Gut so! Wir fangen an! Alles am Ort? Hallo! Hier Welle Erdball! Wer dort?«(bischoff 1929) Die skandierende Lyrik der vom Ansager umreimten Szenen in»hallo! Hier Welle Erdball«führt uns zu der These vom Radioruf zurück. Denn Gegenstand von Bischoffs Hörfolgencollage ist im buchstäblichsten Sinn der Ruf des Radios, in dem die Welt widerhallt und in dem die Welt aufgerufen wird und die HörerInnen durch den gereimten Duktus stets in der Performanz eines Rufes und des Gerufen-Werdens zugleich gehalten werden.» Die Stimme der Zeit ruft dich an. Was liest du. Also, was liest du, Mädchen, Frau, Mann? Wer ist Kaufmann? Handwerker? Oder Arbeiter mit Schaufel und Beil? Wo stehst du im Inseratenteil? «(in Vowinckel 1995, 55)»Hallo«, der signifikanteste und zugleich alltäglichste Rufausdruck, durchzieht das Stück, das dadurch nicht zuletzt auch ein Stück über das Radio selbst wird.»im Grunde genommen ist Bischoffs Hörspielversuch die spielerische Präsentation von Rundfunk«, sagt beispielsweise der Radiotheoretiker Döhl, nämlich»eines Rundfunkprogramms, das sich zusammensetzt aus den Programmbestandteilen Nachricht, Musik und Kultur, wobei weder seine sensationelle Richtung (Flesch) noch seine Unterhaltungsaufgabe geleugnet werden«(in Vowinckel 1995, 56). Dieser Einschätzung kann man zustimmen, wenn man zugleich die Realitäts-Distanz deutlich genug markiert, die dieses vielleicht wichtigste und zugleich letzte große Hörspiel des Weimarer Rundfunks vor seinem Untergang in das Nazi- Radio deutlich erkennen lässt. Bischoff geht mit der permanenten Inszenierung des selbstbezüglichen Rufs bis an die Grenze der Melancholie der Balladenform, in der Geschwindigkeit durch sublimierte Geschwindigkeit und Atemlosigkeit durch sublimierte Hast dargestellt werden.»hallo Welle Erdbal«l artikuliert damit, in der Distanz einer Kunstform, ein durch»geschwindigkeit und Fragmentierung geprägte[s] Zeitgefühl«(56).»Ein Ausschnitt nur, Momentaufnahme, aber so ist das Leben, liebe Dame!«

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123 Hans Flesch Das erste je im Deutschen Radio gesendete Hörspiel hieß»zauberei AUF DEM SENDER«, ausgestrahlt am 24. Oktober 1924 in Frankfurt. Wenige Monate nach der Gründung von»radio Frankfurt«wurde es geschrieben, und aufgeführt zum ersten Jahrestag der Einführung des Rundfunks in Deutschland gab es keine Aufzeichnungsmedien in deutschen Funkhäusern. Das Originalskript erschien gleich nach der Ausstrahlung in der Wochen-Zeitschrift»Funk«, Untertitel:»Versuch einer Rundfunkgroteske«. Es ist eine frühe, eine erste und eine in seiner Art einmalige Selbstreferenz des Rundfunks auf den Rundfunk. Hörspielgeschichtlich bildet die»zauberei auf dem Sender«von 1924 eine absolute Ausnahme. Es ist ein vollständiges Gegenstück, ein kontingentes, weil völlig unintendiertes Dementi des Deutschen Hörspiels, das danach folgen sollten. Die»Zauberei«ist keine Adaption eines Theaterstoffs, wie Hunderte und aberhunderte Hörspiele danach. Keine Erkundung des Wesens der Worte und der Musik, wie Fritz Walter Bischoff später seine Hörfolgen verstanden wissen wollte. Es ist kein Lehrstück im Sinne von Brechts Lindberghflug und keine»absolute Radiokunst«, wie Kurt Weill sie später einfordern und Walter Ruttmann sie in seiner Radiocollage realisieren sollte. Weil es das alles nicht ist, ist es für die Medientheorie und Radiohistorik so wichtig, dieses Stück genauer zu betrachten. Am wenigsten ist wichtig, dass es das erste Hörspiel der Hörspielgeschichte ist. Man könnte sie eine frühe Sitcom nennen, wenn es das 1924 schon gegeben hätte. Oder eine frühe Soap. Allerdings: Die Soaps im US-Hörfunk entstehen frühestens ein paar Jahre später. Also worum geht es? Als Akteure im Spiel haben wir den Chef von Radio Frankfurt selbst, nebst seinem so genannten künstlerischen Assistenten, dazu den Ansager, ein kleines Funkorchester, einen Mann namens»elektrischer Kapellmeister«, den Techniker, also kurz gesagt, wir haben die typischen Beschäftigten einer frühen Radiostation, die sich selbst spielen. Unerwarteterweise platzt nun die Märchentante, die eigentlich nachmittags ihre Sendung ist, in die Eröffnung des Abendkonzertes hinein. Und damit gehen die Probleme los. Inmitten des Chaos taucht der Chef auf.»wo ist das Schreibfräulein, wir müssen eine Notiz verfassen Sind Sie soweit?ja, Herr Doktor«, antwortet das Fräulein (Flesch 1924, 543). Der Titel stimmt. Der»wirkliche«Hans Flesch, amtierender Chef von»radio Frankfurt«, war Doktor, genauer Mediziner von Beruf, Assistent am Frankfurter Röntgeninstitut, bevor er seine Karriere dem Abenteuer eines neuen Mediums überließ.

124 104 HANS FLESCH Während er eine Aktennotiz über eine Störung schreibt, geschieht die nächste. Der Plot der»zauberei auf dem Sender«ist genau das: die Rückkoppelung von Störungen durch Störungen. Kratzgeräusche, seltsame Nachrichten und tiefe Tubatöne dringen in das Ohr des Doktors und das seiner Zuhörer. Verzweifelt ruft Flesch nach seinem Assistenten, Herrn Schön. Ernst Schoen Gemeint ist Ernst Schoen, der Programmchef des Frankfurter Rundfunks. Mit ihm hatte Flesch vom ersten Tag an zusammen gearbeitet. Ein ausgebildeter Musiker und Komponist, Student von Ferrucio Busoni und Edgar Varese. Und dazu: Einer der engsten Jungendfreunde Walter Benjamins. Ohne Ernst Schoen, dies nur am Rande, hätte Benjamin nie den Weg ins Radio gefunden. Benjamin hat drei Jahre vom Rundfunk gelebt und dabei insgesamt 87 Sendungen geschrieben. Über 80 davon sprach er selbst live am Mikrophon ein (kein einziges Tondokument ist erhalten). Arbeitgeber aller seiner fast 90 Sendungen zwischen 1929 und 1932: Hans Flesch, erst in Frankfurt, dann in Berlin.»Schoen, haben sie das am Kontrollapparat gehört?«fragt der Doktor im Spiel. Und wieder multiplizieren sich die Störungen, denn Schoen sagt, er habe nichts gehört. Jetzt ist Flesch derjenige, der Störungen gehört hat und auch noch behauptet, die Hörer hätten das auch. Aber niemand im Studio hat etwas gehört.»ja, Herr Doktor, wir haben ich meine es ist doch eben gar kein Musikstück gewesen es war doch gar nichts zu hören...«und Flesch antwortet:»sag mal, hältst Du das für möglich kann das sein?was?nun, daß eine Musik erklingt, ohne daß jemand spielt. Kannst Du das verstehen?«in die größte Konfusion hinein schmuggelt Flesch, der Autor, der Hauptdarsteller, der Intendant, der Radiochef, die Schlüsselfrage seines Stücks. Man mag die»zauberei«nicht eben für ein großes Stück Literatur halten. Gleichwohl stellt es eine fundamentale Frage. Wie später Kurt Weill, Fritz Walter Bischoff und all die anderen Avantgardisten des Weimarer Hörspiels nach einer»absoluten Kunst«fragen werden, so fragt hier, so ganz nebenbei, der Intendant Hans Flesch:»Kann es eine Musik geben, die ohne Instrumente gespielt wird?«1924, so scheint es, ist das Zauberei. Thema der Zauberei ist die Simulation, dass etwas gespielt wird, ohne dass es gespielt wird. Denn wenn, so die einfache Überlegung des Stücks, wenn durch das Radio Violinen und Orchester auf elektroni-

125 »ZAUBEREI AUF DEM SENDER«, 105 schem Wege in unsere Ohren gelangen, könnten sie dann nicht auch in unsere Ohren gelangen, ohne dass sie gespielt werden? Das in der Tat ist ein ziemlich fundamentales und deswegen auch, im Oktober 1924,»groteskes«Experiment. Jetzt nämlich denkt jeder wir sind wieder zurück im Stück, dass Doktor Flesch verrückt geworden sei. Also wird für den Doktor nach dem Doktor gerufen, aber kein Arzt erscheint für den Arzt, sondern der Zauberer. Störungen Hans Flesch, Facharzt der Röntgenmedizin, von daher geschult im Umgang mit Röhren, kennt den Zauber des Radios von seinen technischen Bedingungen her gut. Theoretisch und im Wissen eines Technikers von 1924 wurden Radiowellen verursacht als Störungen und Vermischungen des Äthers, hervorgerufen durch elektronisch rückgekoppelte Oszillationen in den Senderöhren, die elektromagnetische Wellen in den Äther ausstrahlen. Diese technischen Bedingungen sind es, auf die Flesch in seinem Stück von 1924 unmittelbar anspielt. Nicht einmal sieben Jahre zuvor, im Jahr 1917, hatte Hans Bredow auf den verlassenen Schlachtfeldern in der Champagne die ersten röhrengestützten Radioübertragungen ausprobiert. Jetzt, noch kein Jahrzehnt später, sind Röhren überall in Gebrauch. Millionenfach. Das Zivilradio, restringiert auf Unterhaltung und eingezwängt in die Funktion eines bloßen»kulturinstruments«, war in den Augen Bredows der willkommene Treiber für den Röhrenbau. Sie steckten in jedem Gerät.»Der Zauberer: (zum Apparat) Meine Damen und Herren, sehen Sie fest ganz fest in Ihren Apparat, in die Glühfarben Ihrer Verstärkerröhren, auf das Krystall Ihres Detektors ich zähle bis drei auf drei sehen Sie mich alle, Achtung, eins zwei... Elektrischer Kapellmeister: Aber Herr, das ist doch wahnsinnig! Der Leiter: Schaffen Sie den Menschen doch ins Irrenhaus!(Tumult)«Alles ist zu spät. Der Zauber wirkt, die Musik verlangsamt sich, wird immer atonaler, gerät aus dem Tempo und hängt schließlich, wie die Nadel in einer defekten Plattenrille.»Halt, aufhören«, schreit Flesch»ich halte es nicht mehr aus«. Das ist das Ende des Experiments. Nun muss alles in seine Ordnung zurückgebracht werden. Der Zauberer wird aus dem Studio geworfen, wir hören den Donau-Walzer so unschuldig und kitschig wie er immer klang. Jetzt sind wir wieder bei der Art von Radiomusik, wie der Rundfunkgründer Hans Bredow sie erwartet hatte. Erbaulich, erfreulich, die geistige Gesinnung hebend. Aber das genau war nicht das Radio, auf das es Flesch ankam.

126 106 HANS FLESCH INTENDANT Mit Dr. Hans Flesch, gerade 27 Jahre alt, treffen wir den wichtigsten, innovativsten, kompetentesten und couragiertesten Pionier des Weimarer Radios. Fünf weitere Jahre arbeitet Flesch in Frankfurt und geht dann als Chef der»funkstunde«nach Berlin. Dort wird er Gründungschef und erster Leiter des heute noch existierenden»haus des Rundfunks«an der Masurenallee. Ohne seine Unterstützung wäre weder Walter Benjamin, Ernst Kreneck, Paul Hindemith oder Eugen Jochum ins deutsche Radio gekommen, um nur einige zu nennen. Flesch gab den Auftrag für das Lindberghflug-Stück von Brecht und brachte Arnolt Bronnen in den Funk. Er holte Döblin ins Radio und gab Kurt Weill Kompositionsaufträge. Paul Hindemith, Konzertmeister an der Frankfurter Oper als das Radio 1924 startet, war sein Freund und sein Schwager. Grotesker Anfang Um die Rolle von Hans Flesch im Kontext der Avantgarde der Weimarer Republik zu verstehen, muss man noch einmal daran erinnern, dass das Deutsche Radio aussschließliches»kulturinstrument«sein sollte. Ohne diesen exklusiven Kulturauftrag hätte auch ein Hans Flesch, ein Mediziner und typischer Intellektueller, nie die Chance bekommen, eine Radioanstalt zu leiten. Nur Publizisten, Verleger, Kunsthändler oder Hersteller von Fotoartikeln erhielten die Erlaubnis Radiostationen zu gründen. Der Grund dafür war, wie ich geschildert habe, nicht ein spezieller Hang der Weimarer Bürokratie zu Kunst und Kultur, sondern ihre klare Absicht, das Radio frei von jeglicher Politik zu halten. War der»versuch einer Rundfunkgroteske«von 1924, war die»zauberei auf dem Sender«von Hans Flesch eine möglicherweise äußerst hintersinnige Anspielung auf die grotesken Entstehungsbedingungen des Radios in Deutschland? Vielleicht. Vor allem aber ist es ein Experiment mit den Möglichkeiten des Apparats. Aus dem Apparat heraus und von seinen technischen Bedingungen her, stellt Flesch mit diesem ersten Radiohörspiel der deutschen Rundfunkgeschichte, so harmlos es auch daherkommen mag, die radikale Frage nach der Zukunft des Mediums als Kunst.»Für den Rundfunk, [für] diese wundervolle Synthese von Technik und Kunst auf dem Weg der Übermittlung, gilt der Satz: Im Anfang war das Experiment. (...) Der Rundfunk muß experimentieren. (...) [und] so ist das ganze Programm zu einem großen Teil Experiment.«(Flesch 1930, 118). Hans Flesch, diesem großen Pionier des deutschen Radios, diente das Experiment mit der Apparatur von Anfang an nur einem Ziel, nämlich der Erforschung des Weges zu einer eigenständigen Kunstform, der Radiokunst. Aber Kunst nicht als Kunst um der Kunst willen. Es musste eine Kunst sein, die etwas über das Leben sagt, über den Menschen in der Masse, also genau jene, die das Radio

127 DAS»ARTEIGENEMECHANISCHE INSTRUMENT«107 jederzeit erreichen konnte. Fleschs Bezugspunkte waren die Stummfilme Charlie Chaplins, die er wie Brecht, Benjamin, Hindemith, Weill, Döblin und alle anderen als Kunstform verehrte. Und so wenig wie der Stummfilm kein bloßes Abbild der sichtbaren Welt bot, sondern mittels Schnitt und Collage eine neue Welt präsentierte, so wenig sollte auch das Radio kein bloßes Abbild akustischer Erscheinungen sein.»darum wird«, sagt Flesch 1924,»auch beim Rundfunk- Konzert niemals künstlerisch Wertvolles... herauskommen, wenn der Rundfunk seine Aufgabe darin sieht, lediglich gute Konzerte zu übertragen. Es bleibt dann beim unkünstlerischen Konzert-Ersatz«(Flesch 1924, 4). Was für ein mutiger Satz Boten denn die Radiosender in den Anfangstagen etwas anderes? Stets und ständig wurden Konzerte von überall her übertragen, oder hilfsweise Musiker ins Studio zum Konzert gebeten. Wenn Flesch solche Übertragungen nicht für Kunst hielt, musste er radikal experimentieren. So ist es denn auch vor allem die Radio-Musik, die in der»zauberei auf dem Sender«in das Groteske gezogen wird. Noch Jahre später, als Flesch längst ein anerkannter Kopf unter den Reichsrundfunk-Intendanten war, bleibt er konsequent skeptisch in Bezug auf die künstlerischen Möglichkeiten des Übertragungskanals Radio.»Ich habe noch kein sogenanntes Hörspiel gefunden, das sich nicht als ein verkapptes Schauspiel entpuppt hätte, das seinen optischen Sinn verdrängt hat«(flesch 1928, 32). Flesch weiß, was zu seiner Zeit nur wenige wissen. Nämlich dass es im Radio ein vor dem Mikrophon sich abspielendes Originalkunstwerk nicht geben kann. Der Hörspielregisseur, hält Flesch seinen Kollegen entgegen,»sollte daran denken, dass er mit Mikrophon und Sender zwischen... seinen Hörspielern... und dem empfangenden Hörer eine Maschine schaltet, durch die er die persönliche Wirkungskraft des Künstlers jenes unsichtbare Band, das zwischen Publikum und Künstler geknüpft werden soll nicht hindurchpressen kann«(35). Folglich liegt die Kunst des Radios, auf deren Suche Flesch von Anfang an ist, allein im Apparat selbst, nämlich in der Kunst der Reproduktion. DAS»ARTEIGENEMECHANISCHE INSTRUMENTDer Rundfunk ist ein mechanisches Instrument, und seine arteigenen künstlerischen Wirkungen können infolgedessen nur von der Mechanik herkommen. Glaubt man nicht, daß das möglich ist, so kann man eben an das ganze Rundfunk- Kunstwerk nicht glauben«(28). Die Metaphorik, die Flesch gebraucht, ist für uns ungewohnt, wir sprechen von Medium und Produktion, wo er von Mechanik und Maschine spricht. Aber das ist nur so, weil zu Fleschs Zeit der Begriff der Medien, wie wir ihn seit den sechziger Jahren verwenden, unbekannt war. Seine Ausdrucksweise ist ungewohnt, seine Gedanken sind es nicht.

128 108 HANS FLESCH Flesch erinnert uns. Das unsichtbare Band zwischen Publikum und Künstler (das wäre, nach Benjamins Wort, die Aura des künstlerischen Augenblicks) ist im Theater oder Konzertsaal sehr wohl erlebbar ist. Dieses unsichtbare Band, dieser göttliche Funke Fleschs Ausdruck für Aura kann im Radio nicht überspringen. Flesch frappiert, erstaunt, ja erzürnt die gesamte Hörspielzunft seiner Zeit damit, dass er für die Produktion von Hörspielen den Einsatz von Aufzeichnungsmedien fordert, zu einer Zeit, als noch kein Tonband existiert und als Aufzeichnungsmedium nur der Lichtton der allerersten Tonfilmtechnologien zur Verfügung steht. Vor allem aber aus ästhetischen Gründen setzten die Hörspieldichter und -regisseure seiner Zeit Fritz Walter Bischoff, Ernst Hardt, Alfred Braun oder Arnolt Bronnen immer noch und immer mehr auf»künstlerische Lebendigkeit«und»Wahrhaftigkeit«(in Weil 1996, 232) des Augenblicks, auf das Erlebnis von»geistigen Strömungen«der»Stimme als körperlose Wesenheit«(Kolb 1932, 64), wie es der Nazi-Theoretiker Richard Kolb propagierte und wie es gültig blieb bis in das deutsche Nachkriegsradio der 60er Jahre hinein (Schwitzke 1963). Die Kunst der Apparatur Für Hans Flesch aber hatte die experimentelle Erforschung des Radios schon Mitte der zwanziger Jahre ergeben, dass Kunst im Radio nur existieren kann durch Montage, durch Einschnitte ins Material, durch»inserts«und Collage, also durch konjekturale Techniken der Reproduktion wie im Film. Dieser entschiedene Ersatz des göttlichen Funkens durch Techniken der Reproduktion des Kunstwerks nimmt schon 1927 so deutlich Walter Benjamins spätere Thesen vorweg, dass man meinen könnte, er, Benjamin, der 1927 ins Radio kam, habe seine berühmten Thesen seinem langjährigen Arbeitgeber Hans Flesch in Frankfurt und Berlin abgelauscht. Das Radio muss seine künstlerischen Mittel aus der Apparatur gewinnen. Es muss, durchaus im Sinne Weills, absolute Radiokunst werden. Das ist die substitutive Wahrheit, der sich Flesch von der»zauberei auf dem Sender«an verschreibt. Was die Musik betrifft, gibt die gezielte Dissonanz, die der Autor in den Regieanweisungen seiner»zauberei«vorschreibt, einen Hinweis, wo Flesch künstlerisch herkommt. In der verzauberten Atonalität der Musik spielt er an auf die Arbeit seines Freundes Hindemith, aber auch auf einen weiteren Schüler von Ferruccio Busoni, Kurt Weill. Kurt Weill, dessen langjährige publizistische Arbeit für den Funk ich schon eingehend geschildert habe 6, hat Fleschs Ansätze mit zahllosen Artikeln stark unterstützt. Das Konzept einer absoluten Musik, die, wie das Radio selbst, auf Elektrotechnik zurückgeht, war in Busonis Beschreibung der ersten elektromechanischen Musikmaschinen schon im Kern enthalten. Dieses, dem Radio technisch eng verwandte Konzept ist es, das 6. Vgl. Kurt Weill, Seite 90ff.

129 DAS»ARTEIGENEMECHANISCHE INSTRUMENT«109 Flesch in der»zauberei auf dem Sender«anspricht, wenn er (den Busonischüler) fragt:»sag mal, hältst Du das für möglich kann das sein?was?nun, daß eine Musik erklingt, ohne daß jemand spielt. Kannst Du das verstehen?«als Flesch 1929 Intendant in Berlin wird und damit über die Mittel der größten Reichsrundfunkgesellschaft verfügt, richtet er als erstes ein Studio für elektroakustische und elektronische Musik ein, in dem Musik ertönt, die nirgends, außer in Elektronenröhren, gespielt wird. Flesch bei der Gelegenheit der Einweihung dieses Studios:»Wir können uns heute noch keinen Begriff machen, wie diese noch ungeborene Schöpfung aussehen kann. Vielleicht ist der Ausdruck 'Musik' dafür gar nicht richtig. Vielleicht wird einmal aus der Eigenart der elektrischen Schwingungen, aus ihrem Umwandlungsprozeß in akustische Wellen etwas Neues geschaffen, das wohl mit Tönen, aber nichts mit Musik zu tun hat«(flesch 1929, 150). Nichts anderes hatte Kurt Weill gefordert und nichts anderes wird John Cage, sieben Jahre später, in seinem die Fluxus-Bewegung einleitenden Credo von 1937 in die Welt setzen (»Static between the stations We want to use this sounds as musical instruments«; Cage 1937, 55). Aber anders als bei Cage oder Weill ist für den Intendanten Hans Flesch die Frage der Radiokunst keine ästhetische oder gar kunsttheoretische allein.»sicher ist die Ordnung das Richtige und die Unordnung das Falsche«, lässt Sendeleiter Flesch den Sendeleiter Flesch zum Abschluss des Hörspiels sagen. Radiokunst und absolute Radiomusik, die Flesch fordert und realisiert, wie Hindemith, Weill, Kreneck, Ruttmann und alle seine Autoren sie realisieren, ist für Flesch eben immer auch die Suche nach einer neuen Ordnung. Flesch weiß viel zu gut, dass er im Radio ist und damit in einer Ordnung der realen Welt. Wenn es aber das Radio ist, das in der Welt eine neue Kunst möglich macht, so muss auch für diese Welt eine neue Ordnung möglich werden. Diesem sozialen Kunstpathos, das Brecht bis zur radikalsten Konsequenz seiner trockenen Lehrstück-Epik treiben wird, ist Flesch auf seine Weise ebenso verpflichtet. Der neue Mensch Für Brecht wie für Hindemith, für Kurt Weill wie für Hans Flesch war das Radio jene allermodernste Maschine, die die Chance und die Hoffnung auf einen Neuen Menschen erkennen ließ. Dieser neue Typus Mensch wäre es, der in Verwendung dieser Maschine das Gesicht der Masse vermenschlichen würde. Das aber verlangte nun vom Künstler, Kunst und Massenattraktivität zu verkoppeln.

130 110 HANS FLESCH Erst eine massenattraktive Kunst würde diesem neuen Typus von Masse- Mensch entsprechen. Dem entspricht die Vision der später so gelungenen Kooperation von Brecht und Weill in der»dreigroschenoper«, und dem entspricht auch das Motiv der Kooperation von Brecht, Weill und Hindemith im Lindberghflug-Hörspiel von 1929, dessen Aufführung Ernst Flesch beauftragt und organisiert hat. DIE RUNDFUNK-REFORM Ab 1929 zog Hans Flesch weitere Konsequenzen, nicht als Theoretiker, Musiker oder Künstler, sondern als Intendant. Als Erstes richtet er eine»aktuelle Abteilung«ein. Die rechte Presse fällt sofort über ihn her und stellt ihn, den erklärt politisch Konservativen, ins Lager des Marxismus. Flesch ordnet an,»informationsbüros«einzurichten und die Stadt mit Übertragungskabeln zu durchziehen, damit der Rundfunk schneller an die neuralgischen Orte herankäme. Politische»Zeitberichte«werden ins Programm gebracht, er will Parlamentsübertragungen organisieren und fordert, Radiomikrophone in den Gerichtsälen aufzustellen. Da dies am Widerstand der staatlichen Radioaufsicht scheitert, um dann erst von den Nazis realisiert zu werden, richtet Flesch mit großem Erfolg einen»rückblick auf Schallplatten«ein. In dieser Sendung brachte das Weimarer Radio die ersten regelmäßigen Orginal-Ton- Zusammenstellungen von wichtigen Ereignissen im Wochenrückblick. Flesch selbst sagt die Sendung an, es ist das einzige erhaltene Stimmdokument. Was für die Radiokunst nie galt, gilt nun für das Neue Radio, nämlich ein absoluter Vorrang der Aktualität, der Vorrang der Live-Berichterstattung, der Vorrang der»vermittlung eines gleichzeitig sich ereignenden Vorgangs«(in Weil 1996, 228), wie Flesch noch umständlich sagen muss. Weder der Begriff»live«noch die Sache dahinter existierte im Kulturpostulats-Radio Weimars bis dahin. Ob Minister auf dem Gehweg erschossen worden waren, oder Straßenschlachten in den Städten oder Waldbrände im Grunewald tobten, nichts davon wurde im Radio zeitnah und aktuell berichtet. Es erwartete auch niemand. Genau das sollte sich nun ändern. Die heute noch von vielen Sendern praktizierte Sendereihe»Gedanken zur Zeit«hat Hans Flesch in Berlin erstmals eingerichtet. Er fordert eine radiogemäße Offenheit der Sprache.»Hier soll der Redner«, sagt Flesch,»ungehemmt sein von mannigfachen Rücksichten, die das Mikrophon ihm sonst auferlegen«(228). Wegen der von Flesch initiierten neuen Ordnung im Berliner Funkhaus, die sich unmittelbar im Programm auswirkt, wird binnen weniger Wochen im Frühsommer 1932 eine so genannte Rundfunk-Reform veranstaltet. Sie wird von einem hohen Beamten im Innenministerium initiiert und durchgesetzt, der seit längerem Mitglied der Nazi-Partei ist. Ohne Befassung des Parlaments stellt diese Reform den gesamten Reichsrundfunk unter die Ägide des Innenministeriums. Jetzt dürfen nur noch regierungsamtliche Nachrichten verbreitet wer-

131 DIE RUNDFUNK-REFORM 111 den, und es gilt das Verbot der politischen Diskussion im Radio schärfer denn je. Alle privaten Rundfunkgesellschaften werden aufgelöst, ein Verfahrenstrick, mit dem Flesch noch im August 1932 aus dem Urlaub geholt und, tags darauf, aus dem Amt gejagt wird wird ihm von den Nazis ein erster infamer Rundfunkprozess gemacht, 1934 ein zweiter. Obwohl alle Anklagen selbst vor Nazi- Gericht keinen Bestand haben, bleibt Flesch bis Ende 1935 in Haft. Danach wird er als»halbjude«eingestuft und erhält Berufsverbot. Aber, erstaunlich genug, das macht ihn offenbar alles andere als mutlos. Vielleicht konnte einer wie er, dem man zu Unrecht von Staats wegen alles genommen hatte, was er hatte, am ehesten abschätzen, dass dieses Reich nicht ewig währen würde. Ab 1935 schlug er sich irgendwie mit Hilfe seiner Frau, seiner zahlreichen Geliebten und Freunde durch. Gegen Ende des Kriegs praktiziert er schließlich wieder als Arzt und zwar in einem kleinen Dorf an der Oder. Als dort die russische Front heranrückt, flieht er nicht. Sondern bleibt bei den ins Verderben geschickten Truppen des letzten Aufgebots. Für sie organisiert er noch Anfang April 1945 ein Lazarett. Seither gilt Hans Flesch als verschollen. Mit Hans Flesch war noch Jahrzehnte nach dem Krieg auch sein Hörspiel verschollen. Die ersten Nachkriegs-Hörspielmacher erklärten die»zauberei auf dem Sender«bis in die siebziger Jahre hinein für unbedeutend, für belanglos, für unverständliche Spielerei, vielleicht noch bestenfalls für irgendwie»interessant«. Über den wichtigsten Programmpionier des deutschen Vorkriegs-Rundfunks existiert bis heute keine Biografie, seine zahllosen Aufätze und Vorträge liegen immer noch unbibliografiert in neun Jahrgängen von ca. 40 Rundfunkzeitschriften verborgen, kein Institut pflegt seinen Nachlass. Sein Sohn hat des Vaters Südseeträume realisiert und einen Teil des Nachlasses nach Französisch- Polynesien mitgenommen. Dort hat ein Mitarbeiter von Deutschlandradio Kultur ihn im letzten Jahr aufstöbern können. Briefe und Photos wurden inzwischen dem Deutschen Rundfunkarchiv übereignet. Nach einigen Kisten voller Tagebücher aus den 20er und 30er Jahren wird noch gesucht. Sie liegen möglicherweise unerkannt in polnischen Stadtarchiven.

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133 Die Verschaltung der Masse und das Begehren der Stimme Im Januar 1933 ist das Radio in Deutschland keine zehn Jahre alt. Es ist staatlich scharf kontrolliert, die Überwachungsausschüsse sind nach der Reform vom Juli 1932 eins zu eins dem Innenministerium und dem politischen Rundfunkkommissar Scholz unterstellt. Das Parlament der Weimarer Republik hatte sich nicht einen einzigen Tag mit dem Rundfunk und seiner Ordnung beschäftigt. Alles war der politischen Bürokratie der Post, der Kulturminister der Länder und des Innenministeriums überlassen worden. Hans Bredows strikte Parole vom»kulturinstrument«rundfunk war ebenso strikt befolgt worden und hatte zur Folge, dass das Massenmedium Radio sich in der Weimarer Republik gar nicht erst entwickeln konnte. Das Radio in Weimar beobachtete die Gesellschaft nicht, nicht die soziale Realität, Klassengegensätze, Hamburger Aufstand, Straßenschlachten der SA und der SS mit den linken Gruppen, KPD, NSDAP, das wilde Auf und Ab der Regierungsbildungen, alles das kam in dem neuen Medium so gut wie nicht vor. Die zaghaften Ansätze, unterhalb des Mantels der»kultur«dennoch die Stimme des Sozialen und Politischen im Radio konkret geltend zu machen, wie Hans Flesch sie ab 1929/30 verfolgte, waren durch seinen Rauswurf im Juli 1932 vollständig zunichte gemacht worden. GOEBBELS: RADIO-ALL-MACHT Das Weimarer Radio wurde von einem überdehnten Kulturkonzept getragen, das den Ausfall an sozialen und politischen Beobachtungen ersetzen sollte und es doch nicht konnte. Insofern wird man von den ersten neun Jahren der Radiogeschichte in Deutschland als von einem von kosmogenen Allmachts-Shiftern durchsetzten Weimarer Radio-Vorspiel sprechen müssen. Mediengeschichtlich wird die Hochphase des Mediums beginnen, als Joseph Goebbels am 11. Februar 1933 in sein Tagebuch schreibt:» Um so besser müssen wir lernen, damit umzugehen«. Keine zehn Tage zuvor hatte der eben gekürte Reichskanzler Adolf Hitler zum ersten Mal allein vor einem Mikrophon gesprochen, ohne Massen und ohne Saal. Es war ein Debakel. Die Rede war erschreckend unverständlich, so gar nicht hitlerisch, gemurmelt, genuschelt, ohne Kraft. Hitler musste sie tags darauf sogar wiederholen, aber noch immer war sie weit entfernt von seiner normale Redefähigkeit. Sein gestörtes Verhältnis zu abgekapselten Radiomikrophonen behielt Hitler bis zum Ende. Es gibt keine Studioaufnahme seiner Stimme. Das ist eine lehrreiche Paradoxie des Faschismus. Der Führer, dessen Name für das nun kommende Radio stand, kann dort nicht sprechen, wo das Radio Radio ist, nämlich dort, wo es seine eigenen, publikumslosen Schallräume hat. Dort, wo alles ausschließlich und nur auf den Schall und den Klang der Stimme und der Stimmen eingerichtet ist. Dort, wo es nur darauf ankommt,

134 114 DIE VERSCHALTUNG DER MASSE UND DAS BEGEHREN DER STIMME dass die Stimme spricht, versagt das Führerorgan. Ganz anders Goebbels, durch dessen Mikrophontalent schon im Oktober 1930 Erwin Piscator eine bittere Studio-Stunde hatte erfahren müssen.»dort Hitler, Ich Reportage«Anfang Februar 1933 hatten die Nazis den Reichstag aufgelöst. Sie sollten schließlich durch eine gewonnene Wahl zur Macht kommen. In seinen Tagebüchern, die über tausende von Seiten nur aus Haupt- und Befehlssätzen bestehen, sich lesen wie die Abfolge eines computergestützten Sprachprogramms, das von einem simplen tiefengrammatischen Algorithmus gesteuert wird, Tagebücher, die nicht einen einzigen zweifelnden Gedanken, keine Überlegung und keine Reflexion enthalten, in diese Tagebücher notiert Goebbels zwischen Februar und März 1933 mindestens sieben Inszenierungen einer Radio-Allmachts- Szene. Hier wird schon deutlich, wie sehr die März-Wahl, Reichstagsbrand und Kommunistenverhaftungen nicht zu vergessen, vielleicht die erste Medien- Wahl der Geschichte gewesen ist. Eben an jenem 11. Februar 1933 beginnt das Ganze im Berliner Sportpalast. Goebbels im»off«, also nur für den deutschen Rundfunk zu hören, beschreibt die Szene in und um den Sportpalast in nicht enden wollenden Einleitungsformeln, pathetischen Ritardandi und Hinhaltefloskeln, die nur den simplen, aber äußerst effektiven Zweck erfüllen, die Spannung zu steigern. Er ist sich noch unsicher:»allerdings ist es ein eigentümliches Gefühl, plötzlich vor einem toten Mikrophon zu stehen, während man bisher nur gewohnt war, vor lebendigen Menschen zu sprechen, sich von ihrer Atmosphäre hochheben zu lassen und aus ihren Gesichtern die Wirkung der Rede abzulesen«(goebbels , 371f). Zwanzig Minuten lang geht das, und dann spricht Hitler.»Zum Schluß gerät der Führer in ein wunderbares, unwahrscheinliches, rednerisches Pathos hinein und schließt mit dem Wort Amen!. Das wirkt so natürlich, daß die Menschen alle auf das tiefste davon erschüttert sind. Diese Rede wird in ganz Deutschland einen Aufstand der Begeisterung entfachen. Die Nation wird uns fast kampflos zufallen. Die Massen im Sportpalast geraten in einen sinnlosen Taumel. Nun erst beginnt die deutsche Revolution aufzubrechen«(372). Dieser Auftakt zeigt, wie die Märzwahl gewonnen werden soll und tatsächlich gewonnen wurde: mithilfe des Radios und vom Flugzeug aus. Um die Omnipräsenz des Radios zu verstärken und nur darum, fliegen Hitler und Goebbels in den folgenden Wochen bis zum 5. März oft mehrmals am Tag kreuz und quer durch Deutschland. Um immer woanders und doch überall zu sein. Wo auch immer: Minutenlang die Einleitung von Goebbels, dann Hitler redend vor brüllenden Massen, das Ganze jedes Mal live über alle Sender, Aufzeichnung auf Wachsplatte und Wiederholung am folgenden Tag. Am Stuttgart; am Dortmund, Westfalenhalle; am München; Köln; Hannover;

135 DIE ÜBERTRAGUNG DER GEDANKEN 115 usw. usw. Goebbels verkürzt sein stets wiederholtes Radiopropaganda-Konzept schließlich in der lakonischen Formel:»Nachmittags nach Cöln. Dort Hitler. Ich Reportage«(379). Der faschistische Propaganda-Organisator bringt das Radio auf den Begriff. Denn das Dort des Radios, oder der Ort des Radios, ist Abort zugleich, zerschnitten in die je sich aufschiebenden Hälften von Studio und Lautsprecher, von dem Raum des Sprechens, der einer abgedichteten Grabkammer gleichkommt und in dem eine andere Zeit herrscht als im Raum des Lautsprecher-Hörens, der nur noch vom Supplement eines Gesprochenen erfüllt ist. Aber der mediale Ort des Radios, wo ist der? Vor oder hinter dem Mikrophon? Der Propagandatechniker Goebbels entdeckt ihn wohl eher aus Zufall.»Dort Hitler, Ich Reportage«bewirkt die Inauguration einer kognitiven Macht, die sich technisch als fortgesetzt verschobenes Supplement einer Allmacht inszenieren kann. Aber nur, indem sie sie weder erreicht, noch sein will, wird das Unwirkliche dieser Allmacht wirksam. Denn:»Die Allmacht ist nicht; es ist deshalb, dass sie sich denkt«sagt Jacques Lacan in dem einzigen dem Radio gewidmeten und im Radio gesprochenen Text (1970, 89). Das Radio ist das ausgezeichnete Medium dieses prekären und, weil nicht gelingenden, umso wirksameren Allmachtsphantasmas. DIE ÜBERTRAGUNG DER GEDANKEN Samstag, 8. April Alle Programme des Reichsrundfunks waren an diesem Tag gleichgeschaltet, dazu alle Programme im bereits für diesen Tag medientechnisch angeschlossenen Österreich. Ein in die Millionen gehendes Radiopublikum, zum ersten Mal live mit einem einzigen Ereignis verbunden. Dazu: SA-Uniformierte, die zeitgleich überall im Reich live paradieren. Vom Norden bis zum Süden, von Flensburg bis Innsbruck stehen sie vor Lautsprechern stramm, in Sälen und auf freien Plätzen, noch in den kleinsten Städten des Reichs. Sie tun das, um vor Hitler, Röhm und Goebbels, in Wirklichkeit aber vor Lautsprechern Haltung anzunehmen und die Fahnen zu schwenken und zugleich den Worten des Führers zu lauschen. Das war das erste Live-Massenhörspiel des Radios unter der Ägide des jungen frischgebackenen Propagandaministers Josef Goebbels. Und insofern es die tätige Inszenierung der Hörerschaft einschloss, nämlich das Strammstehen und das»rührt Euch«seitens der übers Radio verschalteten Hörerschaft, ist es auch das radiohistorisch einzige und einmalige Radioschauspiel über solche Entfernungen und räumliche Dimensionen. Meines Wissens ist dieses Radio-Schau-Hörspiel in keinem anderen Land der Erde, weder in Amerika noch in Europa, je wieder so inszeniert worden. Es war das erste Mal, dass der doppelte Imperativ des Radios, wie Ernst Jandl ihn benannt hat: Hör! und Spiel!, reellerweise und auf eine historisch ganz und gar nicht belanglose Weise in Szene gesetzt wurde.

136 116 DIE VERSCHALTUNG DER MASSE UND DAS BEGEHREN DER STIMME Für den kurzen Augenblick einer guten Stunde realisiert sich in dieser Radioszene eine parasoziale Verschaltung, die das Radio zum Massenmedium emergieren lässt. Was inszeniert wird, ist die Farce eines sozialen Rituals. Der Appell dient der Feier der ein Jahr zuvor erfolgten Wieder-Erlaubnis der SA als Massenorganisation, deren öffentliches Auftreten im Frühjahr 1932 verboten und dann im April bereits wieder gestattet worden war. Dieses Ereignis nehmen die Nazi-Führung und Goebbels nun zum Anlass, das Radio als Verschaltungsorgan der Massen zu reorganisieren und zu testen, ob die Verschaltung auch gelingt. Parasozialität, Gleichschaltung Der Radioappell vom sonnigen Samstag im April 1933 ist der beste Beweis, dass das Radio sogar eine Farce des soziales Rituals sein kann; dass mit seiner Hilfe eine solche Farce inszenierbar ist, oder besser: dass das soziale Ritual als Radiofarce gelingt. Das Radio ermöglicht, dass Hunderttausende tatsächlich vor einem blödsinnigen Blechding namens Lautsprecher strammstehen, aus denen Hitlers Stimme tönt. Niemand konnte vorher wissen, ob dieser unglaubliche Schwachsinn möglich ist. Diese extreme Probe aufs Exempel musste gemacht werden, um beweisen zu können, dass das Radio im sozial Symbolischen seine verlässliche Wirkung zeigt. Natürlich wären, wie wir heute wissen, die organisierten SA-Horden im Reich vermutlich überall und an jedem Ort einem Appell gefolgt, aber es hätte ja auch sein können, dass alle, die da vor den tönenden Blechdingern standen, gleichwohl in ein unmotiviertes Gelächter ausgebrochen wären. Wer sollte das vorher wissen? Nun, seit Samstag, dem 8. April 1933, konnte sich Goebbels ein weiteres Mal sicher sein, dass das Radio als Mobilisierungsmedium des Parasozialen funktioniert. Im Sozialen selbst, in der Gesellschaft, musste er jetzt nur noch die realen Terrortruppen organisieren, die diese parasoziale Bereitschaft des Volkes, sich radio-massenmedial verschalten zu lassen, nutzen sollten, um mit konkreten Taten die Ausmerzung von politischen Gegnern und Juden voranzutreiben. Die Parasozialität, die das Radio hervorbringt, hat eine ungeahnte und unvordenkliche Mächtigkeit. An diesem Tag beweist sie sich das erste Mal in dem neuem Regime. Würde heute von einer breiten Öffentlichkeit akzeptiert, dass Hunderttausende in Uniform vor Lautsprechern paradieren? Damals aber konnte niemand, der diese Live-Sendung vom 8. April 1933 im Radio verfolgt hatte, sagen, er habe einem Kurzschluss des Wahns einer völkischen Sekte von 800 tausend Fanatisierten beigewohnt. Obwohl genau das stattgefunden hatte. Und eben doch gerade nicht: Denn dieser symbolische Akt der Verschaltung einer Masse unsichtbarer Radiohörer war ein Teil einer fundamentalen Formierung. Ganz gleich, wie sie zu begründen war, wie man sie herleiten könnte, aus welchem Wahn sie folgte: Hier hatte eine wichtige Stunde des Radios geschlagen; und so oder so die SA war jetzt wieder wer.

137 DIE STIMME ALS KÖRPERLOSE WESENHEIT 117 Man kann, in dem überlieferten Mitschnitt des SA-Appells von April 1933 (DRA, Frankfurt), heute noch hören, wie zögerlich und noch unbeholfen sich dieser seltsame Kreis schließt, der sich damals geschlossen hat. Es ist die größte Radio-Inszenierung, die Goebbels, erst ein paar Monate im Amt, bis dahin unternommen hat; und keiner der Beteiligten weiß, ob es klappen wird. Man hört die Pannen, die unfreiwilligen Pausen. Die Aufregung der beteiligten Stimmen ist zu spüren und selbst die Tirade Hitlers ist offenbar improvisiert, aber umso mehr steigert er sich in den okkulistischen Sermon seiner Vorsehungsphraseologie hinein. Hört man das heute ab, kann man erahnen, was Richard Kolbs und Josef Goebbels faschistische Radio-Konzeption im Schilde führte. Es ging um den Versuch, für Millionen von Hörern eine medientechnisch induzierte Verschaltung im parasozialen Raum in Szene zu setzen, um die reale Verschaltung, nämlich die faschistische Reorganisation der Gesellschaft als Volksgemeinschaft, in Gang zu setzen. Für die Historik einer Radiogenealogie ist der SA-Appell vom 8. April 1933 nicht nur deshalb wichtig, weil es sich um den bis dahin größten Massenappell in der militärischen Weltgeschichte handelt, der nur allein durch die Technik des Radios möglich wurde. Wichtiger ist: Mit diesem Ereignis, wenige Monate nach der Machtübernahme von Goebbels inszeniert, wird das Medium Radio zum Massenmedium in Deutschland, wenn auch zu einem Massenmedium besonderer, nämlich gleichgeschalteter Art. Ab April 1933 wird das Radio in Deutschland zum Massenmedium, weil ein Faktor seiner Entwicklung sichtbar wird, der bis dahin keine Kontur hatte: die parasoziale Funktion der medialen Akzeptanz. Wie schon das Radio als Kulturinstrument, das dem Weimarer Radio zugrunde lag, hat auch das gleichgeschaltete Massen-Radio der Nazis starke epistemologische Korrespondenzen. Goebbels hat es jedenfalls an irgendwelchen grünen Tischen nicht erfunden, sondern mußte ja nur, wie er sagt, mit dem, was da war,»besser umgehen«. Ich will im Folgenden vier kontemporäre Wissensmodelle des (Radio-)Hörens diskutieren, um den Horizont des Nazi-Massenradios besser auszumachen. DIE STIMME ALS KÖRPERLOSE WESENHEIT»Die Funkwellen sind wie der geistige Strom, der die Welt durchflutet«(kolb 1932, 52). Richard Kolb, ein Münchner Journalist und Publizist, war ein Nazi der ersten Stunde, ein Kämpfer an der Seite Hitlers beim ersten Putschversuch im Münchner Bürgerbraukeller von In den Folgejahren verdiente sich Kolb seinen Unterhalt als Radiopublizist. In dieser Eigenschaft, genau wie Kurt Weill, sieht er als ein früher Beobachter eines ganz neuen Mediums sehr schnell die Leerstelle, die sich in seiner Weimarer Machart auftut. Das Radio, wie es in Deutschland in die Welt kommt, ist ein grandioser Fehlstart. Die Maschine stottert an

138 118 DIE VERSCHALTUNG DER MASSE UND DAS BEGEHREN DER STIMME allen Ecken und Enden und wird immer wieder erstickt durch ihre falsche Reduktion auf ihre Rolle als»kulturinstrument«. In diese Leerstelle sticht Kolb mit seinen Aufsätzen. Kolb schreibt in den Jahren seiner radiopublizistischen Tätigkeit in München, ideologisch tief im Strasser-Kreis der Nazis verankert, die folgenreichste Radiotheorie der späten zwanziger Jahre. Wenig später, noch vor der Machtergreifung, aber schon nach der sogenannten Rundfunkreform des Nationalsozialisten Scholz im Innenministerium 1932, bekommt Kolb bislang nur Theoretiker und Schreiber eine wichtige Stabs- Funktion in der»berliner Funkstunde«. Er übernimmt für ein paar Monate die Sendeleitung und organisiert an jenem legendären 30. Januar 1933, gegen alle Regeln und Vorschriften, die Live-Reportage über die faschistischen Fackelumzüge am Abend der Reichstagswahl. Das, was Intendant Hans Flesch (dessen Entlassung das Ziel der Scholzschen Programmreform war) 7 immer gewollt, aber niemals gewagt hatte, nämlich die kurzfristige Durchbrechung des Programmschemas durch eine politische Live-Reportage, genau das setzt nun Richard Kolb in Szene. Wenig später wird er Intendant in Berlin und wenige Monate später von Goebbels Gnaden Intendant in München. Zwar klug, aber dennoch fanatischer Nazi und den utopischen Ideologien des Strasser-Flügels der Partei verpflichtet, fällt er bei Goebbels schnell wieder in Ungnade. Obwohl er zumindest ideologisch der geistige Architekt des nationalsozialistischen Radios war und ist, muss Kolb sich, von Goebbels verstoßen, als Dozent in verschiedenen Wehrmachtsschulen durchschlagen. Am Ende des Krieges nimmt er sich, wie so viele andere Fanatiker des Nationalsozialismus, das Leben. Funkwellen, der geistige Strom»Die Funkwellen sind wie der geistige Strom, der die Welt durchflutet. Jeder von uns ist an ihn angeschlossen, jeder kann sich ihm öffnen, um von ihm die Gedanken zu empfangen, die die Welt bewegen. Der unendliche freie Geistesstrom trifft auf unseren kleinen, geschlossenen, mit Energien gespeisten und geladenen Denkkreis und versetzt ihn durch das feine Antennennetz unserer Nerven in Schwingung.... Der unsichtbare geistige Strom aber, der vom Ursprung kommt und die Welt in Bewegung brachte, ist seinerseits in Schwingung versetzt, gerichtet und geleitet vom schöpferischen Wort, das am Anfang war und das den Erkenntniswillen seines Erzeugers in sich trägt«( Kolb 1932, 52). In diesen Funkwellen soll das»absolute«in sozusagen physischer Form enthalten sein. Die Funkwellen, richtig eingesetzt, beinhalten das»immaterielle«, das Metaphysisch-Geistige, das uns auf diese technische Weise näher gebracht werden kann. Stimmen sprechen am Mikrophon, aber wir hören sie nicht als Stimmen von außen, sondern wie entkörperlichte Stimmen, wie Seelen in uns.»der Funk«, sagt Kolb,»kann uns das Überpersönliche, das Seelische im Menschen in Gestalt körperloser Wesenheiten näher bringen«. Er sagt, dass eine Handlung, 7. Vgl. Die Rundfunk-Reform, Seite 110ff.

139 DIE STIMME ALS KÖRPERLOSE WESENHEIT 119 die wir im Hörspiel hören, nicht neben uns, dort wo der Lautsprecher oder das Radio steht, stattfindet, und nicht vor uns, wie auf Bühne und Leinwand, sondern dass alles Gehörte»einzig und allein in uns stattfindet«. Er sagt uns, dass wir nicht Menschen sich bewegen und sprechen hören, sondern dass wir die Bewegung dieser Menschen unmittelbar in uns spüren.»das Mikrophon wird zum Ohr des Hörers«und»Hörspieler und Hörer treffen sich gleichsam im gemeinsamen Brennpunkt seelischer Akustik«(54). Schließlich:»Die Stimme des Hörspielers wirkt schon bei der Darstellung einer leiblich zu denkenden Person als Stimme an sich und damit als Stimme des eigenen Ich«(54). Das ist der Kern von Richard Kolbs Radiotheorie, entwickelt in einer Essay- Reihe einer bayrischen Radiozeitschrift Ende der 1920er Jahre, zusammengetragen und überarbeitet in dem seltsamen, nur wenig vom tatsächlichen Spiritismus des Autors zeugenden Titel»Horoskop des Hörspiels«von Ein Titel, der allerdings die politisch brisante Botschaft dieser Radiotheorie raffiniert herunterspielt. Heissenbüttel Alles purer Blödsinn? Seit 1968, seit Helmut Heissenbüttel, Rundfunkredakteur, Pionier des westdeutschen Nachkriegs-Rundfunks, Redaktionsleiter im Süddeutschen Rundfunk, Lyriker, Essayist und Hörspielautor, seit Heissenbüttel noch einmal (gegen und mit Richard Kolb) ein»horoskop des Hörspiel«(Heißenbüttel 1972) schreibt, wird allgemein anerkannt, was Heißenbüttel ausführt. Nämlich dass Richard Kolbs Thesen ideologisch seien, weltanschaulich bedenklich, reaktionär und restaurativ. Und weil dieses weltanschauliche Verdikt anerkannt ist, gibt es heute, in den heutigen radiotheoretischen Analysen, kaum noch Rückgriffe auf Kolb. Weltanschaulich ist die Sache heute in der Tat erledigt.»die Rückführung der Hörspielphänomenologie auf ein Urerlebnis«, sagt Heißenbüttel auf den Hörspieltagen 1968,»erweist sich nicht als theoretische Begründung einer Analyse, sie hat weltanschaulichen Charakter«(Heißenbüttel 1970, 26). Das ist alles sehr vorsichtig formuliert:»weltanschaulicher Charakter«, reaktionär, restaurativ. Zitat Heißenbüttel:»Restauration, und darüber lässt sich nichts weiter sagen. Auch ich sage nichts weiter dazu«. Der Grund für die Zurückhaltung Heißenbüttels, seines Zeichens eben auch Redaktionsleiter im Süddeutschen Rundfunk Stuttgart, war sehr schlicht. Richard Kolbs Thesen waren bis dahin, also immerhin an der Schwelle der siebziger Jahre des vorigen Jahrhundert, ein nahezu unwidersprochenes Gemeingut der allermeisten Hörspielredakteure, Hörspieldramaturgen und Hörspielregisseure, also auch der meisten Kolleginnen und Kollegen, die ihm jetzt zuhörten. Auch 1968 stößt man nicht schroff vor den Kopf, mit wem man morgen noch weiterarbeiten muss. Wir ersehen daraus: Über vier Jahrzehnte hin, und so, als hätte es das Dritte Reich nicht gegeben, hat das Kolbsche Innerlichkeitspathos,

140 120 DIE VERSCHALTUNG DER MASSE UND DAS BEGEHREN DER STIMME haben diese Thesen von der»zeugenden Kraft des gesprochenen Wortes«und der»stimme als körperloser Wesenheit«unwidersprochen gegolten. Kolbs Thesen waren der Horizont für die wichtigsten Nachkriegstheoretiker Heinz Schwitzke und Eugen Fischer, und damit auch Bezugspunkt für die konkreten Kriterien in den Redaktionen, in der Beurteilung von Stoffen und Stücken und in der Auswahl von Sprechern und Sprecherinnen. So geht diese 68er-Rede eines der bedeutendsten Radiomachers der Nachkriegszeit Helmut Heißenbüttel auffallend behutsam mit Richard Kolb um. Wir erfahren zwar, dass da weltanschaulich irgendetwas nicht in Ordnung ist, mit Kolb, aber wir erfahren nicht ein Wort darüber, was für ein besessener und berühmter Nazi Richard Kolb gewesen war, nämlich wahrlich kein Mitläufer. Wenn es um reine Weltanschauung gehen würde, dann hätte Heißenbüttel doch nur die offen völkischen und nazi-ideologischen Stellen in dem Kolbschen Text selbst vorzulesen brauchen: Zum Beispiel diesen Satz zur Definition des Hörspiels:»Dem Volksbewusstsein verwachsen, muss es das Dasein des einzelnen erweitern und erhöhen«(111). Oder:»Keine Zeit hat den Glauben an Aufstieg und Erlösung nötiger als die unsrige«(114), worin die ganze abgründige und mystisch-völkische Seite der Nazi-Parolen klar durchkommt. Heißenbüttel hat das alles nicht zitiert, und auch Kolb nirgendwo einen Nazi genannt, sondern sehr vorsichtig von»weltanschaulich«und»restauration«gesprochen, und das noch in diesem wilden 68er Jahr, wo man mit Worten (hier und da auch mit Taten) schon nicht mehr zimperlich war, wenn es um die faschistische Vergangenheit des eigenen Volkes ging. Kainz Aber, Richard Kolbs Thesen galten lange als Maßstab einer Sprech- und Regiekultur, auch noch in nachkriegsdeutschen Redaktionen. Diese Kolbsche Maßstäblichkeit pflegte die bis ins Äußerste hinein vollklingenden Kunststimmen,»das verleiblichte Geistige..., (den) materialisierten Geist des Sprechenden und des Gesprochenen«(Meyer-Kalkus 2001, 252), Stimmen des chargierenden Lauts, der voluminösen Klangräume der Vokale, der rollenden R s, der gezogenen I s und der pathetischen Artikulationen, der elaboriertesten Sprecherziehung volltönender, halb singender Sprech-Stimmen. Diese hatte Kolb im Sinn, wenn er von ihrer»körperlosen Wesenheit«sprach und er meinte damit Sprecher und Stimmen wie Kurt Erhard, Otto Blumenthal, Friedrick Kaysler und vor allem Josef Kainz, den großen Stimm-Mimen der Reinhardt-Bühne, der für mehrere Generationen von deutschsprachigen Sprechern so etwas wie die Inkarnation der Stimmlichkeit wurde. Josef Kainz ist das Ebenbild dieser körperlosen Wortfülle, das ganz nahe herankommt an ein sprechendes Singen oder singendes Sprechen und sich so im Radiohörer aufspannen soll. Ein Sprechen, das, wie Kaysler über sein Vorbild Josef sagt,»jeden einzigen Laut, Vokal und Konsonant, zum Symbol eines bestimmten Gefühlskomplexes«erhob.

141 DIE STIMME ALS KÖRPERLOSE WESENHEIT 121»Man fühlte: jeder Laut war ein Grundelement der Sprache: A war das Element der Klarheit, des Sichtbaren, des hellen Tages U war das Element des Dunkels, des Unklaren, Unsichtbaren, Unfassbaren. Der Konsonant P war eine Schleuderkraft, eine Spannung von Atmosphären, die eine ganze Gruppe von anderen Lauten zu einem Wortgebilde wie von glühendem Strahl zusammenschweißte und vorwärtsschleuderte«(meyer-kalkus 2001, 257). Die Kolbsche Radiotheorie der Stimme folgt, wie Reinhard Meyer-Kalkus schreibt, der»psychophysikalischen Ausdruckspsychologie von Wilhelm Wundt«. Und in dieser physikalistisch verstandenen Psychologie existiert die Schauspielerstimme als ein Produkt von»autosuggestion und Hypnose«(254), um nicht zu sagen als Produkt einer»hysterischen Selbsthypnose«. Diese Stimme, folgt man nun wieder Kolb, findet im Radio ihre Extension, ihre Erweiterung durch Übertragung. Die im psychologischen Impressionismus genauso wie im expressionistischen Theater gängige Praxis der Stimmübersteigerung hatte im deutschsprachigen Raum bereits jahrzehntelang Josef Kainz und damit schon lange vor Kolb Geltung. Wer wissen will, wie Kainz Stimme klang, erinnere sich an die Stimmen der Kainz-Schüler Fritz Kortner oder Gustav Gründgens oder, was das Radio betrifft, an den großen Vorleser Gert Westphal. Diese künstliche Stimmlichkeit, aus dem expressionistischen Theater, von Max Reinhardt her, auf vielen Sprechbühnen exaltiert praktiziert, hat eine immer noch fortwirkende Tradition im deutschen Radio. Es sind Stimmen, die einen Ton förmlich sangen; Stimmen, mit denen kein normaler Mensch auf der Strasse sprach oder spricht; Kunstsprechstimmen, für die es kein ästhetisches Lehrbuch gibt, keine irgendwie geartete kunstwissenschaftliche Legitimation, die aber doch honoriert wurden und auch heute immer noch disponiert, gepflegt, geliebt und hofiert werden. Schöne Stimmen Was aber ist eine Stimme und wie kann man sie objektiv beschreiben? Kann man gar definieren, was Kriterien für eine schöne Stimme sind? Die Rhetorik, Poetologie oder Stiltheorie geben uns keine Antwort darauf. Die Poetologie der Germanistik und aller Philologien, auf den alten Wurzeln der Poetik und Rhetorik der Griechen basierend, kann uns eine Kaskade von Begriffen der Hyperbolik oder Alliteration, der ausgefeiltesten Rhetorizität von Texten und Sprach-

142 122 DIE VERSCHALTUNG DER MASSE UND DAS BEGEHREN DER STIMME formen auffahren, um zu begründen, jene Art der Rede, Lyrik und Prosa sei schön und jene andere nicht. Aber keine Poetologie kann sagen, was eine schöne Stimme ist, die spricht. Für eine schöne Stimme, die singt, ist das anders. Für die Singstimme gibt es eine lange Geschichte des Stimmideals, von dem Dekret des Augustinus angefangen, die»vox artificiosa et suavis«zum Stimmideal der Kirche zu erklären (Müller-Heuser 1963), bis hin zum Streit in der späten Romantik zwischen Belcanto und Verismo, der zu einem Streit um das Kunst-Singen überhaupt geführt hat (Celletti 1989, 206f). Und natürlich hat dieser Streit um die Singstimme, zwischen liedartigem Kunstgesang und einem exaltierten, geräuschhaltigen Expressionismus auch auf das Ideal der Sprechstimme des späten 19. Jahrhunderts eingewirkt. Gerade im späten 19. Jahrhundert wurden die Grenzen zwischen Singen und Sprechen durchlässig, namentlich im expressionistischen Theater oder auf der Reinhart-Bühne, wo ein Verismo des Sprechens geradezu kultiviert worden war. Und so gelangte diese Stimme auch ins Radio, wo sie teilweise bis heute konserviert wurde, eben in diesem Rahmen der Praxis und Theorie, über die wir hier gerade verhandeln. Im Radio haben wir es mit Stimmen zu tun, die wir nicht sehen. Stimmen, die im Radio sprechen, bewirken, dass wir Stimmen in uns sprechen hören, sagt Kolb. Kolb will uns beweisen, dass wir Stimmen, die wir im Radio hören, in uns noch einmal aufbauen und reproduzieren. Kolbs Theorie betrifft also nicht allein die Radiostimme, sondern auch das Radiohören. Das Radiohören ist ihm zufolge eine besondere, vielleicht sogar eine neue Art des Hörens. Es ist eine Repräsentation der Stimme im Inneren. Kolb gibt damit eine Antwort auf eine Frage, die allerdings noch einmal ausdrücklicher gestellt werden muss. Sie lautet: Verändert sich durch den technischen und massenmedialen Einsatz des Hörmediums Radio das Hören strukturell? Man wird vermuten dürfen, dass das Radio zumindest unseren Stimmen- Horizont erweitert. Keine Zivilisation zuvor hat je so viele und so unterschiedliche und vielfarbige Stimmen gehört wie die, in deren Umgebung an allen öffentlichen Orten, bei der Arbeit, im Auto und noch in den intimsten Räumen wie dem Wohnzimmer, dem Schlafzimmer und dem Bad, über die Zeit eines Lebensalters hinweg Hunderte und Tausende von Stimmen in die Ohren dringen. FREUD Vielleicht ist Kolbs Annahme nicht einmal falsch, dass im Sprechen einer Stimme zu uns sich in uns etwas öffnet. Vielleicht fußt diese Annahme tatsächlich auf einem Befund, der ernst zu nehmen wäre. Etwas, was uns erst auffällt, seit wir in der Moderne leben, in der Moderne der Medien. Zum Beispiel dann, wenn jemand»zu uns«spricht, wie es ein berühmter kleiner Junge gesagt hat. Ich meine den kleinen Jungen in der Fußnote eines berühmten Textes von Sig-

143 FREUD 123 mund Freud. In den»drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«von 1905, in denen es für Freud das erste Mal um das»verwandeln«von Libido in Angst geht, hören wir diesen kleinen Knaben im Dunkeln reden. Freud schreibt:»die Aufklärung über die Herkunft der kindlichen Angst verdanke ich einem dreijährigen Knaben, den ich einmal aus einem dunklen Zimmer bitten hörte: Tante, sprich mit mir; ich fürchte mich, weil es so dunkel ist. Die Tante rief ihn an: Was hast du denn davon? Du siehst mich ja nicht. Das macht nichts, antwortet das Kind, wenn jemand spricht, wird es hell «(Freud 1905, 126). Für Freud ist dieses Aufklärungs-Paradigma, dass es hell wird, wenn jemand spricht, ein zentrales Argument. Deswegen will ich einen Moment dabei bleiben und die Sprechszene, die mit dem Radio neu in die Welt kommt, in kurzen Zügen aus der Perspektive der Psychoanalyse diskutieren, in der sie zuvor schon einen bestimmten Platz eingenommen hat. Wenn jemand spricht, wird es hell. In den»drei Abhandlungen«von 1905 wird von Freud das erste Mal explizit das sexualtheoretische Modell der Libido entwickelt, das ihm viel Gefolgschaft, aber auch viele Missverständnisse eingebracht hat. Freud zentriert alles um einen Begriff der kindlichen Libido, den er als den hoch ausgebildeten, aber kindlichen Geschlechtstrieb identifiziert, der eben keineswegs nur»durch Erregung der Genitalzone geweckt wird«(124), sondern ein sehr umfassendes, mächtiges Begehren repräsentiert, das sich in einem ursächlichen Verlust konstituiert, nämlich, wie Freud sagt, in der»abtrennung der Sexualtätigkeit von der Nahrungsaufnahme«(124). Um herauszufinden, was Angst oder Lust mit Stimme zu tun haben, muss man die Konstruktion der Freudschen Theorie in ihrem Kontext verstehen. Das Kind löst sich, sagt Freud, recht früh von der Allheit der Ein und Alles verkörpernden Mutterbrust, von diesem absoluten Objekt der Nahrungsgabe, das so absolut ist, dass man es genau genommen noch nicht einmal ein Objekt im eigentlichen Sinne nennen kann. In dieser abtrennenden Loslösung konstituiert sich die erste Objektbeziehung des kleinen Menschenwesens überhaupt; und zugleich damit eine Achse des Begehrens wie eine der Angst. Freud hat dabei immer eine genetische Sichtweise. Ihm kommt es auf Phasen und Entwicklungszustände des Kleinkindes an, auf den frühkindlichen Autoerotismus zunächst, dann auf die Analphase und darauf folgend die Ödipalphase usw. Aber Freud gibt neben diesen genetischen auch einige strukturelle Hinweise, die in unserem Zusammenhang interessanter sind.»die Kinder selbst«, sagt Freud,»benehmen sich von frühen Jahren an, als sei ihre Anhänglichkeit an ihre Pflegepersonen von der Natur der sexuellen Liebe«(125). Auf dieses»als sei«kommt es an. Denn es»ist«nicht eine praktizierte oder praktizierbare sexuelle Liebe, die Kinder an ihre Eltern bindet, sondern es ist sind die abkömmlichen Formen dieser Liebe: ein sehr kräftiger, prägender Hang, eine Neigung, ein»sich benehmen, als ob«, eine gewisse Latenz, die stets mit Trennung rechnet.

144 124 DIE VERSCHALTUNG DER MASSE UND DAS BEGEHREN DER STIMME»Die Angst«, sagt Freud,»die Angst der Kinder ist ursprünglich nichts anderes als der Ausdruck dafür, dass sie die geliebte Person vermissen«. Die kindliche Liebe, die Libido und das kindliche Begehren vollziehen sich also in einem differentiellen und prekären Diskurs, der anders, als Freud anfangs meinte, keineswegs so genetisch einfach und durchsichtig ist, sondern von vorneherein eine strukturelle Komplexität hat, in der Libido, Trennung, Kastration und»als ob«in allen Verschiebungen und Verdichtungen, Verdrängungen und Ängsten in unzertrennlicher Einheit zusammen gebacken sind; ein Diskurs, in dem es wesentlich auch darum geht, was Freud so ganz unscheinbar und zwischendurch in diese Fußnote verpackte, in der um das Sprechen und das Stimmen-Hören geht. Es gibt kaum Anhaltspunkte, dass Hörspieltheoretiker vor 1933 diese Zusammenhänge der Freudschen Theorie kannten. Übergänge von der Psychoanalyse zur Literaturkritik, wie sie seit den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts üblich sind, waren vor 1933 in Deutschland äußerst rar. Sie sind über den französischen Surrealismus erst sehr spät in die deutsche Diskussion der Nachkriegszeit gekommen. Kolb kennt Freud nicht und Freud ganz sicher nicht Kolb. Und dennoch erschließen sich deutliche Zusammenhänge. Es geht bei dem Jungen im Dunklen, der noch wach ist und nicht schlafen kann, nicht darum, was inhaltlich gesprochen wird. Es ist ja längst Schlafenszeit und da wird nicht mehr vorgelesen. Dem kleinen Knaben geht es nicht einmal darum, ganz zur Verwunderung seiner Tante, dass er die Person sehen will, die spricht. Die Forderung des Jungen das gab Freud Anlass für seine Fußnote ist nicht, dass die Tante etwas Bedeutendes sagt, dass sie dem Kleinen einen Inhalt mitteilt, dass das Sprechen hier Sprechen von Bedeutung wäre; oder dass die Tante gerufen würde, um selbst gesehen zu werden: Es geht allein um das Ansprechen, das Sprechen, das sich an jemanden richtet, um das Angesprochen-Werden; es geht um das Hören des Sprechens, um das Hören von etwas, das man nicht sieht, eine unsichtbar anwesende Stimme und also um eine bestimmte Art von Radio. Sind alle Radiohörer, sind wir alle, wenn wir Radio hören, gebannt in der Dunkelheit dieses Knaben?»Wie im Großen, so im Kleinen«, antwortet Richard Kolb. Auch Kolb operiert mit dem Zusammenhang von Angst und Sichtbarkeit. Ihm geht es aber weder um eine genetische noch um eine strukturelle Psychologie der Wahrnehmung oder des Begehrens zu Hören. Der Kern seiner Theorie ist gleichermaßen physiologisch wie metaphysisch gedacht.»die elektrischen Wellen treffen den Menschen, gehen durch ihn hindurch, und es wäre nicht absurd zu denken, dass der Mensch Nerven hätte, die die Wellen unmittelbar aufnähmen und im Gehirn zur Wahrnehmung brächten«(kolb 1933, 53).

145 LODGE 125 LODGE Das ist pure spekulative Nachrichtentechnik. Oder man kann auch sagen, Metaphysik oder Para-Physik, die aber im Diskurs der Physik der Elektrodynamik ihre Vorgeschichte hat. Im Blick auf den Physiker Lodge darf man in Erinnerung rufen, dass das Kolbsche Schema der elektromagnetischen Gedankenübertragung genau das ist, was schon die Maxwellianer entwickelt hatten. Besonders der von Helmholtz und Heinrich Hertz so geschätzte Oliver Lodge legt uns solche extra-sensorischen Übertragungsformen nahe, wenn er beispielsweise in seiner Äthervorlesung von 1882 die Fälle durchdiskutiert, in denen ein lebendiger Körper auf einen anderen einwirkt, also zum Beispiel ein Mensch auf einen Hund. Der Mensch kann nach dem Hund einen Stein werfen, ihn rufen, mit ihm sprechen, nach ihm pfeifen oder mit einem Spiegel das Sonnenlicht in das Auge des Hundes lenken. Das seien alles die üblichen Einwirkungsmethoden auf einen Hund, sagt Lodge. Und er schließt dann mit dem seltsamen Satz:»Die einzigen noch übrigen typischen Methoden auf den Hund einzuwirken, wären die elektrische oder magnetische Anziehung oder der thierische Magnetismus«. Lodge schließt diesen Abschnitt über die»subtilen und geheimnisvollen Kommunikationsmittel«mit einer Bitte an seine Leser.»Ich hoffe«, sagt Lodge,»Sie würden sich auch hierbei nach einem Medium, das die Eindrücke übermittelt, umsehen, in der Gewissheit, dass hier, wie den früheren Fällen, ein solches vorhanden sein müsse«(lodge 1896, 438f). Solches liest man in Oliver Lodges»Neuesten Anschauungen über die Elektrizität«von 1896, ein Buch, das auf Initiative von Hermann von Helmholtz übersetzt wurde, nämlich von seiner Frau Anna und der Freundesfrau Estelle du Bois- Reymond. Lodge und Heinrich Hertz hatten ab 1890 über Jahre einen herzlichen Briefkontakt gepflegt, in welchem es auch um die para-physikalische Passionen des englischen Physikers ging. Eines der Hauptgebiete der Forschungsarbeit von Lodge waren Telepathie und»thought-transference«(gedankenübertragung). Die»Society for Psychical Research«, in der Lodge sehr aktiv tätig war, darf keineswegs als ein mesmeristischer oder spiritistischer Geheimzirkel verstanden werden, wie sie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Europa immer noch grassierten. Die SPR hatte vielmehr einen explizit akademischen Anspruch. Ihre Mitglieder waren hoch angesehene Wissenschaftler. In ihren Reihen befand sich unter anderem der Begründer der amerikanischen Psychologie William James, und der Physiker und spätere Nobelpreisträger Lord Rayleigh, um nur einige zu nennen. Mitglied war auch, neben dem Physiker Lodge, der bereits erwähnte William Crookes, Erfinder des Radiometers, Entdecker des chemischen Elements»Thallium«und bekennender Anhänger der extrasensorischen Welt des Spiritismus samt seiner Klopf- und Spuk-Erscheinungen. Aus den Bänden der»proceedings of The Society of Psychical Research«, also der Zeitschrift der Gesellschaft, erfahren wir, dass zumindest für Lodge Gedankenübertragung, also»thought-transference«, eine erwiesene Tatsache war. Lodge schreibt:

146 126 DIE VERSCHALTUNG DER MASSE UND DAS BEGEHREN DER STIMME»I regard the fact of genuine thought-transference between persons in immediate proximity... as having been established by direct and simple experiment... I consider it as firmly grounded as any of the less familiar facts of nature such as one deals with in a laboratory«(in Parks 1993, 38). Gedankenübertragung in einem physikalischen Sinn für möglich zu halten, hatte sich für Lodge, so erfahren wir aus seinem Text, vor allem im Umgang mit lebenden Medien erwiesen. Lebende Medien sind Menschen, die ihre Umgebung dadurch erstaunen, dass sie in Trance versetzt völlig unmögliche Dinge tun, bzw. vorgeben, solche Dinge zu tun: Tische versetzen; als eine ganz und gar fremde Person sprechen; in einer Sprache reden, die sie im Wachzustand nicht beherrschen; mit Toten kommunizieren und Dolmetscher spielen zwischen lebenden und toten Anverwandten. Alles das hat es in Amerika und England vor allem seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in einem auffällig verstärkten Maße gegeben. Diese lebendigen Medien nun unterzog Lodge, namens und im Auftrag der Gesellschaft für Psychische Forschung, gründlichen Beobachtungen. Ganz so wie es zehn Jahre zuvor auch Crookes schon getan hatte. Die Medien zeigten seltsame Eigenschaften, zum Beispiel das berühmte weibliche Medium Leonore M. Piper. Madame Piper konnte im Trance-Zustand die Gedanken und Persönlichkeitsmerkmale anderer, ihr völlig unbekannter Personen wiedergeben. So wurde es jedenfalls behauptet. Der Fall der Leonore Piper hatte es Lodge besonders angetan, weil diese Frau in ihrer Trance die Stimme anderer reproduzieren, telepathieren, simulieren oder imitieren konnte, und zwar, zum Beispiel, die Stimme und die Reden eines gewissen Dr. Phinuit. Männlich mit französischen Akzent, nahm dieser Dr. Phinuit, alias Leonore Piper, telepathischen Kontakt auf und erzählte in mehreren Séancen Dinge über Lodges Familie, die Leonore Piper alias Dr. Phinuit, vernünftigerweise nicht wissen konnte, versicherte jedenfalls Lodge. Die SPR erforschte vor allem die viktorianischen, also die englischen Medien des späten 19. Jahrhunderts, und davon gab es eine Menge. Neben Leonore Piper den Stühlerücker Daniel Dunglas Home, die Tischeversetzerin Eusapia Palladino, die später den Philosophen Henri Bergson sehr beeindrucken sollte, Kate Fox und Katie King (Stein 1993), die den Chemiker William Crookes an der Nase herumgeführt hatten, oder Madame Elizabeth d Esperance, die vor Friedrich Nietzsche und Lou Andreas Salome auftrat; nicht zu vergessen Helene Smith, die (in Trance) in so vielen Sprachen sprach, dass der Psychologe Theodore Flournoy und der Begründer der Linguistik Ferdinand de Saussure ihr später ein Buch widmeten (Flournoy 1921). Schließlich noch zu nennen: Emily Hardinge Britten und Madame Helena Petrovna Blavatsky, die beide als sehr erfolgreiche und geschäftstüchtige Klopfgeister -Medien auftraten (also z.b. über Klopfzeichen mit Toten zu kommunizieren vorgaben). Letztere, Madame Blavatsky, begründete 1875 die weltweite Gesellschaft der Theosophen, deren deutsche und auch schweizerische Abspaltung von 1908 sich die»anthroposophen«nannten und bis heute so heißen. Dann gab es da noch Andrew Jackson Davis, den Edgar Allan Poe gut kannte, gleichermaßen verehrte und herzlich hasste,

147 LODGE 127 oder den Trance-Schreiber William Eglington, ein Vorreiter des automatischen Schreibens, um nur einige zu nennen (Hagen 2002). Diese Medien erfuhren durch die SPR und durch die Untersuchungen von Lodge und Crookes große Aufmerksamkeit und vor allem vielfältige, und damit, nach dem damaligen Stand, wissenschaftliche Bestätigungen. D.h. Crookes und Lodge attestierten diesen Menschen in bestimmten Situationen besondere Fähigkeiten.»I didn't say it was possible I said it was true«, pflegte Crookes dazu zu sagen (in Parks 1993, 20). So beeindruckt, vielleicht auch verblüfft, vermutlich betrogen, jedenfalls subjektiv überzeugt, fühlt sich der Wissenschaftlicher Lodge offenbar genötigt, eine Theorie der Telepathie zu entwickeln. Seiner Erklärung geht eine theoretische Vorbemerkung voraus, die einige signifikante Züge trägt. Es sei nämlich keineswegs klar, mutmaßt er, dass das, was wir den Geist oder das Bewusstsein einer Person nennen, wirklich im Körper lokalisiert sei. Und wörtlich Lodge:»Dass das Gehirn das Organ des Bewusstsein ist, ist offensichtlich; aber dass deswegen das Bewusstsein auch im Gehirn lokalisiert sein muss, sollte kein Psychologe so einfach behaupten; so wie sich die Energie einer elektrischen Ladung, obwohl diese sich anscheinend in einem Leiter befindet, keineswegs in diesem Leiter ist, sondern sich im Raum um den Leiter herum befindet; so wie also die Energie eines elektrischen Stroms, obwohl sie anscheinend im Kupferdraht ist, ganz sicherlich eben nicht in diesem Draht ist, und vermutlich nichts von dieser Energie dort ist; so könnte es ja sein, dass das sensorische Bewusstsein einer Person, obwohl es anscheinend in ihrem Gehirn lokalisiert ist, als etwas aufgefasst werden könnte, das ebenso existiert als schwaches, fernes Echo im Raum, oder in anderen Gehirnen, wiewohl diese dann normalerweise zu beschäftigt und zu voreingenommen sind, um das zu bemerken«(*lodge 1884, 191). Lodges Theorie der Gedankenübertragung ist für eine Epistemologie des Radios nicht ohne Belang, denn sie zieht ihre telepathischen (Kurz-)Schlüsse aus dem Dispositiv der Maxwellschen Theorie der Elektrodynamik. Man musste, wie wir im Kontext der Hertzschen Versuche gesehen haben 8, die Maxwellsche Theorie ja so lesen, als sei elektrischer Strom eine Funktion von Äther-Verspannungen. Die Rückführung aller elektrostatischen und elektrodynamischen Phänomene auf Gleichungssysteme, die es nur mit Feldern und ihren geometrisch-vektoriellen Transformationen zu tun haben, konnte diese Annahme, die für Maxwell selbst nur eine Art von Hilfsvorstellung war, stützen. Auch Richard Feynman lehrt in seinen berühmten»lectures on Physics«(1963), dass elektrische Ladungen sich nur an der Oberfläche von Leitern und Kupferdrähten bewegen und nicht in ihnen. Ich habe die Verrenkungen und Reflexionen zitiert, die Richard Feynman auch 1963 machen muss, um seinen Studenten eine Vorstellung davon zu geben, was Elektromagnetismus ist. 9 Am Ende blieb nur die Vorstellung von einer Zahl im Raum übrig, letztlich eine Nicht-Vorstellung, etwas, das sich der Vorstellung entzieht, ein Mathematizismus, ein reiner Gedanke. 8. Vgl. Die Oszillation des Reellen, Seite 37ff. 9. Vgl. Unsichtbare Engel, Seite 9ff.

148 128 DIE VERSCHALTUNG DER MASSE UND DAS BEGEHREN DER STIMME Lodge und die Maxwellianer ziehen genau hier ihren signifikanten Schluss. Denn was möglicherweise nur als Gedanke vorstellbar ist, ist möglicherweise eben nichts weiter als Gedanke, aber nicht in dem Sinne eines ideellen Hirngespinstes, sondern einer konkreten physischen Kraft, die unseren Kopf umgibt, wie ein Magnetfeld ein stromleitendes Kupferkabel umgibt. Gedanken, so Lodge, sind nicht anderes als Ätherverschiebungen im Raum und damit sind sie den elektrischen Verschiebungen äquivalent, die sich genauso gut auch ohne Leiter frei im Äther fortpflanzen können. Möglicherweise sind also Radiowellen nichts anderes als der Stoff, aus dem auch unsere Gedanken gemacht sind. Lodges Vorstellung von unserem Bewusstsein ist also ein Radiomodell. Bewusstsein ist das, was uns durch Felder, die unseren Kopf umgeben, eingegeben wird; und uns kommt es nur so vor, als käme das Bewusstsein aus uns selbst. In Wahrheit sind wir nur in bestimmte Felder eingetaucht, wenn wir denken, dass wir wir sind. Wir sind umgeben von einem Gedankenverschiebungsstrom, der ebenso gut weit ab von uns gelagert sein kann. Und genau hier kommt Lodges Wertschätzung für die spiritistischen Medien à la Blavatsky und Leonore Piper zum Zuge. Denn diese Menschen hätten, so Lodge, eine besondere Empfänglichkeit, eine besondere Sensitivität für diese uns umgebenden Gedankenströme und könnten eben möglicherweise durch Resonanz, oder wie Lodge sagt»syntonisch«, Gedanken anderer, weit entfernter Menschen auffangen, wie Schwingungen, die sie wiederum als Gedanken wiedergeben, oft eben in»trance«. Bewusstsein wäre also für Lodge ein Teil eines radiomäßigen Systems der»thought-transference«, der Gedankenübertragung. Dieser signifikante Kurzschluss legt nahe da folgt sozusagen Kurzschluss auf Kurzschluss, dass nun auch Heinrich Hertz mit ins Spiel kommen muss und musste. Weder Hertz noch Lodge haben es offensichtlich als ernsthaft anstößig empfunden, über die Frage einer möglichen Mitgliedschaft Hertzens in der»society of Psychical Research«zu korrespondieren. Lodge fragt Hertz, der ja als erster die Existenz der Wellen im Raum wissenschaftlich bewiesen hatte, ob er, Hertz, nicht nun auch selbst in den Kreis der Gedankenforscher eintreten wolle, in die»society for Psychical Research«, als reguläres Mitglied. Dies Ansinnen wies Hertz am 18. Januar 1891 ausführlich, in schlechtem, aber höflichem Englisch, zurück (»I will not make the least step to meet any of these curious occurrences, in which unknown regions of psychical action are revealed though I should be very interested if they came to meet me«; in O Hara 1987, 98). Zweifellos hätte man einem preußisch-wilhelminischen Professor in der Nachfolge Hermann von Helmholtz den Garaus gemacht, wenn er sich mit Obskurantisten und mit dem explizit Übersinnlichen öffentlich gemein gemacht hätte. Gleichwohl: In der Liste der korrespondierenden Mitglieder der Gesellschaft vom Jahre 1892 ist der Name Heinrich Hertz verzeichnet (PSPR 1892).

149 SCHREBER 129 SCHREBER Zur Zeit des Briefwechsels zwischen Lodge und Hertz hatte ein anderer deutscher Akademiker Probleme eines übersinnlichen Verkehrs ganz anderer Art und im buchstäblichsten Sinn am eigenen Leib zu erleiden. Es sollte für ihn am Ende nicht wirklich gut ausgehen. Die Rede ist von Daniel Paul Schreber, dem Sohn des Pädagogen und Schrebergartengründers Daniel Gottlieb Moritz Schreber. Ich möchte, nach Kolb, Freud und Lodge, nun noch ein letztes Radiomodell einbeziehen, nämlich das der Psychose des Daniel Paul Schreber. Der Sohn des Schrebergartengründers war lange Jahre Richter in Leipzig gewesen. Ein honoriger und offenbar besonders sensibler Mann. Als ihn die Berufung ereilte, in Dresden Präsident des Landesgerichts zu werden, packt ihn ein regelrechter psychotischer, schizophrener Schub. Er glaubt, um es sehr verkürzt zu sagen, irgendeine Macht wolle ihn entmannen und zum Weib machen. Schreber ist ein berühmter Fall. Sigmund Freud, C.G. Jung, Walter Benjamin, Elias Canetti, Jacques Lacan und eine ganze Heerschar psychoanalytischer Theoretiker haben über diesen Mann geschrieben. Denn Daniel Paul Schreber war nicht nur ein Fall für die Psychiatrie, sondern ist bis heute ein einzigartiger Fall im Grenzbereich von Literatur und Psychologie. Weil er seine Krankengeschichte selbst aufgeschrieben und in seinem Schreiben den Eindruck vermittelt hat, als habe er sich durch diese Krankengeschichte gesund geschrieben, zumindest aber rehabilitieren können, sind die»denkwürdigkeiten eines Nervenkranken«, 1903 erschienen, ein einzigartiges Dokument (Hagen 2001). Daniel Paul Schreber saß zwischen 1893 und 1902 zunächst in der Leipziger Nervenklinik und dann in der Landesanstalt Sonnenberg bei Pirna. Diagnose:»Gehörs- und Gesichtshalluzinationen«;»hielt alles um sich herum für Geister und seine Umgebung für eine Scheinwelt«;»zeitweise offenbar viel von Stimmen belästigt, sprach sich nie darüber aus«;»machte im Bad Ertränkungsversuche«;»sah Wundererscheinungen, hörte heilige Musik«;»im Garten wurde bemerkt, wie er die Hände lauschend an die Ohrmuscheln legte«(schreber 1973, 22f) entmündigt ein Gericht den Psychotiker Schreber. Der aber, ehemals ja selbst Senatspräsident beim Kgl. Oberlandesgericht in Dresden, ficht das Urteil erfolgreich an und versucht sich danach durch Niederschrift seines Wahnsystems gleichsam auch wissenschaftlich zu rehabilitieren. Daniel Paul Schreber ist vielleicht das, was man am einfachsten verrückt nennen könnte, wahnsinnig, jenseitig. Er ist, deutlich registrierbar, schubweise gepackt von Wahnvorstellungen, wenn wir den überlieferten klinischen Krankenberichten trauen können. Eine halluzinative, wochenlang schubweise von Schreien und Körperschütteln, Schlaflosigkeit, Panikbrüllen, aber auch apathischen Abwesenheiten und Lähmungen begleitete paranoide Psychose. Schrebers eigener Text gibt nun eine detailgenaue, systematische Beschreibung dieser furchtbaren Zustände von innen, aus einem inneren Blick. Und, anders als bei Leonore Piper und Dr. Phinuit, dürfen wir wohl konstatieren, dass das von dem Dresdener Ex-Senatspräsident am Landgericht Schreber aufgeschriebene

150 130 DIE VERSCHALTUNG DER MASSE UND DAS BEGEHREN DER STIMME Wahnsystem keiner Konstruktion aus Betrugsabsicht folgt. Und wenn es Selbstbetrug wäre, dann wäre dieser wiederum vom zu beschreibenden Wahnsystem nicht weit entfernt. Hingegen beruhten die spiritistischen Medien und ihre seltsamen Künste ja nachweislich auf Täuschung, Taschenspielertricks und offenen Betrug. Das ist bei Schreber anders. Was er schreibt, muss auf die eine oder andere Weise tatsächlich dem Wahnsystem des kranken, paranoiden Psychotikers Schreber entsprechen. An der eigentümlichen Authentizität dieses Schreberschen Buches ist seither nie ernsthaft gezweifelt worden. Die Psychoanalyse in der Schule Freuds verdankt diesem von innen aufgeschriebenen Wahnsystem ihre eigene Theorie der Psychose und damit vor dem Horizont der Konstruktion dieser Theorie wesentliche Einsichten in die Struktur des Unbewussten. Was beschreibt Schreber als seinen inneren Wahn? Er will uns die Wahrheit sagen, so scheint es, er will uns eine Selbstbeschreibung seines Verrücktwerdens geben, weil er sich rehabilitieren will. Dazu schreibt er seine»denkwürdigkeiten eines Nervenkranken«. Schreber ist der Sohn einer Generation von Medizinern und Juristen, deren Veröffentlichungen bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Seinen Entmündigungsprozess hat er zwar gewonnen, aber im Urteil, das ihm die Bürgerrechte wiedergibt, hatte man ihn für geisteskrank erklärt. Nun muss er sich auf dem Felde der Wissenschaft rehabilitieren. Was er nicht verleugnen kann, sind die Krankenberichte, in denen seine Ärzte die wahnhaften Züge ihres Patienten dokumentiert haben; etwa, dass er sich nackt auszieht und Kleider und Röcke vor dem Spiegel anprobiert und dabei sinnloses Zeug brabbelt. Dazu aber, so Schrebers Selbstbericht, sei er gezwungen worden; vor sich hinzuplappern und transvestitische Verrichtungen mit seinem Körper zu unternehmen, dahinter stecke, sagt Schreber, ein ausgefuchstes, ausgefeimtes, durchtriebenes, komplexes und vollständig aufklärbares, reell existierendes, physikalisch beschreibbares System. Sagt Schreber. Und dann beschreibt er in der Tat ein System telekommunikativer Verstrickung, von einer Komplexität, wie es Oliver Lodge oder Richard Kolb sich wohl nicht hätten ausdenken können. Schreber baut vor unseren lesenden Augen eine riesige Systemmaschine aus Nervenfäden und Strahlenbindungen auf, die ihn fest im Universum verstrikken, nämlich vor allem mit Gott; über dessen Zugangs- und vor allem Abgangskanäle (denn Gott invadiert ihn) ist er mit einigen Menschen und Tieren verbunden, vor allem mit besonderen Vögeln. Andere Menschen, Anstaltsinsassen, Pfleger oder auch Familienangehörige sind oft nichts anderes, als nur von den Anhangnerven»hingewunderte flüchtig hingemachte Männer «(124). Schreber ist ständig auf Empfang. Wenn er von den Figuren spricht, diesen»flüchtig hingemachten Männern«, dann stellt er diesen Ausdruck im Buch in Anführungszeichen und sagt damit, dass schon die Bezeichnungen dessen, was er sieht und erlebt, ihm eingesprochen wurden. Er lässt uns in seinem Bericht ein psychotisches Radio nach-erleben, das ununterbrochen auf ihn einplärrt, aus dem, um jetzt im buchstäblichsten Sinn mit Kolb zu sprechen, ständig Stimmen nicht zu ihm, sondern in ihm sprechen. Das»nervt«Schreber, das hält er für komplett blödsinnig, und für je blödsinniger er es hält, umso blödsinniger macht

151 SCHREBER 131 es ihn. Schreber ist ständig, sagt er, umgeben von einem dichten, technisch gestrickten Netz aus Nerven, die sich an seine Nerven hängen,»nervenanhang«nehmen. Diese Nerven erscheinen ihm wie Strahlen aus den (beiden) Gottesreichen, lange Fäden, die ihn umzüngeln. Es sind diese Nerven, die permanent sprechen; denn sie bestehen aus sprechender Sprache. Gott, der ein»nerv«ist, spricht in diesem System als Nerv. Ewig und unendlich. Aber es ist ein besonderer Gott, Schrebers Gott. Normalerweise,»solange die Weltordnung intakt war«(155), wie Schreber es sagt, lässt dieser Gott die lebenden Menschen in Ruhe. Erst dem Toten zieht Gott, der aus nichts als Nerven besteht, weltordnungsmäßig die Nerven heraus und bemächtigt sich so des Wissens und aller Gefühle, die in den Nerven gespeichert sind. Denn das weiß Schreber auch: Das Gehirn, das sind nur Nerven. Und in ihnen steckt alles Gefühl, Wallung, Wollust, Sprache, Trieb. Nur so wird der Gott, indem alle Menschennerven am Ende bei ihm landen, alles wissend; allwissend ist er nur deshalb. Ist aber nun die Weltordnung gestört, wie im Fall Schreber, aus Gründen, die zu kompliziert sind, um sie hier zu erörtern, so nähern sich die Gott-Nerven nun auch einem Lebenden, nämlich Schreber, und zwar mit dem Ziel, ihn zu entmannen. Auch dahinter vermutet Schreber einen bösen Verschwörer Weltordnungswidrig wundert Gott, der jetzt gleich in zwei Gestalten auftauchen kann, in seinen Nerven herum, um nämlich an ihm, dem Lebendigen, Anhang zu nehmen. Alles wundert an seinem Körper herum, denn die Nerven sind mit dem Körper auf das Dichteste verwoben, und Nerven sind zugleich auch Strahlen, sogar für Schreber sichtbare Strahlen, die meist von der Sonne ausgehen, sozusagen ein Gottesbündel, das sich in den unvorstellbarsten Bögen durch den Raum windet, bevor diese züngelnden Nerven an seinem Kopf Anhang nehmen. Oder an seiner Brust. Oder an seinem Geschlecht herumwundern, es verändern (139), ihm die Kniescheibe zermartern oder die Zähne. Alle diese Strahlen oder Nervenfäden, die sich von außen an Schrebers Nerven hängen und ihn mit einem labyrinthisch komplexen Strahlen-Gott-Nerven- Kosmos verkoppeln, bestehen aus Sprache und sind Sprache. Oder genauer gesagt: Sie sind ein Sprechen. Sind im Schreber-System die Nerven in Bewegung, sagt Schreber, so sprechen sie unausgesetzt. Sie bestehen sozusagen aus nichts als Sprache, sie sind eine einzige unaufhörliche Parole. Und weil, was nur aus Sprache und nichts als aus Sprache besteht, in gewisser Weise auch nichts zu sagen hat, so haben diese fortgesetzt plappernden Schreberschen Nervenanhänge nichts zu sagen außer Floskeln oder Preziosen, Wortwendungen, immer gern auch halbe Sätze wie:»sie sollen nämlich «oder»nun will ich mich «oder»fehlt uns nun «(241). Diese kosmische Nervenanhangssprache funktioniert im Wahnsystem Schrebers technisch auf dem neuesten Stand. Schreber sagt:»es liegt vermutlich eine ähnliche Erscheinung vor wie beim Telefonieren, d. h. die nach meinem Kopfe ausgesponnenen Strahlenfäden wirken ähnlich wie die Telefondrähte«. Dadurch kann er leicht erklären, wieso seine Wärter von diesem ganzen Nervenanhangs- Terror, dem er ausgesetzt war, nichts mitbekommen konnten. Denn»nur der

152 132 DIE VERSCHALTUNG DER MASSE UND DAS BEGEHREN DER STIMME telefonisch angeschlossene Adressat, nicht aber beliebige dritte Personen, die sich zwischen der Ausgangsstelle und dem Bestimmungsorte befinden, [vermögen] das mittelst Telefons Gesprochene zu hören«(321f). Dieses Telefonsystem zur Erinnerung: das Telefon existiert in Deutschland ab 1877 versetzt die angehängten Schreber-Nerven in syntonische Bewegung und in zwanghafte Wallung. Die Spreche der Nerven zwingt das Sprechen Schrebers ständig zur Vervollständigung der Floskelsätze, wie etwa:»nun will ich mich darein geben, daß ich dumm bin«oder»fehlt uns nun der Hauptgedanke«. Die Anhangsstrahlen, so erklärt uns Schreber, sind sozusagen»innere Stimmen«, die sich wie lange Fäden in seinen Kopf hineinziehen (243). Ich kann an dieser Stelle nur einen sehr vergröbernden Durchgang durch dieses Buch eines Wahnsinnigen machen, über das ja nicht nur schon viele Bücher geschrieben worden sind, sondern das auch von einer ganz vertrackten Komplexität ist, die in diesen wenigen Strichen nicht aufgeht. Deutlich wird gleichwohl, dass auch ein Wahnsystem und das Schrebersche ist das einzige, von dem wir eine so detailreiche Schilderung haben die Form eines Radio-Sender-Empfänger-Verhältnisses annehmen kann; und zwar einer deutlichen Ähnlichkeit zu dem, was Richard Kolbs Radiotheorie entwickelt. Da kommt ein Sprechen von außen, das als äußeres ins Inneren geht, seinen Anhang nimmt und als innere Stimme wirkt. Schreber ist natürlich bestrebt, uns immer wieder zu versichern, dass diese äußeren Erscheinungen, dass diese sich an seine Nerven anhängenden Fäden wirklich äußere sind, eben Erscheinungen der Übersinnlichkeit, Erscheinungen der»vierten Dimension«(72), wie er schreibt, und eben nicht bloß schnöde subjektive Halluzinationen, wie es seine Ärzte und Wärter dekretierten. Aber die Umkehrung ist ja viel nahe liegender. Innere Stimmen, die Schreber in sich hört, erscheinen ihm als von außen kommend. Kolb und seine Radiotheorie ist hier ganz nah bei Schreber. Kolb und mit ihm eine ganze Tradition der frühen ontologischen Ausdruckstheorien (Meyer-Kalkus 2001, 154ff) behauptet, es gebe einen Mechanismus der Resonanz zwischen inneren und äußeren Stimmen. Schreber zeigt uns, wie prekär diese Phänomene der Resonanz in der Wahrnehmung selbst werden können, wie ununterscheidbar oft zwischen Innen und Außen, und wie sehr sie mit einer psychotische Situation verkoppelt sein können. DIE AMBIVALENZ DES BEGEHRENS IM STIMMENHÖREN Alle vier Radiomodelle, von Kolb, Freud, Lodge und Schreber, liegen zeitlich nicht wesentlich auseinander und epistemologisch ganz nah beisammen. Alle vier Modelle lassen sich auf die Frage zurückführen, was es bedeutet, aus einem Medium (ich nenne es Radio ) Stimmen zu hören. Man wird zugeben müssen, dass dieses Phänomen alles andere als trivial ist. Bei Freud, seinem kleinen Jungen und seiner Tante, sind wir scheinbar noch auf ganz vertrautem Boden. Da spricht irgendjemand, in Abwesenheit und aus dem Dunkeln, und es wird hell.

153 DIE AMBIVALENZ DES BEGEHRENS IM STIMMENHÖREN 133 Vergessen wir nicht, dass das auch ganz anders konnotiert sein kann: Wenn jemand aus einem Dunkel spricht, nämlich ein Unbekannter, eine fremde Stimme, dann entsteht Angst, wenn wir sie nicht erwarten oder kennen. Auch für Freud war diese Szene ja die Geburtsstunde der Angst. Im Fall der Lodgeschen Gedankenübertragung ist das Modell schon etwas komplizierter. Es ist nämlich eine Synchronie, eine Gleichzeitigkeit im Spiele. Da geht es um Syntonie und ein Modell der Resonanz. Gedankenübertragung hat nach Lodge mit der Hypothese zu tun, dass das Sprechen anderer, oder das andere Sprechen, und auch bei Lodge wird nur gesprochen durch Bewusstseinsströme hergestellt wird, die wie Elektromagnetismus einander in Schwingung versetzen. Dann tönt das eine Sprechen aus dem anderen Sprechen und das andere aus dem einen, je nachdem welche besondere Fähigkeit die telepathischen Trance-Medien haben, die das angeblich exekutieren können. Nicht völlig verfehlt, aber viel zu verkürzt, hat denn auch Werner Faulstich eine Radiotheorie vorgelegt, die in der These mündet, das Medium Radio sei eine»quelle der Angst«(Faulstich 1981, 87ff). Diese Theorie erklärt nicht sehr viel, außer vielleicht dieses vergleichsweise singuläre Ereignis bei der Ausstrahlung eines Hörspiels im Oktober 1938, als während und nach»the War of the Worlds«von Orson Welles Tausende auf die Strasse liefen, um sich vor vermeintlichen Invasoren vom Mars in Sicherheit zu bringen. Ich komme darauf zurück und werde zeigen, dass dieses amerikanische Radio-Serial in seiner einmaligen Wirkung nicht mit einer Angst vor Stimmen zu tun hatte, sondern mit einer Angst, die aus dem Ausfall von Stimmen, aus ihrem Verstummen resultierte. 10 Angsterregende, aber eben auch übersinnliche Wirkungen hat man dem Radio durchaus von Anfang an zugetraut. So lesen wir bei Rudolf Arnheim in seinem Radiobuch von 1933:»Die Fähigkeit des durchschnittlichen Rundfunksprechers, den Hörer durch den bloßen Klang seiner Stimme in hypnotischen Tiefschlaf zu versetzen, grenzt ans Okkulte«(Arnheim 1936, 25). Im Fall Schreber ist die Struktur des Modells wieder eine andere. Bei Schreber ist die Zeitachse der Übertragung von außen nach innen ganz durcheinander oder ganz aufgehoben. Mal kommt erst die Übertragung und dann das Sprechen, mal evoziert das Sprechen die Übertragung, wobei das Sprechen selbst immer ganz leer ist. Die Gottesnerven, Schreber betont das immer wieder, sind dumm, blödsinnig. Und das deshalb, weil alles, was sie sagen, Worte sind, die sie aus Schreber herausgeholt haben. Die Gottesnerven besitzen ein»aufschreibesystem«, in dem sie alle je von Schreber gesprochenen Worte gespeichert haben. Diese wiederholen nun immer und immer wieder, verlangsamen die Vokale und Aussprache, weil sie nichts zu sagen haben, außer dass sie sprechen müssen, nur um des Affektes willen, um eine Erregung zu exekutieren, deren Effekt und 10.Vgl. Suggestibilität, Seite 244ff.

154 134 DIE VERSCHALTUNG DER MASSE UND DAS BEGEHREN DER STIMME Ursache sie zugleich sind. Und für Schreber gibt es, im Aufschreiben dieses Systems, nur eine einzige Rettung, die in seinem oft wiederholten Satz mündet, der für sein ganzes System gilt:»aller Unsinn hebt sich auf«(319). Um den Zentralbegriff Freuds (der ein genauer Leser Schrebers war) zu erläutern, könnte man sagen: Schreber zeigt, dass das Unbewusste eine Sprachstruktur hat, oder genauer: dass das Unbewusste ein Sprechen ist, das(s) das Unbewusste spricht. Gerade in der Störung des Sprechens, die Schreber in seiner Krankheit widerfährt und die, nach Lacan, stets ein Definiens der Psychose ist kein Psychotiker ohne einen gestörten, oft auch neologistischen Sprechdiskurs, in dieser gestörten Sprachwelt und in Schrebers Versuch, uns die Systematik dieser Störung zu erklären, erfahren wir etwas über die Macht und die Mechanismen des Unbewussten im Sprechen. Es, das Unbewusste, lässt uns schon sprechen, bevor wir wissen, was wir gesprochen haben, so wie die Nerven Schrebers Schreber sprechen machen, ohne dass er es will, von Wollust und Erregung übermannt. Die Störung bei Schreber ist sozusagen nur, dass er in diesen Diskurs des Sprechens immer wieder noch einmal hineinsprechen musste, so dass dies Sprechen des Sprechens durcheinander und außer Kurs geraten ist. Für Schreber verselbständigt sich das Sprechen, wird für ihn ein reelles Anderes, es macht ihn krank, weil es sich in ihm durchkreuzt, mit ihm verrückt spielt, ihn schlaflos macht, ihm schwere Schmerzen zufügt. Darin wiederum beweist sich nur noch einmal, dass das Sprechen vom Unbewussten unabdinglich getriggert ist, und zwar in einer genauso absoluten Bindungskraft, wie das System Schrebers über Schreber verfügt. In dem Diskurs der Sprache, über den wir verfügen, ist das Sprechen das einzig Reelle, wie Lacan sagt, das wir haben und tun müssen, ob wir wollen oder nicht. Auch unser normales Sprechen ist dieses Sprechen eines anderen, klein geschrieben, insofern jedes Sprechen vom Unbewussten skandiert ist. Was schlicht bedeutet, dass nicht wir es sind, die sprechen, sondern es das Sprechen selbst ist, das uns spricht. Gehen wir zum Radio zurück. Wir haben es im Radio mit der schlichten Beobachtung zu tun, dass technisch erzeugte Stimmen, die aus dem Lautsprecher kommen, offenbar Wirkungen zeigen bei denen, die sie hören. Warum und wieso, dafür geben die allermeisten Medientheorien keine Erklärung. Für diese Theorien ist die Tatsache der Wirkung eine schlichte Umweltbedingung, mit der gerechnet werden muss. Wenn man aber gleichwohl nach Erklärungen sucht, dann kommt man nicht umhin, die Szene des Radiohörens auf der Folie von Theorien zu diskutieren, in denen das Stimmenhören Thema wird. Mit Freud und Lacan gesagt: Stimmenhören ist ein Akt des Unbewussten und von dem Begehren begleitet, bestimmt und getrieben: Stimmen hören zu wollen. Bei Schreber, oder besser gesagt, im von Daniel Paul Schreber aufgeschriebenen Wahnsystem des Daniel Paul Schreber, ist der psychotische Punkt genau der, wo diesem Begehren eine fundamentale Störung widerfährt. In dieser Störung artikuliert sich überhaupt erst das Begehren. Die Stimmen, die zugleich Nerven sind, wollüstern an seinem Körper herum, entmannen ihn, verweiblichen ihn, lassen ihn Frauenkleider anziehen und, wie er findet, Brüste wachsen. Das Stim-

155 DIE AMBIVALENZ DES BEGEHRENS IM STIMMENHÖREN 135 menhören ist bei Schreber im Begehren, gegen das er sich zugleich wehrt, sexualisiert. Bei Kolb dagegen ist das Begehren nach der Stimme vollständig sublimiert. Stimmenhören aus dem Radio soll in purer Innerlichkeit geschehen, ja diese überhaupt erst herstellen können. Das Stimmenhören aus dem Radio geschieht nach Kolb im Modus einer ontologisierten und idealisierten Repräsentanz. Die äußeren Stimmen werden im Inneren des Hörers noch einmal aufgebaut denn sie sind innere Stimmen. In dieser ontologisierten Innerlichkeit liegen Faszination und Unterwerfung nahe beieinander. Die Faszination des Hörens gibt sich der Stimme hin, die eine innere Stimme des Gehorchens und des Gehorsams ist. Während Schreber also sein System des Stimmenhörens als einen Fall des grotesken Scheiterns schildert, in welchem das Begehren gleichsam psychotisch verrückt spielt, wird bei Richard Kolb das Begehren nach Stimme in einen absolut idealisierten Unterwerfungsakt des Gehorchens überführt. Dabei kann der Psychotiker Schreber in gewisser Weise ein leidvolles Lied davon singen, was es bedeuten würde, Kolbs Radiotheorie in die Wirklichkeit umzusetzen. Es handelt sich nämlich beim Stimmenhören, so sehr es ein Akt des Begehrens ist, um alles andere als ein inneres Hören. Das kann man am Beispiel des kleinen Jungen bei Freud sehr schön zeigen. Denn nur, wenn der kleine Junge schon nahezu verrückt gewesen wäre, hätte er gesagt, dass er die Stimme der Tante als seine innere Stimme vernehmen will. Das aber hat er nicht gesagt. Er hat nur gesagt, dass es»hell wird«, wenn sie spricht. Es geht also um die Differenz, auf die alles ankommen muss: auf die Differenz im Hören der Stimme, also um die Differenz des Begehrens in der Resonanz, auf ihr Mitschwingen und Nicht-Mitschwingen. Anders liefe es einfach nur in eine Schrebersche Störung hinein, oder sagen wir es direkt: auf eine Psychose hinaus, in die zu verfallen uns Kolb verführen will, wenn er uns das Sprechen-Hören als ein absolutes Vernehmen einer Stimme in uns vorstellt. Lesen wir zur Verdeutlichung noch einmal ein Kolb-Zitat, das ziemlich wörtlich in Schrebers Leidensbericht hätte stehen könnte:»der unsichtbare geistige Strom aber, der vom Ursprung kommt und die Welt in Bewegung brachte, ist seinerseits in Schwingung versetzt, gerichtet und geleitet vom schöpferischen Wort, das am Anfang war und das den Erkenntniswillen seines Erzeugers in sich trägt«(52). Auch bei Schreber ist der Nervenanhang das Absolute, oder es machen absolute Kräfte einen Nervenanhang (was dasselbe ist), nämlich Gott, der Ursprung, die Schöpfung, nämlich Sprache, nämlich Wort.»Die Stimme des Hörspielers«, sagt Kolb,»wird zur Stimme des eigenen Ich«. Das exakt geschieht Schreber in seinem bedrängtesten Wahnzustand. Jetzt plappern seine von außen kommenden Stimmfäden-Strahl-Nerven genau den Blödsinn daher, den sie sich irgendwann einmal aus Schrebers Innerem, nämlich aus seinen eigenen Worten, herausgesogen haben. Also Schreber hört in seinem Wahn wahrhaft ursprüngliche Hörspiele, aber keine guten. Und auch (Schrebers) Gott selbst, der Nerv,

156 136 DIE VERSCHALTUNG DER MASSE UND DAS BEGEHREN DER STIMME führt keine guten Hörspiele auf, sondern ziemlich simple, derbe Verwechslungs- Komödien. Gott spricht, sagt Schreber, eine sogenannte»grundsprache, ein etwas altertümliches, aber immerhin kraftvolles Deutsch, das sich namentlich durch einen großen Reichtum an Euphemismen«, also an Schönrednereien,»auszeichnet. (So z.b. Lohn in der gerade umgekehrten Bedeutung für Strafe, Gift für Speise, Saft für Gift)«(77). Bei Schreber ist gut beschrieben, wie vehement er seinen Kampf führen muss gegen diese Okkupationsstrategie, zu der uns Kolb so sehr verführen möchte. Denn das Kolbsche Schema ist ein Schema des Radio-Wahns: Nervenfäden spielen Hörspiele, die aus Schrebers eigenen, inneren Stimmen bestehen. DAS RADIO UND DIE PSYCHOSE Ich möchte nicht missverstanden werden. Ich behaupte nicht, dass das Radio psychotisch macht und psychotisch ist oder ein Medium der Angst oder so etwas; das sind alles heillose Verdinglichungen und Positivismen, die keinen Schritt weiterhelfen. Was ich zeigen will, ist, dass das Radio als technisches Medium eine Episteme, ein Wissen enthält. Dieses Wissen artikuliert sich in den technologischen Kostellationen des Mediums (in Europa anders als in den USA). In diesem Konstellationen machen wir Erfahrungen auf beiden Seite des Mediums, also in einem neuen Diskurs des Sprechens einerseits, sowie des Sprechen- und des Stimmen-Hörens andererseits. Meine These ist, dass das Radio als technisches Medium eine Realität und Faktizität des Sprechen-Hörens artikuliert, der wir uns nicht entziehen können, und an die uns das Radio gleichsam ankabelt. Insofern erweitert das Radio irreversibel unsere Wahrnehmungsweisen und auch unser Wissen über das Stimmenhören, indem es uns auf die durch das Begehren des Unbewussten selbst artikulierte Ambivalenz des Stimmenhörens verweist. Was die frühe europäisch-deutsche Radiogeschichte betrifft, so ließe sich die epistemologische Annäherung an dieses Wissen so resümieren: Die Technologie des Radios, aus liegen gelassenem Experimentiergerät zusammengesetzt, enthält die unverstandenen, weil undarstellbaren Diskurselemente der Elektrizitätstheorien, aus denen sie in Europa hervorgegangen ist. Insofern haften ihr die weit verzweigten, gegenmodernen Diskurse des Telepathischen, Okkulten und Spiritistischen an, die ihrerseits entstanden waren aus der Überforderung der neuzeitlichen Wissenschaft durch die Phänomene der Elektrizität (Hagen 2002). In weiten Kreisen, auch in denen der künstlerischen Avantgarde von 1910, ebenso bei vielen Physikern und Naturwissenschaftlern, grassieren Vorstellungen von der»vierten Dimension«, von Gedanken übertragenden Strahlen, von Gehirn-Photografie, astralen Levitationen und Ektoplasmen. Diese Medienphantasmen, die ihr Apriori im Missverstehen des Elektromagnetismus, der Röntgenstrahlen und der Radioaktivität haben, ermöglichen einen Diskurs, der letztlich der Schrebersche ist. Schreber kannte die ent-

157 DAS RADIO UND DIE PSYCHOSE 137 sprechende spiritistische Literatur, um die es dabei geht, ziemlich gut und hatte sie, als er noch gesund war, weitläufig rezipiert. In seinem Buch fordert er, man möge ihn mit Röntgen-Strahlen durchleuchten, um die in ihn weltordnungswidrig eingepflanzten Wollusten-Nerven-Strahlen zu diagnostizieren. Schreber fordert Gehirnphotografie, um die züngelnden Nervenenden sichtbar zu machen, die er sieht (350f). So wird für Schreber, der ja nur auf eine wissenschaftliche Rehabilitierung aus ist, ein Diskurs möglich, aus dem wir, heißt aus dem Freud und Lacan und die vielen anderen Schreber-Leser, wiederum den Diskurs des Psychotischen zu rekonstruieren gelernt haben, der seinerseits eine Art Voraussetzung und Effekt in der der zivilen Nutzung des technischen Mediums Radio ist. Im Unterschied zu Amerika, wie wir noch sehen werden, hat das Medium in Deutschland gar keine Chance, seinem starken psychotischen Erbe zu entkommen. Das Radio wird sofort, als es militärstrategisch und staatsamtlich in die Welt gesetzt wird, von einer Mischung spiritistischer und okkulter Modelle wieder eingeholt, und zwar umso mehr, als es sich durch die Verengung auf ein»kulturinstrument«seiner eigentlichen Aufgabe nicht widmen kann. Das deutsche Radio ist, wie wir gesehen haben, von seiner epistemologischen Erbschaft so überformt, dass es nicht Massenmedium werden kann, soll und darf. Umso mehr wird es stattdessen von jener beschriebenen Mischung spiritistischer und okkulter Modelle auch deswegen eingeholt, weil die, und das ist das Entscheidende, in Deutschland bereits Politik geworden sind. Richard Kolb, Nazi- Mittäter von 1923 an, deckt diese gleichermaßen politischen, psychotischen wie spiritistischen Medien-Spuren schon sehr frühzeitig auf. Sein»Horoskop des Hörspiels«säkularisiert die Psychose als Medientheorie. Die Nazis werden die ersten sein, die seinen Entwurf des Mediums nutzen und zwar nicht nur instrumentell. Das Massenmedium im Modus der Volksverschaltung, das Kolb vorgedacht hatte, wird zum Inbegriff ihrer totalitären Ideologie. Es dürfte bekannt sein, dass viele führende Nazis, insbesondere Hitler, aber auch Heydrich, Himmler und andere, fanatische und praktizierende Spiritisten waren. Ich will deshalb im Folgenden ausführlicher auf den ersten großen Akt des Nazi-Rundfunks eingehen, auf den SA-Appell vom April Die Rede, die Hitler dort hielt, ist zwar nicht Gegenstand meiner Analyse. Aber so viel sei vorausgeschickt: Sie war ein brüllend vorgetragener Kauderwelsch aus der Schule des Ariosophen Guido von List und der Ostara-Ideologie des Jörg Janz von Liebenfels, zwei der zahlreichen spiritistischen Strömungen, die Hitler in Wien über Jahre in sich aufgesogen hatte (Hamann 1996). Einheitsprogramm und Verschaltung Am Samstag, dem 8. April 1933, sind zum Massenappell der SA und SS angetreten: 20 Tausend im Berliner Sportpalast, dazu weitere 14 Tausend auf den»tennisfeldern«und weitere 800 Tausend Mann im Deutschen Reich und in

158 138 DIE VERSCHALTUNG DER MASSE UND DAS BEGEHREN DER STIMME Österreich. Tausende Uniformierte paradieren vor Lautsprechern überall im Reich, von Flensburg bis hin nach Österreich. Strammstehen vor Lautsprechern, Stillgestanden, rührt euch, Fahne hoch. Man kann es nicht sehen, aber hören. Ein Radioappell, eine gezügelte Psychose, oder sagen wir: Politik als Psychose. Richard Kolb ganz ähnlich Hermann Pongs (1933) und Wilhelm Hoffmann (1932), die ich hier übergehen muss hat, wie gesehen, eine implizit psychotische Theorie des Rundfunks vorgelegt, um den Eindruck der Stimme, die aus dem Radio kommt, als»körperlose Wesenheit«zu behaupten. Dem entsprach eine spezifische Stimmkultur des Hörspiels, eine literarische Themenwahl und eine Ton-Collagen-Technik, die Wilhelm Hoffmanns Satz:»Ein primäres funkisches Thema ist der Tod«(Hoffmann 1932, 374) stets aufs Neue in Szene setzte. Im Nazi-Deutschland entwickelt sich im Anschluss an diese ästhetischen Radiotheorien eine regelrechte»rundfunkwissenschaft«, die Arnulf Kutsch (1985) gut untersucht hat. Friedrich Karl Roedemeyer in Freiburg und der Psychologe Wolfgang Metzger wollten im Zuge ihrer auf ontologischen Annahmen basierenden Forschungen nachweisen, dass ein Radiohörerlebnis physikalischphysiologisch einem so genannten»realhörerlebnis«nahezu äquivalent sei (Metzger 1942, 19ff), so dass Gerhard Eckert, ein nationalsozialistischer Radioforscher, der durchaus noch in den fünfziger Jahren gern gelesen wurde, 1941 in seinem Buch»Der Rundfunk als Führungsmittel«schreiben konnte:»die Deutschen stoßen, wenn wir den Rundfunk als Führungsmittel betrachten, auf eine eigenartige Parallele. Am 9. November 1923 scheiterte der Versuch Adolf Hitlers, durch einen Umsturz gewaltsamer Natur die Macht an sich zu reißen. Von diesem Augenblick an war sein Entschluss gefasst, den Weg der allmählichen Überzeugung und Gewinnung des ganzen Volkes zu gehen. Fast zum gleichen Zeitpunkt aber, am 29. Oktober 1923, begann die Tätigkeit des Rundfunks, der am gleichen 9. November über den Berliner Sender seine ersten aktuellen Tagesnachrichten verbreitete. Der Rundfunk war es dann, der vom 30. Januar 1933 an die Stimme des Führers immer wieder zum ganzen Volke dringen ließ und so entscheidend dazu half, die deutsche Volksgemeinschaft zu formen. In einem Augenblick, wo das Ziel feststand, entwickelte sich auch das Mittel, das zur Erreichung dieses Zieles mit das wichtigste war«(eckert 1941, 35f). Diese»eigenartige Parallele«der deutschen Rundfunkentwicklung ist aus meiner Sicht alles andere als eigenartig. Gerhard Eckerts nationalsozialistisches Buch über den nationalsozialistischen Rundfunk täuscht sich und uns nicht darin, dass die rundfunk-technologische»erschließung«des Volkes eine von Anfang an massiv technische Aufgabe gewesen ist, die mit der flächendeckenden Versorgung von Sendern und dem Ausbau ihrer Zuführungstechnologie zu tun hat. Bis 1932 baut Hans Bredow 25 Sender in der Republik, die Nazis verdoppeln diese Zahl und die Leistung der Sender bis gibt es 4 ½ Millionen angemeldete Rundfunkteilnehmer, 1941 werden es 15 Millionen sein, mehr als drei Mal so viele. Das hat mit dem Empfängerbau zu tun, nämlich der massenhaften Produktion des»volksempfängers«, die ab 1933 beginnt liefern die deutschen Sender 50 tausend Minuten Programm im Jahr, das ent-

159 DAS RADIO UND DIE PSYCHOSE 139 spricht durchschnittlich 1 ½ Vollprogrammen bei 14 Stunden Sendezeit pro Tag, 1941 sind es 100 tausend Jahresminuten bei 19 Stunden Sendezeit pro Tag (Eckert 1941, 38f). Während 1941 bereits etwa 3000 verschiedene Rundfunksender in den USA auf Sendung sind, produziert der Deutsche Rundfunk gerade mal zwei separate Vollprogramme. Obwohl die technischen Investitionen beträchtlich sind und alle Anlagen auf technologisch hohem Niveau laufen, bleibt die Zielstellung unverändert: Das deutsche Radio (wie fast überall in Europa) sendet mehr oder minder ein einziges Programm. Radio ist ein Einheitsprogramm für alle. Zwar existieren im Reich bis 1932 neun Regionalgesellschaften, aber das Programm der je anderen Regionalanstalt konnte nicht (außer mit Spezialequipment) empfangen werden. Mit dieser schwachen Differenzierung regionaler Art macht Goebbels dann 1933 ohnehin Schluss. Gleichschaltung hieß auch: keine weitere Rundfunkregionalisierung. Für Goebbels ist der Idealtypus Radio das, was im April 1933 mit dem Massenappell der SA geschah: die technische Verschaltung des Volkes als Volk. Es ist die Inszenierung der Simulation des Volkes als einlinige Kette verschalteter Empfänger. Und wir haben gesehen, wie sich in dem psychotischen Diskurs des Radioprogramms als»wesenlose Körperlichkeit«eines Radiorufs diese Kette in der Tat fiktiv, oder besser, psychotisch schließen ließ. Vorgreifend sei gesagt: Genau hier liegt eine mehr als technologische Differenz zum amerikanischen Radio. Radio in den USA ist zu keinem Zeitpunkt ein Einheitsprogramm für alle Hörer, sondern reproduziert, wie zu sehen sein wird, als Radiotelefonie von Beginn an eine spezifische Vielstimmigkeit. In Europa dagegen, vor allem in Deutschland, bleibt das Einheitsprogramm die leitende Vorstellung, und auch darin artikuliert sich die latent psychotische Verdinglichung einer absoluten Stimme noch einmal. Die Gleichschaltung geht übrigens nicht auf Hans Bredow zurück. In dieser Frage bleibt Bredow ganz der pragmatische Technokrat, der der Elektroindustrie, wo er nur kann, immer weitere Absatzmärkte zu verschaffen sucht. Er forcierte bereits in den späten 20er Jahren die Idee, über den Einsatz von UKW die Programme der Regionalanstalten zu diversifizieren und zu vermehren. Goebbels, ab 1933 an den Schalthebeln aller Radioentwicklungen in Deutschland, stoppt diese Tendenz, nicht nur, weil ab sofort die UKW-Technik dem Militär vorbehalten bleiben wird. Goebbels will die Gleichschaltung, die Verschaltung des Volkes unter ein mediales Propagandadach. Der Rundfunkgründer Bredow wandert ins Gefängnis und wird unter haltlose Korruptionsanklagen gestellt, die sich aber nach wenigen Jahre noch nicht einmal vor nationalsozialistischen Gerichten als haltbar erwiesen. Der psychotische Diskurs des Radios, das war unsere nächste Erkenntnis, muss nicht umgekrempelt werden, um seine alten Themen:»wesenlose Körperlichkeit«,»Strom des Geistes«und»Tod«, wie sie von Richard Kolb oder Wilhelm Hoffmann formuliert wurden, zu reaktivieren. Das faschistische Radio in Nazi-Deutschland kann vielmehr auf einer diskursiven Tendenz eines Techno- Okkultistismus und Techno-Spiritismus aufsetzen, die weit in die europäische

160 140 DIE VERSCHALTUNG DER MASSE UND DAS BEGEHREN DER STIMME Formationsgeschichte des Mediums selbst zurückgeht. Wie weit diese Diskurstendenz noch über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinauswirkt, sieht man am Beispiel der seltsam kryptischen Diskussion um die Kolbschen Theorien noch in den späten 60er Jahren sehr gut. Dabei sind die Ziele des gleichgeschalteten Massenmediums alles andere als Selbstzweck. Goebbels hat an rein immanenten Begründungen von Radioformen nie Interesse gezeigt. Überzeugungs-Ästheten wie der Kurzzeit-Intendant Richard Kolb wurden sehr schnell in die Wüste geschickt. Goebbels geht es nach 1933 um die reale Verschaltung des Volkes in Form der militärischen Durchsetzung eines Terror-Regimes nach innen. Reale Volksverschaltung im Nationalsozialismus heißt: Stärkung der SA und der SS, Aufbau der HJ und des BDM und all der anderen direkt von der Partei gelenkten Massenorganisationen. Goebbels weiß, dass er für den erfolgreichen Aufbau von Massenorganisationen die Zustimmung des Volkes braucht. Das Volk muss nichts anderes tun als zustimmen und die Nazis gewähren lassen. Das gleichgeschaltete Massenmedium soll dieses Zustimmungsklima schaffen, mehr nicht. Vom April 1933 aus gesehen, steckt das faschistische Organisationprojekt erst in den Anfängen. Gleich einen Monat später gibt Goebbels dem Radio deshalb noch einmal die Aufgabe der Aufrüstung eines weiteren Live-Ereignisses. Am 1. Mai 1933, dem ersten arbeitsfreien»tag der Arbeit«in der Geschichte Deutschlands, werden aus allen Teilen des Reiches eine in die Millionen gehende Masse von Arbeitern, Handwerkern, Bauern und kleinen Leuten nach Berlin aufs Tempelhofer Feld strömen, unterstützt durch einen Radio-Reportage-Feature-Hörspiel-Tag, wie ihn die Radiogeschichte bis dahin noch nicht gesehen hatte. Die Propaganda bedient sich noch einmal der allermodernsten Technologien (Radio aus dem Zeppelin und aus Flugzeugen inklusive), um zu testen, wieweit die Zustimmung zu den Nazis im Volke schon geht. Der 1. Mai 1933 zeigt: Die Akzeptanz ist phänomenal oder lässt sich zumindest phänomenal inszenieren. Goebbels Plan geht auf und sein Timing auch. Denn tags darauf, am 2. Mai 1933, werden bekanntlich die Gewerkschaften aufgelöst, Kommunisten und Sozialdemokraten ausgeschaltet und ihre Kader ins KZ gebracht. Kaum ist das geschehen, fährt Goebbels, bereits Anfang 1934, die aufwendig produzierten Programminhalte und alle massenmedialen Führerreden im Radio auf ein Minimum zurück. Stattdessen gibt es jetzt das, was das Volk braucht, während die Nazi-Massenorganisationen wachsen und gedeihen. Bunte Unterhaltung und viel Musik, Unterhaltungsmusik,»Leichte Musik«, wie Goebbels Neuwortschöpfung dazu heißt. Dazu die Verdopplung der Nachrichtensendungen auf fünf Mal; später, 1940, acht mal am Tag (Eckert 1941, 51f). Vortragssendungen werden der Zahl nach halbiert (113), Hörspiele, die 1933 noch einen Programmanteil von 2,2% hatten, werden bis 1939 auf 0,7% reduziert. Den höchsten Wortanteil hat das nationalsozialistische Rundfunkprogramm 1933 mit 42,6%, Goebbels fährt diese Wortlastigkeit bis 1937 auf 30% zurück (171).

161 DAS RADIO UND DIE PSYCHOSE 141 Man sollte sich also nicht wundern, dass im Großdeutschen Radio des Nationalsozialismus sich in den Radioformen im Vergleich zur ohnehin innovationsarmen Weimarer Zeit wenig Neues entwickelt hat. Kein Vergleich zu Amerika, wo gerade in den dreißiger Jahren die Hochblüte der»radiodays«einsetzte, mit»march of the Time«völlig neuartige News-Show -Formen entwickelt werden, mit»amos n Andy«und Hunderten anderer»daytime Serials«eine völlig neue Form der Radiounterhaltung kreiert wurde und in den»cbs-workshops«literarisch experimentelle Formen entstanden sind. Deshalb war nach dem Krieg der Nachholbedarf an der Entwicklung von Radioformaten besonders in Deutschland außerordentlich groß, wovon ein erstes Beispiel gleich nach dem Krieg umgesetzt wurde in der Adaption des künstlerischen»features«nach britischem Vorbild. Was die Entwicklung des Mediums als ästhetisches betrifft, so herrschte im Deutschland der dreißiger Jahren eher eine tote Zeit. Was allerdings die Entwicklung des Mediums als massenmediales betrifft, so genügt alles das, was geschah, offenbar vollauf. In einer Diktatur ist ein zensiertes Radio so wenig ein Leitmedium wie jedes andere zensierte Organ. Die Massenmedien werden in Diktaturen eher an ihrer Ausbildung gehindert, denn die Ausbildung neuer massenmedialer Formen bedarf großer Freiheitsgrade auch für experimentelle Entwicklungen. Es haben sich nur ganz wenige Radioformen in Nazi-Deutschland entwickelt, die nirgendwo sonst auf der Welt vorkamen. Eine von ihnen ist die so genannte»ringsendung«ringsendung Seit 1941 kommt einmal im Jahr, jeweils zu Weihnachten, das auf den Begriff, was das deutsche Radio im nationalsozialistischen Sinn zu sein hat: Die Schaltung eines Rings um das Reich. Ab 1940 schaltet der Reichsrundfunk Heiligabend alle Stationen des Reichs mit den wichtigsten Kriegsfronten des Heeres und der Marine in einer so genannten»ringsendung«zusammen. Dazu werden zivile und militärische Funkstrecken und Kommandowege gemischt. Radio findet, für eine Stunde im Jahr, als das statt, was es ist, nämlich als Ring, der das Volk und alle Volksempfänger mit dem Krieg an allen Fronten verschaltet. Zunächst, 1941, werden auf diesem Wege in langweiligster Weise Grüße von Narwick bis in die Bretagne ausgetauscht, ausgewählte Gefreite und einfache Soldaten reden über die Kabel und Funkstrecken mit ihren Müttern, Eltern und Geschwistern. Weihnachten 1942 hört sich die Ringsendung schon etwas anders an. Inzwischen haben die Ringradiomacher offensichtlich gelernt, dass das technische Erstaunen über solche Verschaltungsleistungen akustisch beim Hörer kaum rüberkommt; denn über eine perfekte Leitung hört sich sich Narwick an wie das Nachbarstudio neben dem Schaltraum. Also erhöht man 1942 die Geschwindigkeit des Hin- und Herschaltens und scheut sich auch nicht davor, die Rückkopp-

162 142 DIE VERSCHALTUNG DER MASSE UND DAS BEGEHREN DER STIMME lungseffekte des eigenen Sprachanteils im Ring einfach geschehen zu lassen. Erhalten ist von dieser Ringsendung 1942, die das besetzte Stalingrad einschließt, nur der Schluss. Aber dieser Schluss ist, und das wohl gerade wegen Stalingrad, sehr eindringlich. Kenner der Kriegslage nämlich wissen nur zu gut, dass sich das Blatt zu wenden beginnt. Das Ausbruchsbegehren von General Paulus aus dem Kesselring von Stalingrad hatte Hitler am 24. November kategorisch abgelehnt, der Entsatz-Versuch der 4. Panzerarmee unter von Manstein war kurz vor Weihnachten, 49 Kilometer vor Stalingrad, abgebrochen worden. Gut vier Wochen nach der Ringsendung 1942 wird General Paulus in Stalingrad kapitulieren. Mit dieser Sendung schließt sich der Ring des nationalsozialistischen Radios. Die»Stille Nacht«geht am Ende in schlimmster akustischer Verzerrung, fast in der Nähe eines Rosa-Rauschens, unter. Die fiebrig-flirrenden, metallisch-blechernen Halleffekte, in denen das mit Eigenechos kakophonisch überlagerte Weihnachtslied ins Gekreische versinkt, lassen die Apokalypse schon anklingen.

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165 Seekabel, Edison und Elektrifizierung SEEKABEL 1848, als in Amerika kommerziell und in Deutschland preußisch-militärisch die ersten Telegrafiestrecken gebaut werden, ist noch immer keine gute Ummantelung ( Isolator ) für diese Kabel gefunden, die Hunderte von Kilometer lang, einer sicheren Signalübertragung dienen sollen. Die Telegrafenkabel werden zunächst an Masten über Land geführt, aber da sind sie Wetter und Wind ausgesetzt. In die Erde vergraben, ergeben sich sofort seltsame Effekte und böse Masse-Kurzschlüsse, weil Erde, zumal feuchte, ein guter Stromleiter ist. Der preußische Offizier Leutnant von Siemens verlegt 1848 im Auftrag General O Etzels eine Telegrafenstrecke von Berlin nach Frankfurt, in aller Eile, weil man in Berlin schnell und präzise wissen will, was in diesem seltsamen Parlament geschieht. Nach zwei Jahren bereits ist diese Telegrafenstrecke purer Schrott. Ratten haben überall die schlechte Isolation der Kabel durchgefressen, anderswo sind ganze Kilometer erodiert. Die Vernachlässigung dieses Isolationsproblems wirft die preußischen Telegrafiepläne um Jahre zurück und veranlasst von Siemens zum Austritt aus der Armee, um sich fortan vor allem der Technologie der Telegrafie zuzuwenden; notabene, an allen Fronten und im Dienste aller Kriegsparteien. Mitte der 40er Jahre wird in England das Guttapercha gefunden, ein kautschukähnlicher Stoff, der auf den»pallaquia«wächst, den Guttapercha-Bäumen Madagaskars und der malaiischen Halbinsel Malakka (Headrick 1987). Diese sind im englischen Kolonialbesitz, woraus folgt, dass es vor allem das Guttaperchamonopol sein wird, das das englische Empire als nachrichtentechnisch führende und damit beherrschende europäische Kolonialmacht festigt. Michael Faraday, der bereits einen legendären Ruf unter den englischen Telegrafentechnikern genießt, schreibt 1848 eine hochlobende Expertise über die Isolationseigenschaften von Guttapercha, (Hunt 1991, 2). Das macht die Londoner»Guttapercha-Company«endlich sicher, die riesigen Investitionen in ein erstes Unterwasserkabel zu wagen, das im Jahre 1851 durch den englischen Kanal gelegt werden soll. Das Projekt der überseeischen Verkabelung der Welt, die das viktorianische Empire sich vorgenommen hatte, musste mit der Vermessung dessen beginnen, was zu erobern war, nämlich, zunächst, die atlantischen Weiten des Ozeans. Dazu ist und war eine exakte Bestimmung der geografischen Längengrade unverzichtbar, genannt Meridiane. Diese wiederum kann man nur bestimmen, wenn an verschiedenen Orten zur exakten Zeit die gleichen Sternenstände protokolliert werden. Ein Telegrafist namens Latimer Clark von der»electric Telegraph Company«die Telegrafenfirmen schießen in England nur so aus dem Boden verkabelt also 1849 das Greenwich Observatory mit den Sternwarten in

166 146 SEEKABEL, EDISON UND ELEKTRIFIZIERUNG Cambridge und Edinburgh, um einen millisekundengenauen Zeitabgleich zu erreichen. Die allererste Bedingung für die Eroberung der Meere war, dass zunächst die Uhren des Empire überall auf die Sekunde gleich zu ticken hatten. Schon das aber erwies sich als unlösbares Problem. Clark notiert 1853:»Wir haben letztens eine große und zudem wechselnde Verzögerung des elektrischen Stroms festgestellt, als wir ihn durch unsere unterirdischen Kabel geschickt haben. Das kommt einer genauen Bestimmung der Längengrade nun ziemlich in die Quere. Professor Faraday wird am Samstag Abend vorbeischauen, um einige dieser Experimente zu wiederholen, die diese Verzögerungen zeigen«(in *Hunt 1991, 2f). Faraday Michael Faraday (der gründlichste Elektrizitäts-Experimentator des 19. Jahrhunderts, Entdecker des Elektromotors etc.) kam. Denn was die Guttapercha- Company ihm zu Testzwecken anbieten konnte, war in keinem Labor der Erde zu haben. Am Kai lag ein 110 Meilen langes Kabel, das, trocken aufgerollt, Strom ohne Verzögerung hindurch ließ. Senkte man es aber ins Wasser und tauchte es ins Hafenbecken hinab, verhielt es sich nach heutigen Begriffen wie ein Kondensator. Bevor ein leitender Strom gemessen werden konnte, gewahrten die Telegrafisten bereits, dass das Kabel sich auflud wie ein Akku, um dann, bei einer nächsten Schließung der Kabelenden, sich heftig zu entladen. Die Verzögerung des fließenden Stroms in Telegraphendrähten kam also (vereinfacht gesagt) dadurch zustande, dass das im Wasser verlegte Kabel beim Stromdurchfluss eine so hohe Kapazität dem Salzwasser gegenüber aufbaute, dass dieser Kapazitätsaufbau wiederum Ströme induzierte, die dem gegebenen Stromfluss sich träge entgegenstemmten. Ein erster, ein technisch ernstzunehmender Fall von negativem Feedback. Ein solches Setting ist, wiederum sehr vereinfacht gesagt, der Anfang eines Schwingkreises. Ein Stromimpuls in solchen Wasserkabeln baute sozusagen seinen eigenen Gegenstrom auf. Das Phänomen ist dem nicht unähnlich, wie eine Antenne zu schwingen beginnt. Nur dass sich in einer Antenne verzögerte Wechselstrom-Wirkungen aufschaukeln bis zu dem Punkt, wo die induzierten elektrischen Felder die Antenne verlassen und als elektrisch-magnetische Wellenfelder in den Raum heraustreten. So ist zu sehen, welcher elektrizitätsgeschichtliche Vorboten schon in diesen ersten imperialen Seekabeln der viktorianischen Telegrafisten schlummerten. Vor allem in Bezug auf die Theorie der Elektrizität waren die Telegrafen-Wasserkabel tatsächliche Zeitzünder des Radios. Der amerikanische Wissenschaftshistoriker Bruce J. Hunt hat nämlich gut belegen können, dass die unterschiedlichen Richtungen der deutschen und der englischen Physik des 19. Jahrhunderts (die Heinrich Hertz das lange Kopfzerbrechen bescherten 11 ) sich aus diesem elektrizitätstechnischen Seekabel-Pro-

167 SEEKABEL 147 blem ergeben haben. Kulturgeschichtlich wie epistemologisch folgt daraus: Wer im 19. Jahrhundert Seekabel beherrschen wollte, physikalisch-technisch wie politisch-militärisch, der musste früher oder später auf das Phänomen der elektromagnetischen Welle, und damit auf die reelle Basis des Radios stoßen. Die deutsche Physik dagegen, angeführt von dem linksbürgerlichen Wilhelm Weber, entwickelte in den noch seekabellosen, romantischen 1830er Jahren die Theorie, Elektrizität in kleinste (gedankliche) Ladungspartikel aufzulösen, die mit praktisch geschwindigkeitsloser Fernwirkung ihre Potentiale verändern. Wilhelm Weber, mit den Göttinger Sieben jahrelang von der Universität relegiert, hatte keine Berührung mit preußischen Telegrafen-Ingenieuren und diese wiederum waren weit entfernt davon, sich an die Verkabelung von Seen und Meeren zu machen. Michael Faraday dagegen wurde direkt und unmittelbar, nämlich durch die Crème de la Crème der Britischen Militärischen Telegrafieelite, mit dem Problem der Seekabel und ihrer Dysfunktion konfrontiert. Er bot einen Erklärungsansatz, der mit seinen bisherigen Beobachtungen und Experimenten konform ging. Er schloss nämlich aus der markanten Verzögerung des Stroms in den unterseeisch verlegten Telegrafenkabeln, dass sich der Strom nicht in den Kupferkabeln fortpflanze, sondern sozusagen an deren Oberfläche, also in dem Interface zwischen Guttapercha-Isolierung und Kupfer; an der Übergangsstelle zu dem»dielektrikum«, wie Faraday es definierte. Was die Theorie der Elektrizität betrifft, so legte dieser Schluss nahe, dass im Stromfluss eben nicht korpuskulare Ladungen eine Rolle spielen, sondern Elektrizität ein Effekt des elektrischen Feldes ist. Ein solches Feld aber entsteht und wirkt an der Oberfläche von Leitern und nicht in ihnen. So verstärkte die Erklärung der Seekabelfragen die Pointe der Feldtheorie der Elektrizität, die Michael Faraday seit Jahrzehnten ausgearbeitet hatte. Sie wurde, zu Beginn der 1860er Jahre, vom schottischen Mathematiker James Clerk Maxwell zu einer Theorie ausgebildet, die so sehr im Gegensatz zu der deutschen Theorie stand, dass Hermann Helmholtz 1879 seinen Assistenten Heinrich Hertz zu seinen einschlägigen Versuchen veranlasste, um diese völlig konträren Auffassungen durch ein geeignetes Experiment zu klären. So schließt sich noch einmal der Kreis von den Seekabeln zum Radio. 12 Thomson Zurück zum Anfang der 1850er Jahre in England. Faradays Feldeffekt-Hypothese in Bezug auf die Signalverzögerungen in unterirdisch oder im Wasser verlegten Telegrafenkabeln rief einen anderen Wissenschaftler auf den Plan, der für die englische Physik zum Maßstab aller Dinge werden sollte: William Thomson, 11.Vgl. Weber oder Maxwell?, Seite 29ff. 12.Vgl. Noch einmal: Helmholtz Preisaufgabe, Seite 21ff.

168 148 SEEKABEL, EDISON UND ELEKTRIFIZIERUNG später geadelt als Lord Kelvin. Kelvin war im Grunde, wie seine Biografen Crosbie Smith und Norton Wise eindringlich nachweisen, ein Telegrafen-Ingenieur (Smith 1989). Die Elite der englischen Physik im 19. Jahrhundert war tief in die ingenieurspraktischen Fragen der Entwicklung des britischen Empires zu einem Weltreich verstrickt. So erklärt sich, was die Kabel mit der amerikanischen Radiogeschichte zu tun haben. Zwar ist Nordamerika längst keine Kolonie Großbritanniens mehr. Aber neben den Strecken nach Indien und Afrika, die die Engländer ab 1850 planen, waren es vor allem die US-amerikanischen Börsen, die hier verkabelt werden sollten. Es ist also nicht zu vernachlässigen, was auf der anderen Seite des Atlantiks mit jener Telegrafie geschah, die über Kabel aus England anlandete. Hier wartet und empfängt nämlich schon der nächste Telegrafist die Botschaft, um Geld und Ruhm aus weiteren telegrafischen Erfindungen zu ziehen: Thomas Alva Edison, der halbtaube Erfinder des Phonographen, der Glühbirne, der Elektrizitätswirtschaft und der Radioröhre. Ein letztes Mal zurück ins England der 1850er: Mit Faradays Erklärung waren die Verzögerungsprobleme der Signale in den Seekabeln ja noch nicht behoben. Aber sie waren so gut eingegrenzt, dass William Thomson alias Lord Kelvin für ihre Parameter ein wichtiges mathematisches Gesetz aufstellen konnte, das in die Geschichte der Elektrotechnik eingegangen ist. Thomson reduzierte das Verzögerungsproblem auf zwei messbare Größen, nämlich die Kapazität eines Leiters und seine Selbstinduktion. Daraus ergab sich ein sogenanntes Quadratgesetz, das besagt, dass die Verzögerung der Ausbreitung eines elektrischen Impulses mit dem Quadrat der Kabellänge wächst und mit dem Quadrat seines Querschnitts abnimmt. Noch waren ja keine Kabel über den Atlantik verlegt. Also entstand nun schon bei der Produktion des ersten transatlantischen Kabels ein tiefgehender Streit. Sollte das Kabel dick und damit teuer und nahezu unverlegbar sein, also einen großen Querschnitt haben, um in relativ geringer Verzögerung Signale zu übertragen? Oder durfte es dünn sein, und damit bezahlbar? Es ging immerhin um eine Länge von 4000 Meilen und damit um Hunderte und Aberhunderte Tonnen von Kupfer und Guttapercha. Verständlich, dass der Theoretiker Lord Kelvin mit seiner Forderung nach einem vergleichsweise dicken Übersee-Kupferkabel, das auch noch aus sehr reinem Material bestehen sollte (Dibner 1959), auf wenig Gegenliebe stieß. Das erste transatlantische Seekabel der Welt, verlegt im August 1858 zwischen der irischen Valentia Bucht und der St. Johns-Insel in Kanada, wurde denn auch ein Reinfall. Nach wenigen Wochen nur war es buchstäblich durchgebrannt, weil man 2000 Volt starke Stromschläge hindurchschickte, um auf der anderen, der amerikanischen Seite die entsprechenden Schaltelemente in Gang zu setzen. Erst sieben Jahre später, nach dem amerikanischen Sezessionskrieg, verlegte die englische»great Eastern«das zweite transatlantische Kabel auf derselben Strecke. Dieses Kabel riss allerdings nach zwei Dritteln, so dass erst eine dritte Expedition 1866 eine wirklich funktionsfähige Seekabeltelegrafie ermöglichte. Auf dieser Expedition wurden zudem die früher verlegten Kabel wieder aufge-

169 SEEKABEL 149 pickt (aufgelesen) und repariert, was einen Boom der viktorianischen submarinen Telegrafie auslöste, der uns im nächsten Schritt nach Amerika führt.»the Joint Committee on Submarine Telegraphs«Das, was in den britischen Seekabeln problematisch war, nämlich Selbstinduktion der langen, von Guttapercha und Salzwasser umschlossenen Kupferkabelmassen, drängte die englischen Physiker, die allesamt in der»british Association of Electrical Engineers«versammelt waren, zur weiteren Klärung fundamentaler Fragen. Die wichtigste dieser Fragen war: Was ist Elektrizität? 1861 stellte William Thomson ein Komitee zusammen, dessen Aufgabe es war,»ein rationales System der elektrischen Einheiten zu erstellen, und auf diesem Wege einen einheitlichen Standard der Messverfahren zu entwickeln.«die Mitglieder waren neben William Thomson selbst: Charles Wheatstone, auf dessen Patenten die englische Land-Telegrafie basierte, James Clerk Maxwell, dem späteren Theoretiker der Elektrizität, dessen Theorien Heinrich Hertz bestätigen sollte; J. P. Joule, späterer Namensgeber einer der wichtigsten physikalischen Einheiten; C. W. Siemens, einziger Deutscher in diesem erlauchten Kreis; und die führenden Elektroingenieure des Landes C. F. Varley und Latimer Clark. Die Gruppe bestand also aus der Elite sowohl der Wissenschaft wie der praktischen Elektrotechnik des Empire.»Die Arbeit dieses Komitees dauerte acht Jahre. Als Ergebnis seiner Arbeit haben wir nun das System der absoluten elektromagnetischen Einheiten, von welchem abgeleitet sind die Standard-Maße für Ohm, Ampere, Farad, Volt und Coulomb. Dieses System wurde 1881 auf einem internationalen Kongress bestätigt, auf der jede zivilisierte Nation vertreten war. Die Bildung dieser Standards hat die verschiedenen willkürlichen Einheiten ersetzt, die vorher von den Electricians verwendet worden waren und präzise Definitionen eingeführt in allen Fragen elektrischer Messungen; und hat so, in der Tat, sowohl der Elektro- Industrie als auch der Wissenschaft im Allgemeinen einen ungeheurer Dienst erwiesen«(*bright 1898, 61). Thomson hatte nicht ohne Hintersinn den jungen James Clerk Maxwell mit in die Gruppe delegiert. Denn neben der Eichung der Einheiten musste eine mathematische Theorie geschrieben werden, die die gefundenen Messgrößen in einen Ableitungszusammenhang bringen konnte. Wenn Faraday Recht hatte, dass Strom in Kupferleitern im Grunde gar kein Phänomen war, das sich in den Leitern abspielte, sondern in den Verschiebungen eines Feldes an der Oberfläche der Leiter, so konnte nur eine Mathematik der Zuordnung dieser Kräfte: Magnetismus, Rotation, Elektrizität, also eine Mathematik räumlicher und zeitlicher Verschiebungen weiterhelfen. Das Ergebnis waren und sind die Maxwellschen Feldgleichungen der Elektrodynamik, verfasst in einer damals revolutionär neuen Mathematik (der Vektoren), die zu einer der unverzichtbarsten Sprachen der modernen Physik werden sollte.

170 150 SEEKABEL, EDISON UND ELEKTRIFIZIERUNG EDISON Zwischen der ersten (1858) und der zweiten (1865) englischen Seekabelexpedition brach der amerikanische Sezessionskrieg aus, ein brutaler, opferreicher, grausamer Krieg zwischen den Yankees und den Südstaaten. Eine am Ende vierfach überlegene Armee auf der Nordstaatenseite besiegte die industriell und technologisch heillos unterlegenen Südstaaten. Die Yankees bauten noch im Krieg ein 6000 Meilen großes Schienen- und Telegrafennetz. Und ihre Materialund Technik-Überlegenheit, dazu die Verfügung über Stahl, Eisen und Telegrafenkabel, gab, da sind sich die Historiker einig, der Sezession des Südens, den Verfechtern der Sklaverei, nicht die geringste Chance. Im April 1865 kapitulierten die konföderierten Truppen unter General Lee bei Appomattox (Raeithel 1995, 23). Eisenbahn und Telegrafie für den kleinen elternlosen Waisenjungen, keine 15 Jahre alt, trifft beides glücklich und schicksalhaft zusammen. In den Kriegswirren ständig auf der Suche nach Jobs und Geld, erkundet der junge Thomas Alva Edison über befreundete Telegrafisten die neuesten Kriegsnachrichten, druckt sie auf ein Blatt Papier und lässt sie im Packwagen eines Zugs in die nächste Stadt fahren, wo sie verkauft werden. Thomas erfährt beispielsweise auf der Telegrafenstation von Port Huro von dem Sieg der Yankees bei Shilow, druckt eine Sonderseite und gibt über Telegrafie die Bitte an die kommenden Stationen des Zuges, eine Sonderseite zu annoncieren, die er in den Packwagen des Zuges ablegt und in 1000er Auflage verkauft. Schon der junge Edison ist ein pfiffiger Bursche, der es verstanden hat, mittels neuester Technologien im blutigsten aller Kriege auf dem Boden der Neuen Welt zu überleben (Schreier 1987, 13). Er hat uns viele solcher Episoden seines Lebens in den ebenso larmoyanten wie selbstverliebten»sundry Diaries«von 1930 beschrieben, als er schon alt und weltberühmt geworden war.»i became deaf when I was about twelve years old. I had just got a job as newsboy on the Grand Trunk Railway, and it is supposed, that the injury which permanently deafened me was caused by ma being lifted by the ears from where I stood upon the ground into the baggage car«(edison 1948, 44). Deafness Folgen wir dieser Selbstdarstellung des Thomas Alva Edison, so stammen alle seine weiteren legendären Erfindungen aus der Taubheit, die ihm, wenn nicht der Krieg selbst, so doch sein wichtigstes Verkehrsmittel, nämlich die Yankee- Eisenbahn indirekt zugefügt hat. Irgendwann wird es einem Schaffner zu bunt, und er zieht den kleinen Jungen an den Ohren auf den Plafond eines Packwagens hoch.»being lifted by the ears.«sein Leben lang wird Edison auf einem Ohr nichts mehr hören. Das, so schreibt Edison, treibt ihn ins Lesen.»I didn t read a few books. I read the library«(45). Und neben dieser Lesesucht, aus der er, sagt

171 EDISON 151 er, seinen unergründlichen Ideenreichtum schöpft, bleibt eine lebenslange Bastlermanie. Sie gilt dem Medium, das im Krieg jeden Zug in Amerika begleitet hat, der Telegrafie. Das Medium des Sieges, verlegt entlang der Schienen. Das Medium einer neuen intrinsischen imperialen Macht. Edison schreibt:»i had [early] found, that my deafness did not prevent me from hearing the clicking of a telegraph instrument when I was as near to it as an operator always must be. From the start I found that deafness was an advantage to a telegrapher. While I could hear unerringly the loud ticking of the instrument, I could not hear other and perhaps distracting sounds... I may said that I was shut off from that particular kind of social intercourse which is small talk, I am glad of it«(48). Für Thomas Alva Edison, den Erfinder des Phonografen, der Schreibmaschine (neben anderen), der Glühbirne, der kinematographischen Kamera, sind alle diese Medien Substitute seiner Taubheit (Kittler 1986). Als Kind eines Kriegs, in dem Telegrafie und Transporte per Bahn den Sieg entscheiden und seinen Körper versehren, internalisiert er die Dots and Dashes, also die Punkte und Striche der Telegrafiestreifen, als wären es Lebenszeichen. So sehr, dass er seinen Kindern entsprechende Namen gibt. Edison wird seine erste Tochter mit dem Namen»Dot«und seinen Sohn»Dash«rufen.»Some years ago a specialist came to me and informed me that he could improve my hearing. I presume he might have done it. But I wouldn t let him try«(50). Edisons Organ ist die Telegrafie. In diesem Medium, das sein halbtaubes Hörorgan ersetzt, hatte sich Edisons Selbst implantiert, sein Ich, an das heranzukommen, wie Lacan uns lehrt, immer und vollkommen vergeblich bleiben wird. Edison leitet Sehen und Schreiben, Arbeiten und Forschen von der Taubheit ab, die längst eine Prothese und Substitution gefunden hat in einem technischen Medium, das alles Körperliche ersetzen soll und muss, nämlich Libido, Begehren und die Liebe.»I taught the lady of my heart the Morse code, and when she could both send and receive we got along much better than we could have with spoken by tapping our remarks to one another on our hands. Presently I asked her thus, in Morse code, if she would marry me. The word Yes is an easy one to send by telegrafic signals, and she sent it«(54f).»the invented self«der Erfindererfinder Was immer man davon halten mag, einen Heiratsantrag auf die Abgabe von Punkten und Strichen zu reduzieren, viel mehr als die Ohnmacht eines Befehls, eine lächerliche Reduktion, kommt nicht dabei heraus. Heiraten kann man nicht befehlen, oder doch?»wahrscheinlich«, fügt Edison hinzu,» wäre Sie gezwungen gewesen, das Wort Ja zu sagen, es wäre ihr schwerer gefallen«. Was Thomas Alva Edison aber vor allem erfunden hat ist sich selbst als Erfinder. Das ist der Punkt, der ihn auch für die amerikanische Radiogeschichte

172 152 SEEKABEL, EDISON UND ELEKTRIFIZIERUNG so einflussreich macht. Edison erfand mit unendlichem Fleiß und atemberaubender Geschicklichkeit den Typ von Erfinder, den er repräsentiert, und wurde damit Vorbild für Tausende und Abertausende nach ihm. Edison erfand den Erfindererfinder, den Erfinderunternehmer, den Erfinderfabrikanten, den Erfinderkapitalisten, der sein am Ende aktienschweres Erfindergeschäft mit jungen 22 Jahren genau da anfängt, wo unsere Geschichte der Seekabeltelegrafie in England aufgehört hat, nämlich bei den ersten Transatlantik-Kabeln aus den späten sechziger Jahren. Es gibt kein schärferes als das Apriori, das Edison selbst uns in seinen»sundry Diaries«anbietet, nämlich die Subordination aller Funktionen seines (auch körperlichen) Begehrens unter das Apriori der Telegrafie. Die Edisonforschung ist dem bereits auf der Spur. Nach Jahrzehnten der Lobhudelei, sagt es eines der nüchternsten und klarsten Bücher zu Edison nun schon im Titel:»The invented Self«(Nye 1983). In der Tat hat Edison all die fantastischen Apparate, für die er mit seinem Namen steht, nicht»selbst«gebaut/erfunden/gemacht. Vielmehr hat er sie überwiegend zusammengeklaubt aus halb und viertel vorgefundenen Ideen und Apparaten, und hat andererseits wichtige Entdeckungen, die tatsächlich aus seinen Labors stammen, halbfertig liegenlassen und nicht verstanden. So würde dann eine Edison-Biografie beginnen, die ich hier nicht bieten kann: Im September 1869, vier Jahre nach Kriegsende, Edison ist 22 Jahre alt, vernichtet der schwarze Freitag an der New Yorker Börse Milliarden Dollar an Aktienvermögen. Eine Ursache dafür war wohl auch, dass börsentechnisch gesehen die Kommunikation und die Informationsflüsse mit den europäischen Märkten noch immer so überaus unzulänglich waren. Edison sieht diesen Mangel und gründet eine kleine Firma,»Pope, Edison and Company«, die verbesserte Typendrucktelegrafen liefern kann, wenn diese direkt an die Seekabel geschaltet werden. Diese zwei Patente aus dem August 1869 bringen Edison das erste große Geld, 40 tausend Dollar, den Grundstock für den Aufbau seiner ebenso genial wie rüde geführten Laboratorien, in denen der manische Edison fortan alle seine Entdeckungen machen wird. Der allerdings viel bedeutendere Punkt an Edisons Erfindung des Erfinders bleibt von Anfang an ein immaterieller: Es sind das (damals neue) amerikanische Patentrecht und die unendliche Geschicklichkeit Edisons, auf dessen Paragraphen-Klavier zu spielen. Auch darauf verweist die Edisonforschung immer deutlicher. Erst nach dem Bürgerkrieg wurde es in den USA möglich, noch auf die kleinste Verbesserung irgendeines Details an einem Gerät oder Maschinchen ein Patent anzumelden. Dieses extensive Patentrecht gehört zu den großen Spleens der amerikanischen Industriegründungsgeschichte und reicht weit in das 20. Jahrhundert hinein. Ohne diesen Gründungsfieber-Spleen hätte es einen Edison, wie wir ihn kennen, nie gegeben. Ausweislich einer Liste seiner Patente hält er bald nicht ein Patent für den benannten Typendrucktelegraph, sondern von 1869 an bis 1874 auf geschlagene dreißig verschiedene Patente für ein und dasselbe Gerät.

173 EDISON 153»Die Angestellten des New Yorker Patentamtes behaupten scherzhaft, [Edisons] Fußabdrücke bildeten eine deutliche und unauslöschliche Spur von seiner Werkstatt zu ihrem Amt«(Schreier 1987, 29). Die Blamage Auf dem Weg zur Erfindung des Phonographen (eine Wachswalze, die Ton aufzeichnet) entwickelt Edison zunächst einmal die Mehrfachtelegrafie. Auch dies wieder mit Dutzenden von Patenten. Das Prinzip seines Mehrfachtelegrafen, auf der Umpolung von Gleichstrom-Impulsen basierend, hat Edison gemeinsam mit seinen acht ständigen Assistenten wohl ganz intuitiv gebaut. Als er mit»fourplex Nr. 14«unter dem Arm nach England fährt, um das Patent der dortigen Postbehörde anzudienen, muss er zunächst der viktorianischen Telegrafengilde Rede und Antwort stehen. Man will dem amerikanischen Wundermann auf den Zahn fühlen. Was bot sich da besser an als die Seekabelfrage, die die Briten ja selbst nicht recht in den Griff bekamen. Jetzt wird Edison vorgeführt. Zunächst soll der Erfinder sein neues Vierfachgerät auf einer Überlandstrecke zwischen London und Liverpool demonstrieren. Solche Überlandstrecken der drahtgestützten Telegrafie gab es in Amerika auch; um genau zu sein, in den USA gab es nichts anderes. Und das Gerät funktioniert. Als nun der Erfinder aus den Staaten gebeten wird, seine Vielfachtelegrafie über ein Kabel zu schicken, das aufgerollt in den Greenwich Docks 200 Meilen lang unter Wasser liegt, sendet Edison als erstes Zeichen einen Punkt, der aber, für ihn unerklärlicherweise,»zu siebenundzwanzig Fuß«Länge, also auf Papier gebracht, acht Meter lang wurde (35). Edison ist in die Falle getappt. Zwei Wochen lang wird er auf der Insel gegen diese Windmühlen kämpfen, nämlich gegen die Kräfte der Selbstinduktion (und der»reaktanz«, um noch genauer zu sein), die ich angesprochen habe. Edison erklärt den genüsslich schweigenden Gutachtern schließlich, die Dinge seien für ihn unheimlich und unerklärlich, woraufhin die viktorianische Telegrafistengemeinde ihn höhnisch belächelt. Edison entsprechend befragt, kennt nicht einmal Kelvins Quadratgesetz der Seekabelinduktion. Woher auch. Er blamiert sich bis auf die Knochen. Im Nachhinein besehen muss diese Blamage den manischen Erfinder nur noch sturer und entschlossener gemacht haben. Edison wird Strom nie wieder in Berührung mit Wasser geraten lassen, seine Elektrizität wird immer der Strom einer oberirdischen Telegrafie und oberirdischer Leitungen bleiben. Edison beschäftigt sich zeitlebens mit elektrischem Strom nur insofern, als handele es sich um einen gleichförmigen, störungsfrei fließenden Morsebefehl. Andere Modi dieser Kraft fasst er nicht mehr an. Auch seine Glühbirnen und seine ersten Elektrizitätswerke bleiben Gleichstrom-Aggregate. Alles andere, zum Beispiel Wechselströme mit ihren komplexen Verhältnissen zwischen Spannung und Stärke, bleiben ihm sein langes Erfinderleben lang unheimlich und suspekt.

174 154 SEEKABEL, EDISON UND ELEKTRIFIZIERUNG Gegen die Existenz oder die bloße Erwähnung von anderen Phänomenen der Elektrizität, Selbstinduktion, Wechselstrom oder Elektromagnetismus eingeschlossen, wird er zur Furie. Das führt am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer grotesken, aber heftig geführten öffentlichen»schlacht der Systeme«, als es darum geht, Nordamerika zu elektrifizieren. Edison kämpft für seinen Gleichstrom gegen Westingshouse Wechselstrom. Diesen»Battle of the Systems«wird Edison bis zu seinem völligen unternehmerischen Niedergang ausfechten. Für Edison bleibt Elektrizität das Ideal der Telegrafie, nämlich der reine Befehl, mit dem ein Ideal-Selbst alles erreichen zu können glaubt. Diese Überhöhung des Selbst, das sich im Ideal des ontologisch Elektrischen substituiert, mag der Grund sein, warum Edison als eines der prominentesten Gründungsmitglieder 1875 der»theosophischen Vereinigung«der Madame Blavatsky beitritt. Es ist eine Gesellschaft, die die okkulten Führer der Menschheit sucht und aus allen Weltreligionen das spiritistische Heil zusammenbringen will. Es ist aber auch die Gesellschaft, ohne die vor allem asiatische und afrikanische Religionen und ihre Rituale nie in der heute gegebenen Vielfalt die westlichen Zivilisationen erreicht hätte. Ohne sie hätten wir heute keine Anthroposophen, aber auch keinen Spiritismus in seinen schrecklichsten Ausbildungen wie bei den Nationalsozialisten und Adolf Hitler selbst. Der»Edison Effekt«(Radioröhre) Die Geschichte des amerikanischen Radios ist zugleich die Geschichte der Elektrifizierung Amerikas, die Edison nicht zuletzt durch seine Glühbirnenerfindung initiiert hat. Die Geschichte der Elektrifizierung aber ist auch die Geschichte der Utopie der jungen, neuen United States, die sich darin vom Trauma des Sezessionskriegs befreien wollen. Alle Statistiken zeigen, dass die Versorgung der amerikanischen Haushalte mit elektrischem Licht bis 1930 fast immer gleich auflag mit der Zahl der Radioapparate. Noch einmal: Vor der Gründung aller seiner berühmten Werkstätten in»menlo Park«und»West-Orange«, vor der Entwicklung des Phonographen, der Glühlampe, der Elektrifizierungs-Kraftwerke und des Kinoprojektors, stand die besagte englische Blamage Thomas Alva Edisons in Sachen Selbstinduktion der Seekabel. Genau sie gibt seinem Leben ironischerweise eine Wende zum Erfolg. Denn er wird von nun an, trotz seiner Abwehr gegen jegliche Art von Mathematik, vorsorglich immer einen jungen Mathematiker in der Hinterhand halten. Sein»Menlo-Park«-Assistent Francis Jehl berichtet, dass Edison ab 1878 bei Francis R. Upton, einem Princeton-Absolventen, der auch bei Helmholtz in Berlin studiert hatte, systematisch Kurse in der Theorie der Elektrizität und der Mechanik nahm. Er stellt ihn in seinem Labor fest an (Hughes 1983, 54). Jetzt, Ende der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts, kann Edison sich erstmals mit Problemen der elektrischen Beleuchtung und der Glühbirne befassen. Denn bereits die Konfiguration einer Gleichstrom-Glühbirne stellt ein ursäch-

175 EDISON 155 lich mathematisches Problem. Um den richtigen Querschnitt des Glühdrahts zu finden, sind Kenntnisse des Ohmschen Gesetzes U = I * R vonnöten, in Bezug auf den Widerstandswert von zuführenden Stromleitungen und dem des Glühfadens, Kenntnisse, die durch Experimente, sprich bloßes Herumprobieren nicht zu gewinnen sind. Die mathematische Beratung Uptons, eine eigene Glasbläserei im Menlo- Park, eine verbesserte Vakuum-Pumpe und ein rastloses Aufstöbern aller Faserstoffe, die sich einigermaßen fest verkohlen lassen, führt Edison zwei Jahre später, im Jahr 1880, zum Erfolg. Was nicht bedeutet, dass er seine Entdeckung, also das nahezu verlustfreie Glühen eines leitenden Fadens im Vakuum, theoretisch verstanden hätte. So wenig wie jene für das Radio entscheidende Entdekkung, die Edison auf dem Wege zu seinem russfreien Beleuchtungskörper gemacht hatte. Weil er sich diesen Zwischenschritt hat patentieren lassen, wissen wir ein wenig mehr darüber. Er sollte erst vierzehn Jahre später zur Geltung kommen. Edison operierte damals, so hat er es überliefert, mit Hunderten und aberhunderten Materialien, deren Fasern er verkohlt, inklusive der Barthaare eines seiner Assistenten. Edisons Glühfäden tun jedenfalls über 12 Monate das, was alle Versuche von Heinrich Goebels und Alexander Lodygins, Joseph Swans und William Sawyers zuvor jahrzehntelang schon gezeigt hatten: Sie brennen durch. Dabei stellt Edison im Februar 1880 etwas Seltsames fest: nämlich, dass die Kohlepartikel, die seine Fäden vor dem Verglühen auswerfen, sich an die innere Glaswand heften, so als seien sie elektrisch aufgeladen. Um dem genauer nachzu-gehen, lässt er seine Glasbläserei einen weiteren dünnen Drahtfaden in den Kolben einschmelzen und stellt folgendes fest: Schließt er den frei in der Lampe hängenden Faden an den Plus-Pol der Stromversorgung an, so fließt durch den freihängenden Faden Strom, wird er an den Minuspol angeschlossen, so passiert nichts. Edison hat das Prinzip der elektronischen Diode entdeckt (vgl. Abb. 20). In Betrachtung seines eigenen»edison-effekts«(so wird er fortan genannt) wiederholt sich noch einmal Edisons Horror vor den Wechselströmen. Denn vorausgesetzt, seine Lampen wären mit Wechselstrom betrieben worden, dann hätte er selbst den Gleichrichtereffekt seiner Zweidraht -Röhre entdecken müssen, wie nach ihm, vermutlich schon 1888, sicher aber 1904, Ambrose Fleming, der englische Physiker und Marconi-Assistent es getan hat. Aus dieser revolutionären Nach-Entdeckung einer Edison-Entdeckung hat dann der Edison- Nacheiferer Lee de Forest die Radioröhre, sprich Triode, gewonnen. Auch er wusste zeitlebens nicht, wie seine Entdeckung physikalisch zu erklären sei. Aber de Forest hatte zumindest für Amerika damit den Grundbaustein der Radioentwicklung in diesem Jahrhundert herausgebastelt und sich denselben, nach Edisons Vorbild, sofort gerichtsfest patentieren lassen, zugleich aber unternehmerisch clever die Heerschar der Amateure mit guten Preisen bedient. Zwischen dem Glühfaden und der Anode, die Edison wie eine Haarnadel in den Glaskolben eingeschmolzen hatte, platziert de Forest ein zusätzliches Gitter, das bei ent-

176 156 SEEKABEL, EDISON UND ELEKTRIFIZIERUNG sprechender Verschaltung einen Verstärkereffekt des zur Anode fließenden Stroms ergibt und damit die so notwendigen Verstärkungen der schwachen Ströme der Radiowellen ermöglicht. Edisons Glühbirnen liefen nicht mit Wechselstrom; und das vermutlich, abgesehen von Edisons besonderem Horror gegen solche Ströme, aus einem technisch nachvollziehbaren Grund. Die Spannungskurven noch des damals besten Stromgenerators, zum Beispiel eines»edison-hopkinson-generators«, den Edison im Rahmen seiner Glühlampen-Entwicklung gebaut hatte, waren völlig unregelmäßig. Mit derart scharf schwankenden Spannungen wäre kein Glühlampenbetrieb möglich gewesen. Edison braucht für seine höchstempfindlichen Fädchen, die stets Gefahr liefen, sich in Verkohlung aufzulösen, einen sehr gleichmäßigen Gleichstrom. Da darf nichts schwanken, weil es die Verhältnisse von Spannung, Stärke und Widerstand sofort durcheinander brächte und das Fädchen reißen ließe. Edison braucht, abermals gesagt, Strom als reinen Befehl, Strom als reine Telegrafie. ELEKTRIFIZIERUNG Mit seinen Glühlampen wollte Edison das ultimative Geschäft seines Lebens machen, nämlich zumindest für die Wohlhabenderen die gefährliche und geruchsbelastete Gasbeleuchtung ersetzen. Für den Betrieb seiner Glühlampen hatte Edison 1882 ein entsprechendes unterirdisches Stromkraftwerk an der Pearl Street in Manhattan bauen lassen. Mit dessen Generatoren leuchteten, angetrieben von einer Dampfmaschinenturbine, knapp 400 Lampen. Der Vorteil der Gleichstromtechnik lag darin, dass Edison Akkumulatoren und Batterien verwenden konnte, um die Spannungsdifferenzen auszugleichen. Batterien und Akkumulatoren für Wechselstrom gab es nicht. Dafür aber handelte sich Edison einen schweren Nachteil ein. Denn die Bedingung zur Stromversorgung eines Hauses war die Verlegung von teurem Kupferkabel mit erheblichem Durchmesser. Edisons 100 Volt-Lampen zuverlässig zu beschicken, gelang nur, wenn das Kraftwerk sozusagen um die Ecke lag. Gleichstrom lässt sich nämlich über weite Strecken nur unter hohen Verlusten zuführen. Daran hat sich bis heute nichts geändert, weshalb unsere heutige elektrifizierte Welt eine Wechselstromwelt ist. Wie alle Forscher, die die Akten der Edison Werkstätten in Menlo Park und später in West Orange durchforstet haben, übereinstimmend sagen, hat Edison die Wechselstromtechnik ausreichend gut gekannt. Edison hat nicht nur gewusst, dass eine großflächige Stromversorgung nur über den Wechselstrom zu erreichen gewesen wäre. Edisons Firma besaß sogar zunächst alle damals erreichbaren Wechselstrom-Patente (Millard 1990, 96). Die Wechselstromtechnik, die nahezu verlustfreie Transformationen von Hoch- in Niederspannungen und damit Stromzuführungen von weit außerhalb der Städte ermöglicht, war seinen Ingenieuren im Prinzip vertraut.

177 ELEKTRIFIZIERUNG 157 Die Unerbittlichkeit, mit der Edison seine untaugliche Gleichstromtechnik durchsetzen wollte, zeigte vor allem eins: Aus dem Erfindererfinder, den er erfunden hatte, war inzwischen ein rücksichtsloser Yankee-Unternehmer geworden, genauer gesagt, ein Kapitalist alten Typs. Wechselstrom sei, so Edison,»not worth the attention of practical men«, sprich: nichts, mit dem er Geld verdienen konnte. Wie sollten die Massen seinen Strom bezahlen? Edison dachte nie daran, die USA zu elektrifizieren. In den neunziger Jahren existierten, nach dem Vorbild Edisons, bereits Hunderte solcher kleiner Elektrifizierungsinsel, wie die in der Edisonschen Pearl Street, alle mit lokalen Kraftwerken bestückt, deren Systeme untereinander völlig inkompatibel waren.»hätte sich die elektrische Industrie nicht schnell selbst zentralisiert, die Nation hätte sich verstrickt in verschiedenen Strömen, Volts und Leitungssystemen, wie sie zum Beispiel in London im Jahre 1900 charakteristisch waren«(nye 1990, 139), sagt David E. Nye in»electrifying America. Social Meanings of a New Technology«, ein Buch, das alle weiteren Fragen der angelsächsischen Elektrifizierung um die Jahrhundertwende 1900 erschöpfend behandelt.»electricity will soon do everything«. Hinter der»battle of Systems«, die in den späten achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts entbrannte für den Wechselstrom und gegen Edison, steckt nicht nur ein Streit um Elektrizität. Mit (und noch vielmehr gegen) Edisons Gleichstrom-Kraftwerken wird Elektrizität in den USA zum Paradigma eines Phantasmas und einer radikalen Parole zugleich, die in Europa ihresgleichen nicht findet und an dessen Ende das frühe amerikanische Radio steht. Es geht um ein Phantasma der Elektrizität, das sozial-radikal aufgeladen wird, und auf dessen Erbe Zehntausende Radio-Amateure um ein nicht-staatliches Radio kämpfen werden. 1899, auf dem Höhepunkt der amerikanischen Elektrizitäts-Hysterie, resümiert die New York Times:»ELECTRICITY lights our city. ELECTRICITY runs our street cars. ELECTRICITY causes waggons without horses to go. ELECTRICITY permits us to talk great distances. ELECTRICITY will do our cooking and heating. ELECTRICITY will soon do everything«(in Lewis 1991, 2). Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Arbeiten von Kenneth Roemer (1981), der die utopische Literatur der Jahrhundertwende sehr gut aufgearbeitet hat. Dort kann man nachlesen, wie in Mark Twains»A Connecticut Yankee in King Arthur s Court«eine fiktive Modernisierung des King Arthur-England durch Elektrifizierung läuft. Oder man lese Theodore Dreisers berühmten Roman»Sister Carie«gleich im Original, dessen Hauptfigur ein Elektrizitätsin-

178 158 SEEKABEL, EDISON UND ELEKTRIFIZIERUNG genieur ist. Will Harben schreibt 1894 einen Roman»The Land of the Changing Sun«, der in einer künstlichen Welt unter Glas tief im Ozean spielt, von einer elektrischen Sonne beschienen, die jede Stunde ihre Farbe wechselt. Arthur Birds»Looking Forward«erfindet einen»electric Equalizer«, der, wenn man ihn einschaltet, jeden häuslichen Stunk mit einem Schalterklick beseitigt und Harmonie in die Familien bringt. Die amerikanische Mittelklasse der Jahrhundertwende um 1900 liest jedes Jahr (und weitere Jahrzehnte lang) eine neue Romanfolge von»tom Swift«.»Tom Swift«ist, Gleichstrom hin oder her, nach dem Idol Edison gemalt: Der Kriegsjunge, der bessere Amerikaner. Swift ist ein von Viktor Appleton erdachter Junge und Erfinder, der ein elektrisches Boot, ein elektrisches Flugzeug und andere elektrische Geräte zum Fangen von Tieren erfindet. Das bringt ihm Ruhm und Geld. Aber Einiges von diesen Fiktionen war bereits Wirklichkeit. Zum Beispiel war der geliebte, viel zu früh verstorbene Vater des großen Orson Welles vom Schlage eines solchen»tom Swift«, der mit der Vermarktung einer Karbid-Fahrrad-Lampe und eines elektrischen Picknick-Koffers um die Jahrhundertwende vermögend geworden war, reich genug jedenfalls, um seiner exzentrischen Frau und späteren Witwe wie auch dem jungen Orson ein vergleichsweise sorgloses Leben zu ermöglichen (Brady 1989, 3). Oder nehmen wir den Vater und den Großvater einer anderen wichtigen Radio-Figur dieses Jahrhunderts namens John Cage. John Cage senior, self made inventor wie Edison, hatte ein elektrisches Unterseeboot gebaut und ein Hydrophon zum Aufspüren von Unterseebooten. Beides wurde im Ersten Weltkrieg gegen die Deutschen eingesetzt. John Cage Junior hat bis in seine fünfziger Jahre hinein die Patente des Vaters gehütet und betreut, darunter das erste in den USA patentierte Radio auf Wechselstrombasis (Revill 1992). Looking Backward 2000 to 1887 Der Plot von»looking Backward«musste die amerikanischen Leser faszinieren. Denn Bellamy's Roman spielt im Jahr 2000 und handelt von einem Mann aus Boston, Mr. Julian West, der auf mysteriöse Weise hundert Jahre verschlafen hat, um im Jahre 2000 wieder aufzuwachen.er erwacht im Hause von Dr. Leete, in seiner alten, aber jetzt doch so neuen Stadt Boston. Das erste, was er nach seinem Aufwachen sieht, ist ein warmes Licht. Zwischen 1887 und 1900, während Edison mit seinem Kontrahenten George Westinghouse um den Wechselstrom im heftigsten Streit liegt, erscheinen in Amerika 160 utopische Romane aus dem Register der eben beschriebenen Elektrizitätsphantasmen. Ausgelöst wird dieser Boom nicht zuletzt durch ein Buch, das unzählige Auflagen erlebte, man zählte nahezu eine halbe Million Exemplare in zehn Jahren, und das schon sehr früh ins Deutsche übersetzt wurde, ausgerechnet von der radikalen Sozialdemokratin Clara Zetkin. Gemeint ist Edward Bellamy's»Looking Backward 2000 to 1887«, Boston-New York 1888, in dem der Zeit-

179 ELEKTRIFIZIERUNG 159 zünder des amerikanischen Radios, lange, nämlich 32 Jahre bevor es von Pittsburgh aus tatsächlich zu senden beginnt, schon einmal ganz hörbar klickt. Edward Bellamy war amerikanischer Sozialist und ist ein noch heute auf Internet-Seiten der amerikanischen Linken hoch verehrter Autor. Er war der literarische Vordenker des weißen»national Movement«der USA kurz vor der Jahrhundertwende. Diese Bewegung gilt unter amerikanischen Historikern sowohl als Ahnenstätte der radikalen Linken wie der faschistischen Rechten Amerikas.»The apartment in which we found the wife and daughter of my host, as well as the entire interior of the house, was filled with a mellow light, which I knew must be artificial, although I could not discover the source from which it was diffused«(1887, 43). In diesem Licht, das keine Quelle mehr kennt, erwärmt uns Bellamy alias Mr. West für die Utopie des Jahres Aus heutiger Sicht ist es ein faschistoider Traum. Ein universeller und friedlicher zwar, aber ein durch und durch militarisierter Dienst hat die Welt in waffenlosem Griff, alle Arbeiter gehören dieser»industrial army«(191) an und selbst alle Unternehmer. Das Geld ist abgeschafft, die Börse natürlich auch und der internationale Finanzmarkt existiert nicht mehr. Soldaten sind unnütz geworden, weil die technologische Entwicklung alle gleichermaßen wohlhabend und glücklich gemacht hat. Es gibt keine Feinde mehr, sondern nur noch eine einzige soziale Egalität, mit überdachten Strassen und einer Welt voll Musik, die von zahllosen Orchestern und Musikern rund um die Uhr dargebracht, via Telefon in jedes Haus übertragen wird, wo es je nach Art der Musik entsprechend eingerichtete Zimmer gibt, um in ihr zu versinken (113). In diesen utopischen United States,»which was the pioneer of the evolution«(140), gibt es natürlich auch Radio.»As Edith had promised he should do, Dr. Leete accompanied me to my bedroom when I retired, to instruct me as to the adjustment of the musical telephone. He showed how, by turning a screw, the volume of the music could be made to fill the room, or die away to an echo so faint and far that one could scarcley be sure whether he heard or imagined it. If, of two persons side by side, one desired to listen to music and the other to sleep, it could be made audible to one and inaudible to another«(138). Dass man in Bellamy's Jahr 2000 allein oder zu zweit im Bett liegen kann und dabei vom Radio animiert wird, gehört ein weiteres Mal zu den geheimen sexuellen Phantasien des Elektrischen, die es ja auch schon bei Edison auf der Ebene der Telegrafie gab. Giant Power Heidelberg Electric Belt Die amerikanische Massenpresse, die»the Battle of the Systems«und alle Elektrifizierungsutopien begierig aufgreift, offenbart diesen tiefer liegenden,

180 160 SEEKABEL, EDISON UND ELEKTRIFIZIERUNG sexuellen Kontext gelegentlich in ihren Werbeanzeigen. Man nehme nur diese Anzeige für einen damals wohl besonders attraktiven»giant Power Heidelberg Electric Belt«, den man, als Mann für einen offenbar ganz besonderen Zweck umzuschnallen hatte. Abb. 25»$18.00 Giant Power Heidelberg Electric BeltAs the most wonderful relief and cure of all chronic and nervous deseases«;»...all deseases, disorders and weaknesses, peculiar to men, no matter from what cause or how long standing«das ist elektrischer Klartext, weil nun die Elektrizität an die Stelle tritt, wo der Ort des utopischen Begehrens als der Ort ausgemacht ist, wo jedes Begehren zusammenbricht oder eben nicht: an den Unort des Phallus, sozusagen, eingehüllt durch Elektroden.»The electric must rent in contact with the organ, every wearing means that part of the organ is traversed through and through with the strengthening, healing current; means.. a vigour induced, a tone returned, a joy restored that thousands of dollar s worth..never give«. Diese Anzeige ist medienhistorisch signifikant. Denn was für die Porno-DVD von heute gilt, war auch der Zweck des elektrifizierten Heidelberg-Belt im Jahre 1901:»A current regulation for a quick relief«, wie es in der Anzeige heißt. Aber das Elektrizitäts-Phantasma der amerikanischen Jahrhundertwende dringt nicht nur, wie hier zu sehen, direkt zum dem Ort des Phallus (oder eben des Nicht- Phallus) vor, es macht zudem vor dem Abgrund, vor dem Jenseits aller Lust, wie Freud sagen wird, nicht Halt: vor dem Tode. Diese sexuell gegenläufige Propaganda führt uns nun noch einmal zu Edison zurück, der sozusagen das hysterische Gegenstück zum Elektro-Sex beschwört, nämlich den Elektro-Tod.

181 ELEKTRIFIZIERUNG 161 Elektrokution Edison und seine Companies betrieben 1888 etwa 185 einzeln operierende Gleichstromwerke in den USA. Einige davon auch in Europa. Sein Konkurrent Westinghouse der große und zu großem Reichtum gekommene Erfinderfabrikant der pneumatischen Zugbremse hatte gut 100 gleichartiger Projekte auf Wechselstrombasis in Bau oder schon errichtet (Kline 1992, 25). In dieser aufgeheizten Phase industreller Konkurrenz erfindet der große Erfinder Edison keine neuen Geräte mehr, sondern eine verzweifelte Propaganda in Form einer ihn am Ende selbst vernichtenden Äquivalenz: Gleichstrom gleich Leben, Wechselstrom gleich Tod. Mit todbringendem Wechselstrom Leben vernichten, also die Elektrokution, wird in Edisons Propaganda zu einem Verb:»to westinghouse«. Die Edison Company errichtet 1887 im fabrikeigenen Laborgelände von West Orange einen Wechselstrom-Generator. Edison lädt die Presse ein, lässt einen Hund auf die Metallplatte steigen, der nach Stromschlägen tot umfällt. Gewestinghoused sozusagen. Dasselbe macht er mit einem Elefanten im Tierpark von Coney Island. Edison lässt eine solche Tiertötungsmaschine für den mobilen Gebrauch herstellen, nur um zu beweisen, wie todbringend sinnlos das Produkt seines Konkurrenten Westinghouse sei. Auch die spezifisch amerikanische Form der Hinrichtung durch den elektrischen Stuhl, mit seinen Hand-, Arm-, Waden- und Fußschellen hat Edison»erfunden«, mit Wechselstrom und im Kampf gegen ihn (Millard 1990, 102).»Just as certain as death Westinghouse will kill a costumer within six month after he puts in a system of any size. He has got a new thing and it will take a great deal of experimenting to get it working practically. It will never be free of danger«(josephson 1959, 346). Am Ende wird Elektrizität für Edison, dessen Geschichte wir jetzt verlassen, zur Schädelstätte, zum Ort seiner größten Niederlage. Und auch die deutet er wider besseres Wissen als todbringende Gefahr um. Im Hintergrund betreibt er mit seinen Yankee-Freunden eine Gesetzesvorlage, um jede Art von Stromübertragung in Amerika auf 800 Volt zu begrenzen. Das Vorhaben scheitert. Edisons Zeit ist abgelaufen. Was den Erfinderkapitalismus betrifft, so herrschen jetzt bereits die Morgans, die Rockefellers und die Astors. Die Ära der großen Familien- und der gewaltigen Beteilungskonzerne beginnt, gegen die ein Einzelunternehmer à la Edison keine Chance mehr hat. Und Westinghouse ist zu jeder Beteiligung bereit. Das Radio und seine amerikanische Voraussetzung, die Wechselstrom-Generatoren, sind auf dem Weg.

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183 Die Entstehung des US-Radios aus dem Geiste des Wechselstroms BEFEHLSIMPULS UND WELLEN-PHANTASMA Um die Jahrhundertwende 1900 wäre der Unterschied zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Elektrizitäts-Dispositiv etwa wie folgt anzuschreiben: Zwischen 1896, dem Jahr der ersten Marconi-Funkstrecke, und 1916, als an allen Fronten des Ersten Weltkrieges die ersten Röhren-Rückkoppler senden, sind in Europa, vor allem Deutschland und England, Sinuswellen, die einen glatten Wechselstrom im Raum produzieren, militärisch nahezu unbedeutend. Die Radio-Welle ist in Europa also zwei Jahrzehnte lang vor allem ein Multifrequenz-Knall, eine impulsartige Funkenentladung, die nur eine gedämpfte, chaotisch abschwingende Welle auslöst. Diese Welle kann keinen anderen Inhalt haben als sich selbst. Auf dieser Welle kann niemals eine Musik spielen und nichts übertragen werden. Es ist in diesem Sinn eine wahrhafte Marconi- Welle. Marconi hat sich nämlich für das Unterhaltungs-, das Wort- und Musikradio nie interessiert. Die Welle als Dasein der Welle ist für ihn ein Befehl, der nur mit Befehlen korreliert ist. 20 Jahre lang existiert in Europa Radio nur als Befehl, als Existenz einer Welle. Erst ab 1916 beginnen auch in Europa Wechselstrom- Generatoren und Röhren-Sender, die Welle zu modulieren, also am Ende des Ersten Weltkriegs (Hans Bredow weiß, dass Funkerei in Schützengräben abgestimmte Frequenzen verlangt 13 ). Wenige Jahre darauf wird das Unterhaltungsradio geschaffen, um die Technologie der gedämpften, abgestimmten Wellen industriell bereitzustellen, und selbst da weiß niemand, wie Brecht später süffisant bemerken wird, auf der Welle etwas zu sagen. Darum folgt einem Befehl wiederum: ein Befehl, die Struktur des Befehls und der Befehl der Zensur, der Anruf einer körperlosen Wesenheit an sich, also das, was ich den»radioruf«zu nennen vorgeschlagen habe. 14 Während in Europa also die Radiowelle vor allem Impuls und damit ihr eigener Inhalt ist, existiert in Amerika bereits ein möglicher Inhalt für eine Radiowelle als Frequenz, bevor überhaupt eine einzige technisch realisiert werden konnte. Das ist der medien-epistemologisch fundamentale Unterschied zwischen Europa und den USA. In den USA existiert ein Phantasma gesellschaftlicher Utopien als Phantasma der Elektrizität, noch bevor eine Radiowelle qua Wechselstrom produziert wurde. Als das Medium dann existiert, setzen sich die Phantasmen in dem Irrtum fort, das Radio sei ein Telefon. Der amerikanische Zeitzünder des Radios liegt in der Phantasmatik des Wechselstroms. 13.Vgl. Kriegsfreiwillig, Seite 65ff. 14.Vgl. Der Radioruf, Seite 80ff.

184 164 DIE ENTSTEHUNG DES US-RADIOS AUS DEM GEISTE DES WECHSELSTROMS Radiowellen, elektromagnetische Wellen, haben eine besondere semiotische Struktur. Sie sind Information in Wellenform und zugleich als Wellen schon Information. Diese Differenz kann man historisch und radiogenealogisch auf die Kontinente verteilen. In Europa ist der wesentliche Inhalt des frühen Mediums Radio der befehlsförmige Radioimpuls, also der Befehl als Befehl, während für die USA gilt, dass der wesentliche Inhalt des frühen amerikanischen Radios bereits auf der Semiotik der Frequenz gründet. Man sollte mit allem Interesse beobachten und festhalten, dass letzteres, also die Frequenz, die Iteration, die Wiederholungsfunktion, das Paradigma des Selbstähnlichen, und nicht ersteres, also der Befehl, das absolute Momentum oder der Ruf, das historisch mächtigere Radiodispositiv geworden sind. Die Siege in den Kriegen, die in diesem Jahrhundert dann folgen werden, sind mit der Beherrschung der Frequenz gewonnen worden und nicht mit der puren Reichweite oder ontologischen Omnipotenz von Befehlen. ERFINDERERFINDER IN DER NACHFOLGE DER GENTLEMEN Auf amerikanischer Seite ergibt sich, was die Gründung des Radios betrifft, eine konsekutive Linie von Namen. Es sind Menschen, fast ausschließlich Männer, die sich kennen und die sich aufeinander beziehen; keine Männer der Wissenschaft, die meisten sind formal nicht einmal wissenschaftlich ausgebildet: Edison, Tesla, Steinmetz, de Forest, Conrad, Sarnoff und Armstrong. Die Universitäts-Physik, die hinter der Entwicklung des europäischen Radios steht, ist in Amerika inklusive aller okkultistischen Spiritismen der Gegenmoderne so gut wie unbekannt. Stattdessen herrscht als ein leitendes Technik-Phantasma das»anything goes«der Erfindererfinder vom Schlage Edisons. Im Europa des 18. Jahrhunderts war die Elektrizitätsforschung gleichermaßen fast ausnahmslos von Amateuren, Instrumentenmachern und herumreisenden Demonstratoren vorangetrieben worden (Hochadel 2003). Der bedeutendste Gentleman unter ihnen war ebenfalls Amerikaner und hieß Benjamin Franklin 15. Die Erbschaft dieser europäischen Gentlemen-Erfinder des 18ten Jahrhunderts treten in den USA des 19. Jahrhunderts die Erfindererfinder à la Edison an. Sie sind, wie Edison selbst, zunächst fast ausnahmslos Amateur-Telegrafisten, sie sind Yankees und vor allem Individualisten. Sie setzen Phantasmen in Maschinen um, während die englischen Telegrafisten zur gleichen Zeit schon Teil einer szientifischen Maschine sind, die viktorianische Befehle umsetzt. Es kommt hinzu: Das ganze 19. Jahrhundert hindurch, besonders aber gegen Ende, erlebt Nord-Amerika ein weiteres Mal große Wellen der Immigration. Wir sind in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts. Ganze Völker ziehen von Russland, Pommern, der Tschechei und vom Balkan quer über den Kontinent, um sich jenseits des Atlantiks niederzulassen. Zwischen 1870 und Vgl. Das Leidener Medium, Seite 16ff.

185 ERFINDERERFINDER IN DER NACHFOLGE DER GENTLEMEN 165 kommen 14 Millionen europäische Emigranten in die USA (Raeithel 1995, 267). Nikola Tesla Einer von ihnen ist Nikola Tesla, Sohn des serbisch-orthodoxen Popen Milutin Tesla, geboren im Jahre 1856, in einer serbischen Enklave Kroatiens direkt neben dem Gotteshaus. In den Wäldern, wo der Spuk zuhause ist, wuchs er auf, so erzählt er es selbst (in Ratzlaff 1984). Abb. 26»Für meinen berühmten Freund Sir Williams Crookes, an den ich immer denke, und dessen freundliche Briefe ich nie beantworte«nicola Tesla, Seit frühester Kindheit wird er heimgesucht von übermächtigen Lichtblitzen und zuckenden Bildern, in deren Licht und Schatten ihm alles, was er später erfand, immer schon vor Augen gestanden haben soll. Visionen begleiten ihn sein Leben lang. Im Alter von sechzig Jahren, bereits hochberühmt und wohlhabend aufgrund zahlreicher Wechselstrom-Patente, schreibt Nikola Tesla:»Wenn ich meine Augen schließe, beobachte ich stets zuerst einen Hintergrund von sehr dunklem und einfarbigem Blau, dem Himmel in einer klaren, aber sternlosen Nacht nicht unähnlich. Binnen weniger Sekunden wird dieses Feld belebt von unzähligen schillernden Funken von Grün, die in mehreren Schichten angeordnet sind und sich auf mich zu bewegen. Dann erscheint rechts ein wunderschönes Muster aus zwei Systemen enger, paralleler Linien, die im rechten Winkel zueinander stehen und in allen Farben schimmern, wobei Gelb-Grün und Gold vorherrschen. Sofort danach werden die Linien heller, und das Ganze ist stark gesprenkelt mit Punkten aus gleißendem Licht. Dieses Bild bewegt sich langsam über das Gesichtsfeld und verschwindet ungefähr innerhalb von zehn Sekunden zur linken Seite hin. Es hinterlässt einen Grund von ziemlich unfreundlichem, trägem Grau, das schnell einem wogenden Meer von Wolken Platz

186 166 DIE ENTSTEHUNG DES US-RADIOS AUS DEM GEISTE DES WECHSELSTROMS macht, das scheinbar versucht, lebende Formen anzunehmen. Es ist merkwürdig, daß ich in dieses Grau keine Form projizieren kann, bis die zweite Phase erreicht ist. Jedes Mal, bevor ich einschlafe, huschen Bilder von Menschen oder Objekten über meine Augen. Wenn ich sie sehe, weiß ich, daß ich dabei bin, das Bewußtsein zu verlieren. Wenn sie ausbleiben und nicht kommen wollen, bedeutet dies eine schlaflose Nacht«(in *Cheney 1981, 31). Crookes-Schüler Tesla, offenbar ein hochbegabtes Wunderkind, lernt 6 Sprachen und den Standard der Elektrizitäts-Physik seiner Zeit durch ein Studium am Grazer Polytechnikum, das er nach wenigen Semestern abbricht. Später wird er berichten, dass es die Bücher des viktorianischen Chemikers und Physikers William Crookes sind, Bücher über den»vierten Aggregatzustand der Materie«16, die ihn faszinieren, animieren und leiten in all den Erfindungen, die mit Licht, Geist, Imagination und eben Elektrizität zu tun haben (Tesla 1993, 39f). Damit ist elektrizitätsgeschichtlich die Brücke zwischen Crookes und Tesla geschlagen, dem Erfinder des ersten Wechselstrommotors, des Mehrphasenstroms und des Tesla-Transformators. Nikola Tesla, bis heute und wohl auf immer verewigt in der Physik mit»tesla«als der Einheit der magnetischen Flussdichte, war ein manischer Anhänger der spekulativen Theorie der Identität von Äther-Elektromagnetismus und Geist, sprich Elektromagnetismus = Gedanken = Bewusstsein. Die Idee, dass unsere Gedanken vom selben Stoff sein könnten wie der Elektromagnetismus der Elektrizität, entspricht dem okkultistischen Ostinato der»society for psychical research«, jener Vereinigung, die diesbezüglich von den Physikern Oliver Lodge und William Crookes geprägt wurde 17. Nikola Tesla behauptet, alle Gedanken als eine äußere Eingebung in Form von Bildern zu erlangen und erfindet 1893 eine Gedankenkamera, von der wir aus einem Zeitungsinterview des Jahres 1933 wissen:»i expect to photograf thoughts... In 1893, while engaged in certain investigations, I became convinced that a definite image formed in thought, must by reflex action, produce a corresponding image on the retina, which might be read by a suitable apparatus. This brought me to my system of television which I announced at that time... My idea was to employ an artificial retina receiving an object of the image seen, an optic nerve and another retina at the place of reproduction... both being fashioned somewhat like a checkerboard, with the optiv nerve being a part of earth«(tesla 1993, 277f). Teleportation Gedankenphotografie, ferngesteuerte Roboter, Anti-Gravitations-Schilde, Ozonmaschinen, Todesstrahl-Generatoren, die über Hunderte Meilen Distanz Flug- 16.Vgl.»Strahlende Materie«oder»vierter Aggregatzustand«?, Seite 42ff. 17.Vgl.»These rays can pass into the brain«, Seite 44ff.

187 ERFINDERERFINDER IN DER NACHFOLGE DER GENTLEMEN 167 zeuge verbrennen lassen, elektromagnetische Resonatoren, um die Erde zu spalten, Teleportationsgeräte, die Materie transportieren können die Liste der Erfindungen, die mit dem Namen Nikola Tesla verbunden sind, ist lang, pittoresk und gruselig. Als eines von vielen Beispielen sei hier nur auf den riesigen Strahlenturm, den»wardenclyffe-tower«in Colorado Springs, verwiesen, mit dem Tesla seine lebenslange Utopie, nämlich der drahtlosen Übertragung von Energie näher kommen will. Dieser Turm (der nie fertig wurde) sollte gleichermaßen extraterrestrische Kommunikation ermöglichen, Flugzeuge und Schiffe fernsteuern, aber auch jene»death rays«, also Todesstrahlen aussenden, um feindliche Angreifer im Luftraum abzuwehren. Wenn überhaupt einer, dann treibt Nikola Tesla, ein vehementer Verächter der Einsteinschen Relativitätstheorie, die Äther-Metaphysik des 19. Jahrhunderts im 20. auf die Spitze und das auf amerikanischem Boden. Es ist jene Metaphysik, die den geistigen Horizont für den normalen europäischen Radio- Ingenieur und für die europäische Radiotheorie bis in die 30er Jahre dieses Jahrhunderts hinein darstellt. Die Bezüge, die hier radiotheoretisch virulent sind, vor allem Richard Kolbs Funkwellen-Theorie als dem geistigen Strom, der den Äther durchflutet, habe ich bereits erwähnt 18. Noch heute ist Tesla in der weltweiten New Age - und Spiritistenszene ein hoch verehrter Name. Sein Nimbus als verkannter Mystiker jener geheimnisvollen Energiestrahlung angeblich über-lichtgeschwindigkeitsschneller Tachyonen wird von Esoterikern weltweit gefeiert. Seine aus dem Nachlass erhaltenen Kleidungsstücke, also Teslas Gamaschen, sein Hut, seine eleganten Handschuhe, sind im Tesla-Museum in Belgrad zu besichtigen. Mehrphasenmotor Gleichwohl musste die Geschichte der Elektrizität Nikola Tesla als einen ernst zu nehmenden Ingenieur in ihr Arsenal aufnehmen. Sein Zweiphasen-Motor, den er 1888 patentieren lässt, ist und bleibt ein wesentlicher Entwicklungsschritt in der Technologie des Wechselstroms. Ein Mehrphasen-Elektromotor beruht auf der physikalischen Eigenschaft des Wechselstroms, dessen Phasen aus zwei zeitlich nachlaufenden Komponenten bestehen, nämlich der Spannung und der Stärke. Trennt man diese Phasen so auf, dass sie, zum Beispiel, gehälftelt werden, und legt diese gedrittelten Phasenpunkte innerhalb des Motors an drei getrennte Spulen an, so überlagern sich die phasenverschobenen Wechselströme innerhalb des Motors und ergeben ein Drehfeld, das den Anker kontinuierlich mit wachsender Stromstärke bewegt und antreibt. Dieser Motortyp ist damit für das Bewegen sehr schwerer Lasten geeignet, die mit niedrigen Drehmomenten angefahren werden sollen. Drehstrom-Motoren (wie man sie auch nennt) sind heute Standard in ICE-Zügen oder Straßenbahnen. 18.Vgl. Die Stimme als körperlose Wesenheit, Seite 117ff.

188 168 DIE ENTSTEHUNG DES US-RADIOS AUS DEM GEISTE DES WECHSELSTROMS Das Zustandekommen dieses Patents aber wurde von Tesla selbst in pure Mystik eingenebelt. Als Hilfsingenieur in Budapest beim Zentralen Telegrafenamt 1883, zwei Jahre vor der Amerika-Emigration, erreichen ihn, sagt er, wieder einmal massive Schübe gleißender Farb-Halluzinationen. Dazu hört er jetzt Geräusche von überall her, Sonnenstrahlen erzeugen, wie er sagt, Stürme und Winde in seinem Hirn. Ärzte in Budapest erklären ihn für unheilbar und verschreiben Kalium. Der Schub klingt 1882 ab, und er erholt sich bei Spaziergängen im Stadtpark, wo ihm plötzlich das Modell des Mehrphasenmotors vor Augen steht. Der Rest der Geschichte ist nicht minder phantastisch und realistisch zugleich, und es ist eine von abertausend Immigrantengeschichten. Nach seinem Studienabbruch arbeitet Tesla zunächst kurzzeitig bei einem der besseren, heißt mathematisch gebildeten Edison-Ingenieuren in Paris und gelangt so 1884, mit einem Empfehlungsbrief in der Tasche, in Edisons Forschungslabor Menlo Park in New Jersey. Edison nimmt den Wechselstrom-Exzentriker aus Budapest/ Paris nicht ernst und beschäftigt ihn nur teilzeitlich. Tesla landet schließlich auf der Strasse, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, findet ein paar zwielichtige Gönner, reicht sein benanntes Patent ein und bekommt, wie viele andere elektrotechnische Immigranten-Erfinder, Gelegenheit, einen Vortrag vor dem»american Institut of Electrical Engeneers«zu halten, um seinen Mehrphasen-Drehstrommotor vorzustellen. Für diese Demonstration muss er das Komplement dieses Motors ebenfalls vorstellen, nämlich einen Generator, der phasenverschobene Ströme produziert. Sind Generator und Motor, in der Spulen und Anker exakt gleiche Bauweise haben, in einem Kreis verschaltet, so läuft die Sache und es erübrigt sich alle Mathematik. So scheint s jedenfalls. Westinghouse (Edisons Name für die elektrische Exekution) erwirbt das Teslasche Patent, das nach einem ebenso einfachen wie genialen Trick zu funktionieren scheint. Im Unterschied zu Teslas Motor waren Wechselstrom-Motoren zuvor nur aus einer Spule gewickelt, die ihre periodisch wechselnden Felder auf einen inneren Läufer einwirken ließen. Der Nachteil dabei war, dass man sie mit Wechselstrom jedenfalls nicht starten konnte. Oder jedenfalls nicht dann, wenn Spule und Anker sich in einer toten Stellung gegenüberstanden. Gleichstrommotoren andererseits liefen und laufen im Prinzip auch heute nicht ohne Kommutator, eine Art mechanischen Umpoler des Stroms. Der aber erzeugte erhebliche Funkenbildung und war für viele Anwendungen unverwendbar wegen der Brandund Verschmorungsgefahr. Man mag sich denken, welches Aufsehen Teslas Drehstrommotor erregte. Es war der erste funktionierende Wechselstrommotor, der den amerikanischen Electricians zur Verfügung stand. Die Überlegenheit von Wechselstromanwendungen war dadurch auch in der Praxis, nämlich in der Konstruktion der großen Hebemaschinen und Lastenfahrzeuge erwiesen, für die Edisons Gleichstrom-System sich abermals als unzureichend erwies. Tesla setzt mit seiner Motoren- und Generatoren-Architektur natürlich implizit auch die Mathematik dieser phasenversetzten Ströme auf die Tagesordnung. Die einfachste aller denkbaren Fragen: Welche Spannungsverhältnisse herr-

189 ERFINDERERFINDER IN DER NACHFOLGE DER GENTLEMEN 169 schen zwischen den Phasen der Ströme? Und welche herrschen jeweils zwischen einer Phase und dem Null-Leiter? Alles Fragen, die nicht in dieses Buch gehören, außer, dass festzuhalten ist, dass Tesla, der Erfinder der Drehstromsysteme, sie ebenfalls nicht stellte. Vom Wahnsinn seiner Eingebungen getrieben, brachte Tesla vielmehr eine neue Verrücktheit nach der anderen auf den Plan. Er behauptete, vom Mars Signale empfangen zu können und wollte mit seiner überdimensionalen Pilsantenne, dem»wardenclyffe-tower«, dieselben beantworten, usw. Halten wir fest: Es gibt in der Entwicklung der für das Radio und für die Energiewirtschaft des kommenden Jahrhunderts so entscheidenden Entdekkung der Teslaschen Drehstromtechnik keinen wesentlich erkennbaren mathematischen Vorlauf. Es gibt, zumindest in den USA, keine stufenweisen Vorformen von Teslas Entwicklung, die aus der technischen Literatur bekannt wären. Also hat Tesla vermutlich nichts geklaut und ist kein Betrüger. Tesla hat vielmehr etwas, das sicherlich so oder so später auch erfunden worden wäre, in die bereits elektrifizierte Stromwelt Amerikas eingebracht, das ohne ihn um 1890 nicht entstanden wäre. Es gibt wenn Menschen denn überhaupt eine Rolle spielen in der Entwicklung der Elektrifizierung der Welt einen fundamentalen Einsatz des Wahnsinns, der entscheidend wurde, und der trägt den Namen: Nikola Tesla. Tesla wird in Amerika niemals eine eigene Wohnung haben, sondern nur in Hotels wohnen, und zwar vornehmlich im New Yorker Waldorf Astoria. Er wird seine Hemden nicht waschen und seine Anzüge nicht reinigen, sondern wird sich jeden Tag alle Kleidung neu kaufen. Die Wirbel und die Mythen um seine Person führten am Ende dazu, dass der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten, am 21. Juni 1943, ein halbes Jahr nach Teslas Tod, in einem Urteil dekretierte, nicht Marconi, sondern Tesla sei immer schon Inhaber der wesentlichen Radiopatente gewesen; und damit sei er in gewisser Weise also der Erfinder des Radios. Was nun kein Wahn-, aber Unsinn ist. Westinghouse Mit der Verfügung über Teslas Dreh- und Wechselstrommotoren war, wir sind jetzt im Jahre 1892, the battle of systems entschieden und zwar zugunsten von Westinghouse. Edison hatte mit der Niederlage alles verloren.»general Electric«, die ursprünglich einmal»edison General Electric«geheißen hatte, strich den großen Erfinder aus ihrem Namen und holte, im Wettstreit der nun wachsenden Großkonzerne, mit dem Aufbau von mathematisch und technischen Forschungsabteilungen zum Gegenschlag gegen Westinghouse aus. Tesla hatte den Boden bereitet für die maschinelle Architektur der Wechselstromwelt durch Einsatz von Wahnsinn. Es ist wichtig, sich den hermetischen Charakter dieses Wahnsinns klarzumachen. Tesla und heutige Teslaner tun das immer noch weigerte sich vor allem, den Wechselstrom von den ihm ange-

190 170 DIE ENTSTEHUNG DES US-RADIOS AUS DEM GEISTE DES WECHSELSTROMS dichteten Wahnvorstellungen zu befreien. Die hochfrequenten Ströme und Blitze waren für Tesla sozusagen das Ich selbst, das Bewusstsein, der Geist. Ein Wahnsinn kennt kein weiteres Gesetz als sich selbst. Und deswegen gibt es auch keine Gesellschaft und keine Liebe. Tesla wohnt niemals in einer Wohnung, hatte zwar zeitlebens eine schmachtende Verehrerin, aber, soweit bekannt, keine nähere Beziehung zu einer Frau oder zu einem Mann. Die Wirkung des Wahnsinns ist immer, dass es keine Gesetze des Wahnsinns gibt, wenn der Wahn selbst zum Gesetz wird. Hätten schon Tesla oder seine Verehrer die schlichten, uns heute bekannten Gesetze des Wechselstroms gekannt, so wäre er mit seinen Phantasmen nicht so eindrucksvoll gewesen. Die ganze Wirkung der spektakulären Wechselstromeffekte von Tesla basierte auf einer Voraussetzung: nämlich der vorläufigen Abwesenheit von mathematischen Gesetzen des Wechselstroms, einer Abwesenheit, die den Platz erst freimachte für das Phantasma. Charles Proteus Steinmetz Sollte Wechselstrom aber eben dies nicht mehr sein können: nämlich Inbegriff und Besitz von einem, der Maschinen erfindet und sie als Beweis extraterrestrischer Energie deklariert, die aber nur sein Wahngebilde sind; sollte Wechselstrom also aus dem gesetzlosen Gesetz des Imaginären herausgeholt werden, um dem Wohle der Menschen zu dienen, zum Beispiel, um der Nation, der Industrie, jedem einzelnen Haushalt im Lande eine neue Energie-Quelle zu verschaffen, dann mussten sie gefunden werden, die mathematischen Gesetze des Wechselstroms, also z.b. diese schlichten Formeln: Ohmsches Gesetz: I = U/Z. (Z =»Impedanz«) 2 Z = R 2 + ω L 1 Z = R ωc 2 Z = R + ωl ωc j Ohne diese drei einfachen Formeln, die die Wechselstromgesetze repräsentieren, gäbe es kein Radio. Man kann sich vielleicht noch vorstellen, dass Wahnträume zur Erfindung von Drehstrommotoren geführt haben mögen, aber um Zehntausende friedliche und normale Bürger zum Selbstbau von Sendern und Empfängern anzuhalten, müssen einfache Maß- und Daumenregeln existieren. Solche Regeln liegen in diesen drei Grundformeln vor, die für die Architektur aller Schwingkreise des Radios, aller Antennensteuerungen, Transformationen, Frequenzsiebe, Tiefpass- und Hochpassfilter die entscheidenden sind. Noch heute. Man findet sie in jedem Handbuch der Elektrotechnik.

191 ERFINDERERFINDER IN DER NACHFOLGE DER GENTLEMEN 171 Sozialistischer Flüchtling Für die amerikanische Radiogeschichte ist signifikant, dass diese einfachen Gesetze in unmittelbarem Gegenzug zu den Erfindungen Teslas deklariert und definiert worden sind. Formuliert wurden sie von einem, der ein American Immigrant war wie Tesla selbst, der aber das glatte Gegenteil von wahnsinnig, nämlich Sozialist war. Charles Proteus Steinmetz: ein Parade-Sozialist des späten 19. Jahrhunderts. Es ist nicht unwichtig zu sehen: Weder der Einsatz des Wahnsinns der Wechselstromtechnik (= Drehstrom-Motor), noch der Einsatz der Mathematik des Wechselstroms gehört zu einer originär amerikanischen Biografie. Beides sind Leistungen von Immigranten der ersten Generation. Die Eskalation des Wahnsinns als Wechselstrom stammt vom serbokroatischen Immigranten Tesla, die Deeskalation des Wechselstroms in Gestalt technischer Formelmathematik vom Politflüchtling Karl Steinmetz, der sich selbst Charles Proteus nannte, als er nach Amerika kam. Als Opfer der Sozialistengesetze von machte Steinmetz, wie tausende andere, die Flucht vor der politischen Verfolgung zum Anlass seiner Emigration in die Staaten. In diesen wilden Zeiten der frühen 1890er Jahre, als diesseits und jenseits des Atlantiks ein wahres Elektromotorenbau-Fieber ausbricht, macht sich der Mathematikstudent ohne Examen einen Namen durch die Klärung eines Problems, das offenbar zum 19. Jahrhundert gehört wie kein zweites, nämlich das der Hysterie. Das Wort Hysterie kommt vom Griechischen hysterein, zu deutsch: zu spät kommen oder zu spät sein bedeutet; wie eben ja auch die psychologische Betrachtung der Hysterie besagt, dass da etwas später kommt, als es ursprünglich war; ein Effekt mit Verzögerung sozusagen, eine Verschiebung in der Zeit, ein symptomatischer Affekt, ein irres Lachen ohne Anlass, weil es Symptom eines anderen Schauplatzes ist. Hier genau liegt die Parallele. Hysterie ist nämlich keine Sache der Psychologie allein. Effekte von verzögerten Wirkungen entdeckte man auch in den frühen Wechselstrommotoren. Deren Eisenkerne wurden sehr schnell ummagnetisiert, mal in die eine, dann in die andere Richtung, und dabei wurden sie so heiß, dass das ganze Motorenzeug regelmäßig auseinander flog. Technischer Ausdruck dafür: Hysterese, oder Hysteresis, eine Verzögerung der Ummagnetisierung von Eisen. Die dazugehörige Kennlinie und Grundgleichung findet nach einigen Vorbildern aus der alten Heimat Deutschland Charles Proteus Steinmetz in New York und macht sich einen bedeutenden Namen in der Gesellschaft der electricians (Klein 1992). Man erinnere sich an Edward Bellamys»Looking Backward«und seine Schilderung des US-amerikanischen Zukunftsstaates. Darin ging es um die Hoffnung auf eine profitfreie, korporierte, geldlose, militärisch organisierte, technologisch gestützte Gleichheit aller Klassen und Menschen im Jahre 2000, um jene Mischung aus utopischem Techno-Sozialismus und Faschismus. Charles Proteus Steinmetz versteht vor diesem Hintergrund seine Arbeit vor allem als sozialistischer Emigrant schreibt er ein Buch,»America and the

192 172 DIE ENTSTEHUNG DES US-RADIOS AUS DEM GEISTE DES WECHSELSTROMS New Epoch«, das die Bellamyschen Utopien eines korporativen Kapitalismus politisch einfordert. plus Elektrifizierung Aber bei Steinmetz ist das Ganze noch sehr viel deutscher, weil marxistischer gedacht. Dass eine Evolution der Gesellschaft hin zum Sozialismus im Gange sei, galt um die Jahrhundertwende 1900 in den intellektuellen Kreisen der Radikalsozialisten in Deutschland, also zum Beispiel für Karl Kautsky, dem Lehrer Lenins, ohnehin für ausgemacht. Man bezog sich auf Marx und seine Einleitung des»kapital«von 1867, wo vom»naturgesetz«der bürgerlichen Gesellschaft die Rede ist. Diese am Ende auf den Honeckerschen Esel gekommene Theorie vom gesetzmäßigen Wandel des Konkurrenz-Kapitalismus in den Sozialismus stammt aus dieser Ecke des 19. Jahrhunderts, in der Charles Proteus Steinmetz mit Karl Kautsky, mit Franz Mehring, mit Klara Zetkin, heimisch war. Es verwundert deshalb nicht, dass für Charles Proteus Steinmetz der Wechselstrom das Gesetz der Neuen Welt des Sozialismus ist. Nicht nur, dass wir entsprechende Briefe an Lenin finden, von Steinmetz adressiert an den großen Führer der Revolution 1917/18. Lenin hatte bekanntlich, nach den ersten kriegswirren Jahren der Revolution, die packende Parole ausgeben: Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung. Elektrifizierung wird auch bei Lenin als das Vehikel einer deterministischen Humanisierung angesprochen. Elektrifizierung soll Rückständigkeit, Armut, Krankheit, Barbarei und überkommene Produktionsformen beseitigen helfen in einer immanenten Perspektive des Sozialismus. Steinmetz schreibt einen begeisterten Brief an Lenin, macht Lenins Sache zu seiner eigenen und bietet jede Hilfe an. Lenin antwortet mit einigen signierten Photos. Im Gegenzug dazu musste allerdings der Wechselstrom erst einmal denen entrissen werden, die daraus ein egomanisches Phantasma entwickeln wollten, also einem Edison wie auch einem Tesla. Wechselstrom wenn man denn seine Gesetze kennt kann, das weiß Steinmetz, in eine große, transparente Netz- und Leitungsstruktur eingespeist werden, über riesige Entfernungen hinweg, zum Beispiel von den Niagara-Fällen bis nach New York hinein. Das sollte noch vor der Jahrhundertwende realisiert werden können. Wechselstrom ist für Charles Proteus Steinmetz ein Strom der Gemeinschaft, der Kooperation, des Sozialismus.»j«Weil dahinter aber keine Phantasmatik steckt, sondern der Impetus eines sozialistischen Determinismus, kann der Clou der zugehörigen Mathematik nicht völlig unkommentiert bleiben. Denn schließlich beschreibt diese Mathematik nichts Geringeres als die allgemeine Theorie jedes Wechselstromkreises. Überdies gilt es daran zu erinnern, dass das Radio, als ein speicherloses Gestell, aus nichts anderem als solchen verschalteten Wechselstromkreisen besteht. Es han-

193 ERFINDERERFINDER IN DER NACHFOLGE DER GENTLEMEN 173 delt sich um eine völlig unelitäre Mathematik. Steinmetz, der Sozialist, weiß, mit welchen Bildungsgraden er es bei seinen Lesern und Adepten zu tun hat. Also kein Vergleich zu dem, was die viktorianischen Mathematiker, Maxwellianer wie Lodge und Heaviside, an komplexer Vektormathematik ihren Telegrafisten in den Telegrafenzeitungen zumuteten. Zum Leidwesen der Zeitschriftenlektoren, die meist selbst kaum verstanden, was sie zu drucken hatten (Kline 1992). Sein amerikanisch-utopistischer Immigranten-Clou war, dass Charles Proteus Steinmetz in seine Wechselstromgleichung das erste Mal ein Element einführt, das Wurzel aus - 1 heißt, oder schlicht die imaginäre Zahl i. Die Wurzel aus minus 1, also i, ist ein mathematisches Phänomen, deren»entwicklung und allmähliche Klärung«, wie es Mathematik-Lehrbücher sagen,»zu den allermerkwürdigsten Erscheinungen in der Geschichte der Mathematik gehören«(mangoldt , 302). Die Wurzel aus minus eins hat keinen Wert, also keine numerische, reelle, rationale oder irrationale Wertigkeit oder Bedeutung. Man kann deshalb die Wurzel aus minus eins nicht»ausrechnen«, aber ansonsten nahezu jede Rechenvorschrift mit ihr vornehmen. So gelten 1 1 = 1, also i 2 = 1, und solche Dinge wie 14 i 2 sind ein erlaubter Rechenschritt (= 15), jedes Wegkürzen usw. ist erlaubt etc. Steinmetz führt die imaginäre Zahl i zur Beschreibung von Wechselstromvorgängen ein, und zwar an einer Stelle, wo es für die Ingenieure, die ja in Amerika Electricians und keine ausgebildeten Mathematiker waren, wichtig wurde. Nämlich an der Stelle des sehr einfachen Ohmschen Gesetzes, das seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts jedermann für Gleichströme schon kannte: U = I*R, Spannung gleich Strom mal Widerstand, oder I = U/R, Strom gleich Spannung durch Widerstand. Ohm hatte dieses Gesetz ganz empirisch mit Experimen-ten an thermischen Strömen herausdestilliert. Den Telegrafisten und Elektrikern des 19. Jahrhunderts, die vor allem mit Gleichstrom zu tun hatten, tat dieses Gesetz natürlich gute Dienste. Steinmetz stellt sich also die Frage: Gilt I = U/R auch für Wechselströme? Ein einfaches Beispiel hilft zur Erklärung: ein Gleichstromkreis mit einem Kondensator C darin. Was passiert? C übt einen unendlich großen Widerstand auf I aus, R ist also riesig groß, und I geht also gegen jede beliebige 0. Frage: Was passiert, wenn eine Wechselstromquelle an diesem Schaltkreis anliegt? Die Electricians wussten sofort: Da fließt der Strom wieder, fast so, also gäbe es gar keinen C. Ist nun I = U/R etwa gleich I = U? Spannung also schlicht proportional zum Strom ohne Widerstandsverlust? Wohl eher nicht, wie die Electricians herausfanden, und also behauptete man gar, dass das Ohmsche Gesetz für Wechselströme überhaupt nicht gelte. Und so klärt sich dann die Sache auf. Der wichtigste Punkt, den man begreifen musste, war, dass Strom, also Elektronenfluss, nicht dasselbe ist wie Spannung. Wenn man irgendeine Taschenlampe anknipst, dann brauchen die Elektronen aus der hintersten Batterie ziemlich lange, bis sie in der Birne angekommen sind, aber Spannung ist eben sofort da. Spannung ist ein Ausdruck des

194 174 DIE ENTSTEHUNG DES US-RADIOS AUS DEM GEISTE DES WECHSELSTROMS Feldes. Solch ein Feld stellt man sich am besten (aber in Wahrheit besser nur hilfsweise) so vor, dass Elektronen in einer Taschenlampe nicht nur fließen, sondern sich auch gegenseitig anstoßen, und dieser blitzartig sich in der Leitung verbreitende Stoßeffekt wäre dann komplementär zur Spannung. Dieses bildliche Scheinbild von Fluss und Spannung, die durch gegenseitiges Anstoßen der Elektronen entsteht, besagt allerdings für den Wechselstrom nichts. Da versagt nicht nur unsere Vorstellungskraft, sondern es versagte natürlich auch die der amerikanischen Electricians, die außerdem ja noch in den 90er Jahren nicht den Schimmer einer Ahnung von der möglichen Existenz von Elektronen haben konnten. Was Electricians bestenfalls wussten war: Wenn ein Kondensator in einen Wechselstrom geschaltet wird, dann fließt der Strom anders hin und her als die Spannung. Es findet eine Dämpfung statt. Aber wie diese Dämpfung beschreiben? Strom und Spannung sind im Wechselstrom beides Sinusschwingungen, aber sie verlaufen gegeneinander versetzt. Aber wie? Unsere Elektrotechnik-Taschenbücher stellen das vereinfacht so dar, dass in einen Kondensator die Elektronen noch hineindrücken also die Spannung des Kondensators steigt, während der Elektronenfluss selbst schon umgepolt wird, also die Elektronen sozusagen schon (oder noch) auf dem Rück- bzw. Vormarsch sind. Steinmetz hat in die Gleichung I = U ωcj den Term j eingeführt, um den Vor- oder Nachlauf der Sinuswelle der Spannung gegenüber dem Strom exakt zu symbolisieren. Bildet man die Gleichung durch Funktionsgrafen ab, so sieht man, dass der Strom an der Stelle die Nullstelle durchläuft, an der die Spannung am höchsten ist; und ebenso lässt sich zeigen, dass, während der Strom sich im Minus befindet, die Spannung noch aus dem Plus heraus abfällt bis zum umgekehrten Nulldurchgang. Diese versetzten Schwingungen lassen sich mithilfe des imaginären Ausdrucks i (der in der Physik nun j genannt wird auch eine Konvention, die Steinmetz begründet) nun in einer einfachen symbolischen Schreibweise, oder mathematisch gesprochen: in komplexer Algebra darstellen. Der Einsatz der imaginären Zahl sorgt nach ein paar einfachen Rechenschritten zunächst einmal dafür, dass für den Electrician immer die richtigen Vorzeichen und Versatzzeichen von Spannung und Strom herauskommen. Denn der Strom ist, jeweils versetzt um 90 Grad, im Minus, wenn die Spannung sich (noch) im Plus befindet. Für die Electricians und die Labors von General Electric war damit ein Grundgerüst gegeben, die Komponenten noch der größten Wechselstromsysteme zu berechnen. Ihr ganzes Gleichstromwissen blieb erhalten und musste wechselstromseitig nur um ein paar, aber entscheidende Faktoren bereichert werden. Entscheidend bleibt, dass man mit der imaginären Zahl j zwar nicht rechnen, aber algebraisch komplexe Verhältnisse, die zwischen erzwungenen Schwingungen herrschen, mit einfachen Mitteln beschreiben kann. Das war mathematikhistorisch gesehen nichts fundamental Neues, sondern ging auf die sogenannte E-Funktion Eulers zurück, die Steinmetz in seinem ersten wichtigen Buch über die»theorie und Berechnung der Wechselstromerscheinungen«

195 RADIO PHANTASMA zitiert, wenn auch nicht explizit mit dem Namen Eulers. Die technikgeschichtlich epochale Leistung des Immigranten Charles Proteus Steinmetz ist darin zu sehen, dass er, mit einem großen Wissen über die Mathematik harmonischer Wellen ausgestattet, eine Normalisierung des Wissens über den Wechselstrom erreicht, um diesem Stromphänomen, das bis in die späten 80er Jahre des 19. Jahrhunderts soviel Anlass zur Mystik gab, ein eher simples, aus der komplexen Mechanik der Wellenlehre herkommendes Gerüst gegeben hat. Damit ist endlich auch den entsprechenden Wechselstrom-Maschinen jeder Erfinder-Wahn und jede Erfinder-Mystik ausgetrieben. Mit Steinmetz endet, was die Elektrifizierungsgeschichte Amerikas betrifft, das Erfinderzeitalter der»in-vented Selfs«. Elektrifizierung, also Strom für die Städte, für die U-Bahnen, Hochbahnen, Straßenbahnen, Bohrmaschinen, Fräsen, Hebezeuge, Kräne und alles andere, ist jetzt ein industrielles Geschäft, arbeitsteilig und nach Produktionsplänen organisierbar; während sich die Erfinderei Edison hatte ja eigene Labors und Testfabriken betrieben in die Forschungsabteilungen der Großindustrie verlagert. Dort arbeiten jetzt die Steinmetze, wie Charles Proteus selbst bei General Electric, wo er ein noch heute gefeiertes Leben lang bleiben und arbeiten wird. In den großen Firmen werden die Ex-Erfinder zu»consultant Engineers«, ausgestattet mit allen Freiheiten, die Forschungsthemen selbst zu setzen, wenn sie nur zu neuen, umsatz-ergiebigen Produkten führen. Aber das ist nur die eine, die industrielle Seite. Die andere Seite bleibt der kulturelle Horizont eines ungemischten Clusters von Gesetz und Wahnsinn, von Logik, Mathematik und Utopie, der sich so deutlich und massiv im Streit um den Wechselstrom in Amerika zusammengezogen hatte. Dieser Aufriss eines utopischen Horizonts, eines phantasmatischen Horizonts einer alles-erobernden, alles vernichtenden und zugleich alles ordnenden Kraft des Wechselstroms, also sozusagen der Horizont Tesla plus Steinmetz, wird für die weitere Entwicklung hin zum Radio und im Radio Amerikas signifikant bleiben. RADIO PHANTASMA Das Phantasma, das hinter der Entwicklung des amerikanischen Radios steckt, ist komplex. Es enthält die Utopie der Musik und der Stimmen, die an allen Orten klingen, nachzulesen in Bellamys 1887 erschienenem Buch, das jene Flut elektrifizierter Utopien nach sich zieht. Gerade diese so wunderschöne Vision aber impliziert ebenso die Mutation der Gesellschaft in einen paramilitärischen Zukunftsstaat. An genau dieser Stelle tritt das Gesetz des Wechselstroms auf die Bühne der elektrotechnischen Pragmatik. Und mit diesem Gesetz wird das komplettiert, was ich den Geist des Wechselstroms nennen möchte, aus dem das amerikanische Radio hervorgeht. Ich gebe noch einmal die sich durchkreuzenden Linien dieser Entstehung an: Es gibt die Ebene des Imaginären, der Erfindergeräte, die nach einer wesentlich intuitiven Modellbauweise entstehen. Auf dieser Ebene des Imaginären baut

196 176 DIE ENTSTEHUNG DES US-RADIOS AUS DEM GEISTE DES WECHSELSTROMS Edison seine Glasbirnen und Tesla seine ersten Wechselstrommaschinen. Es gibt daneben die symbolische Ebene der Anschreibung der Elektrizität qua Mathematik. Damit verbinden sich das symbolische Gesetz des Stroms als schlichter ausrechenbarer Befehl, das imaginäre Gesetz des elektrischen Phantasmas und das reelle Funktionieren der Maschinen. Alle Träume haben ab jetzt eine Referenz; keine symbolische allein, sondern eine reell konstruierbare. Das Erfinderselbst eines Edison ist damit nicht gänzlich abgeschafft, aber sozusagen eingegrenzt. Der Wahnsinn ist nicht abgeschafft, aber decouvriert, enttarnt, gebannt. Steinmetz kann Tesla, was er oft genug tat, in einem Atemzug als Genie loben und als Spinner abtun. Man kann also sagen: Ab jetzt können die»electricians«ihre Träume vom Radio erfüllen, die sie vielleicht bei Bellamy fanden. Sie können es, wenn sie einem Gesetz, nämlich dem Gesetz des Wechselstroms folgen und nach diesem Gesetz ihre neuen Maschinen bauen (lassen). Fessenden Es lässt sich in aller Kürze zeigen, dass sich genau hier die Genealogie des amerikanischen Radios fortsetzt. Vier Jahre nach Steinmetz epochemachendem Buch über die Theorie der Wechselstromerscheinungen beauftragt Reginald Fessenden, ein physikalisch ausgebildeter Ingenieur des amerikanischen Wetteramts, am 1. Juni 1900 den Chefingenieur Steinmetz bei General Electric, also den Vater des Gesetzes höchstselbst, einen Wechselstromgenerator zu entwikkeln, der mit der Frequenz von Hertz, also mit 100 khz Ströme produziert. Warum? Fessenden weiß aus der europäischen Theorie, dass hochfrequente Wechselströme und elektromagnetische Wellen äquivalent sind. Oder, anders gesagt, dass Hertzsche Wellen im Grunde nichts anderes als hochfrequente Wechselströme sind. Der Auftrag Fessendens an Steinmetz ist ein einfaches, durch einen Brief belegtes Faktum. Die Idee, derart schnelllaufende Generatoren zu entwickeln, ist eben jetzt keine Utopie mehr, weil Steinmetz selbst ja alle Parameter anzuschreiben gelehrt hat, die für die Konstruktion einer solchen Maschine nötig sind. Ein Element bleibt nachzutragen. Reginald Fessenden, der sechs Jahre später tatsächlich mit einem solchen»alternator«, wie die Maschine heißen wird, die erste Radioübertragung von Stimme und Musik veranstalten wird, Fessenden war, wie alle Electricians Amerikas, im Jahr 1900 aufgeschreckt worden durch einen sensationellen Rummel, den Marconi in den USA entfacht hatte hatte Marconi das erste Mal Amerika besucht, wurde mit einem riesigen Presseecho als Wundererfinder im Land der Wundererfinder empfangen und wurde dennoch gleich bei seiner ersten Probe aufs Exempel von den amerikanischen Electricians ausgespielt. Marconi behauptete, dass er als erster und einziger von den Ergebnissen einer Segelregatta des American Cup würde drahtlos berichten können.

197 RADIO PHANTASMA 177 Reginald Fessenden beauftragt darum Charles Proteus Steinmetz mit dem Bau eines Wechselstrom-Generator/Senders, weil er weiß, dass Steinmetz eben jene Gesetze formuliert hat, mit denen eine frequenzgenaue, und zwar eine auf den hundertsten Prozentpunkt genaue Abstimmung eines solchen Senders auf eine Frequenz möglich ist (Douglas 1987). Das hat mit Utopien der Stimmübertragung nichts zu tun, sondern ist nur eine Konsequenz der Debatte, die das Yacht- Race-Desaster in der Diskussion der Fachzeitschriften Amerikas ausgelöst hatte:»the problem of securing immunity from interference remains to be solved«(douglas 1987, 57). Die amerikanischen Electricians, also Reginald Fessenden, Lee de Forest und die Ingenieure der jungen»american Telefon and Telegraf Company«, AT&T (die noch heute die Geschicke der Medien- und inzwischen der Netzgeschichte mitbestimmt) wissen, mit welchem Wasser Marconi kocht, nämlich mit diesen armdicken Funken, die seine Sender da knallen lassen, gedämpfte Wellen, die sich nahezu unabgestimmt über ein breites Frequenzspektrum ausbreiten. Da war es nicht schwer, ein wenig Salz in die Suppe zu schütten. Nachdem Marconi sich mit de Forest hatte einigen können, wer wann auf denselben Frequenzen senden dürfe, spuckt immer dann ein unerreichbarer AT&T-Sender ebenfalls Funken in das Spektrum, wenn Marconi sendet. Ein großes Desaster für Marconi. Ingenieure wie De Forest und Fessenden wissen längst, dass die physikalische Gesetzlosigkeit des Impuls-Funkens in großen Spektralbereichen der elektromagnetischen Wellen theoretisch und physikalisch und deswegen auch praktisch keine Zukunft hat. Fessenden will Signale auf Frequenzen bringen, nicht um Signale von Signalen, sondern Frequenzen von Frequenzen zu unterscheiden. Steinmetz hatte ja schon im Anhang seines Wechselstrombuchs die chaotische mathematische Lage gedämpfter, oszillierender Ströme beschrieben (Steinmetz 1897). Für einen Ingenieur seiner Zeit war es kein Geheimnis, dass eine Sendeantenne mit den Wechselströmen eines Funkens angeregt wird und dass die Empfangsantenne von den elektromagnetischen Feldern Wechselstrom-Energie aufnimmt. Also bestand zwischen der mathematisch anschreibbaren Architektur eines Wechselstromgenerators und der Konstruktion eines Wechselstromsenders für den Ingenieur kein prinzipieller Unterschied mehr. Schlichte empirische Erfahrung hatte gezeigt, dass ab etwa 10 bis 30 khz Wechselstrom die Energie dieses Stroms, auf eine Antenne übertragen, sich von dieser löst und von einer anderen Antenne wieder empfangen werden kann. Auf beiden Seiten waren nur Wechselstromkreise zu schalten. Fessenden weiß auch: Nur wenn telegrafische Übertragungen gegeneinander frequenzmäßig abgeschottet sind, also das Yacht-Race-Problem von 1899 gelöst werden kann, wird sich das Militär für die Sache interessieren. Es ist wiederum ein historisches Faktum, dass Fessenden derjenige ist, der die US-Navy mit den ersten leistungsfähigen Generatoren-Sendern und Radioempfängern ausstatten wird; dass seine Sender im Langwellenbereich bis in den Ersten Weltkrieg hinein unverzichtbar werden und überall in der Welt Anwendung finden. Charles Steinmetz und sein schwedischer Assistent Ernst Alexanderson bauen

198 178 DIE ENTSTEHUNG DES US-RADIOS AUS DEM GEISTE DES WECHSELSTROMS tatsächlich auftragsgemäß den Wechselstromsender, mit dem Fessenden 1906, an Heiligabend, über nachweisliche 15 Meilen gut verständlich das erste Radioprogramm sendet.»fessenden singing, Fessenden playing violin, Fessenden making a speech«(douglas 1987, 156). Die Wechselspannung des Sender-Generators war so hoch und so energiereich, dass Fessenden bei seinem Konzert hätte leicht umkommen können. Sein Carbon-Mikrophon hielt nur einige Stunden lang und rauchte dann ab. Mit Fessendens Übertragung von 1906 ist das Radio nun zur schlichten amerikanischen Tatsache geworden. Faktizität einer Technologie, obwohl es noch 14 Jahre dauern sollte, bis Frank Conrad in Pittsburgh den ersten regulären Betrieb einer lizensierten Radiostation aufnehmen wird. Ich trage nach, dass doch noch ein begrenzter Einfluss des Teslaschen Erfinderwahns bei dieser Entwicklung hinzukommt, nämlich durch den Tesla-Verehrer Lee de Forest, der ein Gleichrichter-Element namens Röhre, oder Diode, dem englischen Physiker Ambrose Fleming klaut, indem er sie einfach seinerseits zum amerikanischen Patent anmeldet. Zur Sicherheit muss er der Sache noch irgendetwas Neues hinzufügen und führt ein weiteres Element (ein kleines Metall-Gitter) in die Röhre ein. Definitiv versteht de Forest sein Leben lang nicht, warum seine Schaltung funktioniert. Aber sie tut es, und Lee De Forest erfindet die Radioröhre als Verstärkerelement, die Triode. Dunwoody Das Empfangsgerät für elektrische Wellen, das ab 1906 in Amerika zum Standard wird, ist denn auch zunächst nicht der Gleichrichter-Effekt der Diode, also die Röhren Flemings oder De Forests, sondern ein Halbleiter-Bauteil namens»detektor«, ein Karbon-Silikon-Kristallgemisch, das in Army-Labors des Generals H.H.C. Dunwoody 1906 entdeckt worden war (Douglas 1987, 196). Es hat die gleiche Eigenschaft wie eine Gleichrichterröhre und lässt von einem empfangenen Wechselstromsignal nur einen Gleichstromanteil durch. Das war bekannt, aber mehr auch nicht. Eine Theorie der Halbleiter war mit den Mitteln der Physik um 1900 nicht zu erreichen. Halbleiter sind Gegenstände der Festkörperphysik und deren Mathematik heißt Quantenmechanik. Erst in den frühen 1930er Jahren entstand diese Wissenschaft, die gleichermaßen die Transistoren (1948) wie auch die Kybernetik induzierte (Hagen 2005). Insofern ist der Radio- Detektor zwar ein wichtiger (wenn auch nicht allzu verbreiteter) Empfangsweg in der Frühzeit des Mediums, aber epistemologisch ohne weitere Bedeutung. Die Detektoren von Dunwoody und Pickard (letztere verbesserte die immer unzuverlässigere Gerätschaft) und die Röhren von Lee De Forest waren sehr schnell im einschlägigen Elektrohandel als preiswerter Bausatz zu bekommen. Sein Verkaufserfolg begründete den Boom der Radioamateurbewegung Ameri-

199 DAS PHANTASMA UND DAS GESETZ DER FREQUENZ 179 kas und damit, nur durch die Kriegszäsur zwischen 1917 und 1920 aufgehalten, das amerikanische Radio. DAS PHANTASMA UND DAS GESETZ DER FREQUENZ Reginald Fessenden, der die Bauaufträge für den ersten Radiosender der USA gab, konnte sicher sein, dass dieser Sender exakt und auf ein Hundertstel genau eine definierte Frequenz modulierbarer Sinusquellen erzeugte und keine zerhackten chaotischen Wellenimpulse. Dieses Wissen wird jetzt zum Maßstab der amerikanischen Radioentwicklung. Dass dem so ist, wird Fessenden selbst allerdings nichts nützen, denn von der Radioentwicklung profitieren hieß in Amerika Patente besitzen, und zwar möglichst solche, die neue Patente möglich machen. Der berühmte Fessenden verliert alle seine Patentrechts-Prozesse und fällt danach vergleichsweise schnell, als ziemlich mittelloser, armer Mann, der Vergessenheit anheim. Susan Douglas schildert in ihrem großartigen Buch»Inventing American Broadcasting «sehr detailliert, wie nach und nach alle Patente und Erfindungen der Erfindererfinder wie die von Fessenden und Lee de Forest durch»at&t«aufgesogen werden. AT&T kauft (oder prozessiert) ihnen das Wissen ab und inkorporiert es in Produktionslinien und in Laborprojekte zu ihrer Optimierung. AT&T hält das Röhrenpatent Lee de Forests, AT&T benutzt die Wechselstromsender Alexandersons und Fessendens. Und AT&T beliefert mit diesem Equipment die amerikanische Navy. Die Viktorianische Navy hatte vergleichsweise kleine Flotten mit großen Schiffen über weite (koloniale) Distanzen zu navigieren, die US-Navy dagegen vergleichsweise große Flotten mit kleinen Schiffen vor lang gestreckten Küstenlinien. Deswegen benutzte die britische Marine Marconis Radiofunken-Telegrafie, weil nur mit ihr (auf langen Wellen) die Erde halb zu umrunden war. Für die US-Navy war Sprechfunk, also der mögliche Austausch aktueller Kommandos über kurze Distanzen, wichtiger. AT&T kauft den Erfindererfindern die Patente ab und begründet damit die amerikanische Version eines ersten militärisch-industriellen Komplexes im Bereich der Kommunikationstechnologie. Das heißt aber nicht, dass der Typus des Erfindererfinders, jener bis in die Trivialliteratur hineingewachsene Typ des»tom Swift«, aufgehört hätte zu existieren. Er lebte fort in den Radioamateuren, in den Pseudoerfindern, in den genialen Dilettanten. Sie bauen ihr Radio- Equipment selbst und senden kreuz und quer auf allen Kanälen. Das allerdings wird auch in die Katastrophe führen.

200 180 DIE ENTSTEHUNG DES US-RADIOS AUS DEM GEISTE DES WECHSELSTROMS TITANIC April Das Jahrhundertunglück. Mit der misslungenen Passage der»titanic«von England nach Amerika wird in der amerikanischen Öffentlichkeit das erste Mal»Wireless«zum nationalen Thema. Tatsache ist, dass vielleicht nicht einmal die 866 Überlebenden des Titanic-Untergangs gerettet worden wären, wenn die Titanic nicht Funk an Bord gehabt hätte. Carpathia Im Bericht der Untersuchungskommission des Kongresses ist die Dramatik noch zu spüren.»kurz nachdem die Titanic den Eisberg rammte, begann Jack Phillips, einer der drahtlosen Funker auf dem Schiff, Hilferufe herauszuschikken zusammen mit der Position des Schiffes. Die Marconi Station auf Cape Race erhielt diese Nachrichten am Sonntag Nacht gegen 10h 25 New Yorker Zeit nahezu unmittelbar nach der Kollision. Zwei andere Passagierschiffe, die Parisian und die Virginian, erhielt die Nachrichten ebenfalls unmittelbar, aber sie war zwölf Stunden von der Titanic entfernt. Tragischerweise hörten die Schiffe in der Nähe der Titanic die Rufe von Phillips nicht. Das einzige in der Nähe befindliche Schiff, dass die wiederholten CQD uns SOS-Botschaften empfing, war die Carpathia, die die Nachricht nur durch einen glücklichen Zufall aufschnappte. Wie die meisten der anderen Ozean-Dampfer hatte die Carpathia nur einen Funker an Bord, der 12 bis 16 Stunden am Tag durchgehend Dienst tat. Wenn er am späten Abend schlafen ging, blieb sein Empfangsgerät unbeachtet. In dieser speziellen Nacht hatte Harold Cottam, der Funker an Bord der Carpathia, ebenfalls schon seinen Dienst beendet, aber war noch einmal zurückgekommen in den Funker-Raum, um einen Zeitabgleich seiner Uhren mit dem eines anderen Schiffes vorzunehmen. Als er seine Kopfhörer aufsetzte, hörte er die Hilferuf-Signale der Titanic. Wäre Cottam nicht zu seinem drahtlosen Gerät zurückgekehrt, es wäre keine Hilfe gekommen bis zum späten Vormittag des kommenden Tages. Das waren die Konsequenzen aus dem Umstand, dass es keinen Lautsprecher gab, keinen Ersatz-Operator, oder einen Notfall-Alarm für einen schlafenden Funker. Die Carpathia war 58 Meilen von der Titanic entfernt, und als sie die Szene dreieinhalb Stunden nach Empfang der Notsignale erreichte, konnte sie nur noch die Passiere retten, die es geschafft hatten, in die Rettungsboote zu kommen«(in *Douglas 1989, 227). Auch das ist die Geschichte einer Rundfunksendung, und zwar einer fast misslungenen. Solche Geschichten kann man erst verstehen, seit es das Radio gibt, nämlich jene instantane Instanz, die es erlaubt, augenblicklich informiert zu sein. Nicht die Titanic, sondern der Funk an Bord der Titanic hat das Drama zum wirklichen Drama gemacht, weil, wie Sie lesen, Rettung, womöglich für alle, hätte sein können, wenn

201 TITANIC 181»All Titanic Passengers saveonly 866 Titanic Survivors named by Carpathia wireless search of the seas for further news«diese Schlagzeile der New York Times vom 17. April 1912 bringt die Metonymie von Todesopfern, Überlebenden und Nachrichten noch einmal auf den Punkt. 866 Überlebende sind gerettet, und»die drahtlose Suche nach weiteren Neuigkeiten«hält an, so als würde jede Nachricht womöglich weitere Überlebende bedeuten. Die Geschichte, sowie sie der Kongressbericht schildert, ist allerdings unvollständig. Zuerst empfing die Marconi Station in Neufundland, Cape Race, die Message von der Titanic und dem gestreiften Eisberg und gab diese Meldung an die New York Times weiter, die das, ohne Hinweis auf die inzwischen entstandene akute Seenot, am 15. April auch vermeldete. Wenige Stunden später fingen Stationen diesseits und jenseits des Atlantiks dazu noch folgende eklatante Falschmeldung auf:»all Titanic Passengers save; Towing to Halifax«. Diese Meldung wird dann noch von allen möglichen Seiten her mehrfach bestätigt und erscheint zum Beispiel in der Londoner Times, zu einem Zeitpunkt, als die Titanic bereits als Sarg für 1500 Menschen auf dem Meeresgrund liegt. Die Meldung aber war korrekt als falsche Meldung empfangen worden. Sie war das Ergebnis von Interference, der gegenseitigen Störung von Funkstationen, Ergebnis von Chaos auf den Frequenzen. Am 21. April, sechs Tage nach der Katastrophe, gibt Captain Haddock vom Schwesterschiff der Titanic eine Erklärung für die grauenhafte Falschmeldung. Denn auch die Funkamateure in den USA hatten die Nachrichten von der Titanic, vor allem aber die der Marconi-Stationen aufgeschnappt. Wenige Stunden nach der Katastrophe, die auch eine Katastrophe des Funks war, hatten sie sich immer stärker in die Morsetelegramme eingeklinkt und kreuz und quer Meldungen abgesetzt mit der Frage:»Are all Titanic passengers safe?«zur selben Zeit hatte ein anderer Dampfer namens Asian, der einen großen Öltank im Schlepp hatte, aufgrund der großen Eisberg-Gefahr jener Nächte mehrfach gemeldet:»towing oil tank to Halifax«. Funkamateure waren die Ursache für die Überlagerung beider Meldungen, die nun, verdichtet zu einer, wiederum mehrfach empfangen und um die Welt gefunkt wurde. Damit hatte die Interference, das gegenseitige Abhören, Stören und Überlagern von Signalen auf beliebigen Frequenzen ein für die ganze Welt deutliches und unhaltbares Niveau erreicht.

202 182 DIE ENTSTEHUNG DES US-RADIOS AUS DEM GEISTE DES WECHSELSTROMS Erst wenn sich der Kreis schließt und das Medium des Neuen, nämlich die News-Papers, die drahtlosen Nachrichten sich im Thema von Tod und Zeit komprimieren, entsteht ein weiteres Phantasma, nämlich das der Welt-Sensation. Diesen Tatbestand erfüllte das Titanic-Desaster im vergangenen Jahrhundert das erste Mal. In allen Morgenzeitungen der Welt konnte jetzt stehen, was gestern (vielleicht noch gerade jetzt?) im kalten Eismeer geschah. Dies neue Phantom der Sensation produzierte seinerseits Nachrichten über Nachrichten, wie es heute nicht anders ist. Nur eben, im April 1912, auf allen Frequenzen zugleich. Das schließlich schuf den Anlass für ein Gesetz, nämlich das erste Gesetz des Radios in Amerika, den»radio Act«von 1912, verabschiedet am 13. August im Titanic-Jahr. Darin wurde die Zukunft, die erste, für die Geschichte des amerikanischen Radios so entscheidende Zukunft geregelt, die bis zur Gründung der»federal Radio Commission«im Jahr 1927 die gültige sein sollte.»radio ACT«1912 Der»Radio Act«von 1912, als eine unmittelbare Reaktion auf das Titanic Desaster, hatte naturgemäß ein vorrangiges Ziel: nämlich die Frequenzbereiche, auf denen die Amateure senden, von denen abzutrennen, auf denen die Schiffahrt generell und davon geschieden das Militär, sprich die Navy, ausschließlich senden durfte. Der Act legte fest, dass zwischen 600 und 1600 Metern (= Wellenlänge), also zwischen 187 und 500 khz, fortan ausschließlich die amerikanische Navy-Flotte senden durfte. Damit war, kurz gesagt, die Hälfte des Mittelwellenbandes schon einmal für das Militär reserviert. Überdies mussten alle Schiffe in der Nähe einer Navy-Station ihre Übertragungsleistung drastisch reduzieren; private Stationen durften nur noch oberhalb von 500 Metern Wellelänge senden und das auch nur auf zwei definierten Kanälen. Das Notrufzeichen drei Mal kurz, drei Mal lang, drei Mal kurz wird amerikanisches Gesetz. Die USA werden in neun Frequenz-Distrikte eingeteilt, und jeder Distrikt bekommt sein eigenes Büro, um Lizenzanmeldungen zu regeln. Alle Schiffe von einer bestimmten Größe ab müssen rund um die Uhr Funkbetrieb gewährleisten, alle privaten Amateure müssen eine Lizenzprüfung absolvieren, und zwar de facto bei der Navy. Erst dann erhalten sie eine Sendegenehmigung. Damit bildet in dem folgenden Jahrzehnt die Navy implizit ihre späteren Funker aus, und zwischen Radioamateuren und der Navy schließt sich ein erstes, wenn auch nie wirklich glückliches Band. Marconi und seine kommerziellen Stationen unterliegen dem gleichen Gesetz wie die Radiobastler und -ingenieure. Nur freilich werden sie niemals ihre Prüfungen bei der US-Navy abnehmen lassen.

203 »RADIO ACT« Lusitania Drei Jahre später zeigte sich, was dieses Gesetz, inklusive der korporierten Formation der amerikanischen Radioindustrie, auf dem mittleren Wellenband zuwege gebracht hatte. Im Oktober 1915 Europa liegt bereits im Krieg gelingt die erste Sprachübertragung von Nordamerika über den Atlantik; französische Militärs in Paris bestätigen den Empfang. Das Bündnis von AT&T und der Navy beginnt Früchte zu tragen; das Bündnis der korporierten Nutzung der technischen Gesetze mit der gesetzlichen Ordnungsmacht des Wellenspektrums beginnt sich auszuzahlen. Für Amerika, das zunächst nicht in den Ersten Weltkrieg involviert ist, bleiben die ersten drei Jahre des Krieges, was seine»wireless«-seite betrifft, von höchster Signifikanz. Schon 1915 war ein deutsches U-Boot vor die amerikanische Küste gelangt und hatte die Lusitania versenkt, ohne Warnung und ohne sich an der Rettung der fast 2000 Passagiere zu beteiligen. 188 Amerikaner waren darunter, und die US-Navy stellte fest, dass Fahrtroute und Position der Lusitania den Deutschen de facto über amerikanische Funkstationen bekannt geworden waren. Die Deutschen erklären im Januar 1917 den unbeschränkten U-Boot-Krieg auch gegen Amerika. Im April hören amerikanische und englische Navy-Funker den Depeschendienst des deutschen Militärs ab und entschlüsseln ein Bündnisangebot des Kaiserreichs an Mexiko. Am 6. April erklärt Präsident Wilson Deutschland höchstförmlich den Krieg. Das treibt die Entwicklung des amerikanischen Radios weiter voran, weil nun ein Kriegsgesetz nicht nur jeden Betrieb privater Amateurstationen verbietet, sondern die Navy, den Kongress und den Präsidenten in die Lage versetzt, die großen Stationen des Guglielmo Marconi zu requirieren und zu beschlagnahmen.»in time of war or public peril or desaster«, hatte der Radio act von 1912 dekretiert, kann der Präsident jede private Radiostation schließen, sogar enteignen und der Regierung unterstellen, ohne den ursprünglichen Besitzer wesentlich entschädigen zu müssen. Die US-Radiotechnologie wird durch den Kriegseintritt zum ersten Mal ausnahmslos durch Amerikaner kontrolliert. A New Epoch, eine neue Epoche der amerikanischen Korporativität beginnt. 1919, Navy-Bill Als der Krieg mit einem Sieg der USA und den opferreichen Kämpfen der American Expeditionary Force endet und Präsident Wilson nach Europa reist, um am Versailler-Vertrag mit zu schreiben, bringt ein republikanischer Kongressabgeordneter namens J. W. Alexander ein Gesetz ein, dass der Navy das gesamte System des amerikanischen Radios auch weiterhin unterstellen soll. Die Argumentation war einfach: Wenn schon Präsident Wilson mit seinem Segen bringenden, die Welt demokratisierenden 14 Punkten nach Europa reise, so müsse

204 184 DIE ENTSTEHUNG DES US-RADIOS AUS DEM GEISTE DES WECHSELSTROMS diese welthistorische Aufgabe der Durchdringung der Welt mit amerikanischen Idealen auf einer geordneten und zentralisierten Radioorganisation basieren...»...when the American News and American viewpoint are to be disseminated throughout the nations,... the greatest good to the people of the United States as a whole will accrue to them from well-regulated communications... at reasonable rates and without interference«(in Douglas 1987, 282). Immer noch im Hintergrund das Titanic-Desasters, für das man aus militärischer Sicht letztlich Dilettantismus, also die Amateure verantwortlich machte. Der Kongress startet Anhörungen, und eine hitzige Debatte bricht los, in der Radioamateure keine geringe Rolle spielten. Herbert Hoover, der spätere Handelsminister und Organisator des amerikanischen Radios, schließlich auch 31. Präsident, folgt zunächst der Navy-Strategie, in deren Hintergrund die bereits eng verbundene, alle Navy-Ausrüstungen liefernde»at&t«steckt. Insbesondere tat sich auf dieser Seite Josephus Daniels hervor, zuständig für die Navy im Kabinett Wilsons, ein aus dem Journalismus kommender, schon zu Kriegszeiten umstrittener Stratege, dem man die unzureichende Ausrüstung der Navy beim Kriegs-Eintritt der USA wohl nicht zu Unrecht angelastet hatte. Jetzt war sein Ziel Wiedergutmachung und Rehabilitierung in Form der drahtlosen Radio-Vernetzung der Nation unter staatlicher, das heißt militärischer Kontrolle. Auf der anderen Seite Hiram Percy Maxim, Präsident der»american Radio Relay League«. Er trat gegen diese militärische Kontrolle auf und setzte sich ein für die fast 8600 bei ihm registrierten Radioamateur-Stationen und jene Mitglieder, die bereits, wie er selbst, über eigene Sende- und Empfangsanlagen verfügten. Sein Argument: Hatten denn nicht gerade die Hunderttausend Funker im Kriege so entscheidend zum Erfolg der Navy-Operationen beigetragen? Und sollten denn nun, aus dem Dienst entlassen, ihre Fähigkeiten nutzlos werden? Andererseits waren Staatsräson und»private Business«in den USA immer schon zwei verschiedene Dinge. Unwahrscheinlich also, dass der Kongress zustimmen würde, die weitere Entwicklung einer offensichtlich höchst lukrativen Industriebranche unter Staatskontrolle zu stellen.»not for any temporary and not for any permanent cause, or merely assumed cause, should the government be allowed to put its bungling and paralyzing hand upon private business«schrieb die New York Times in ihrem Editorial im Juli 1919 (in Douglas 1987, 284). In Wahrheit aber ging es dem Kongress nicht um 8 ½ tausend Radioamateure. Es ging um die schlichte Frage, wem die industriellen Patente der Radiotechnologie nach dem Krieg gehören sollten. Das Kriegsrecht, aber eben nur das Kriegsrecht, hatte erlaubt, dass praktisch alle wesentlichen Radiopatente, zwei Dutzend Marconi-Stationen und auch einige Deutsche Funkanlagen, unter ausschließlich amerikanische Kontrolle geraten waren. Der euphorisierte Kongress der Sieger war mitnichten bereit, diese ökonomischen und politischen Errungenschaften einer korporierten Kontrolle über»the Wireless«zurück an die aus-

205 »RADIO ACT« ländischen Besitzer zu transferieren. Das stand hinter der Navy-Initiative, für die insofern die Staatsräson sprach. Household Utility Längst nämlich war die Vision von einem ökonomischen Markt gewachsen, den die Radioamateure mit ihrem Bedarf nach Hundertausenden von Geräten und Bauteilen ja schon de facto erschlossen hatten. Jetzt musste man eigentlich nur ein paar einfache Rechenaufgaben vornehmen. Was, zum Beispiel, würde es für einen Umsatz und Profit ergeben, wenn nur sieben Prozent aller amerikanischen Haushalte sich ein Radio anschaffen würden? Niemand geringeres als David Sarnoff, damals noch Angestellter bei Marconi, hatte diese Vision schon 1915 zu Papier gebracht. Ich zitiere daraus, weil Sarnoffs Text direkt an die Phantasmen der amerikanischen Elektrizitätsgeschichte anschließt und den Bogen von Bellamys Radiovisionen zu der kommenden Formation der US-Radioindustrie schließt. Sarnoff schreibt:»ich habe einen Entwicklungsplan im Sinn, der das Radio zu einem Haushaltsgegenstand machen würde wie das Piano oder der Plattenspieler. Die Idee ist in jedes Haus auf drahtlosem Wege Musik zu bringen. Dies ist schon in der Vergangenheit über Draht versucht worden, aber das hat sich als Fehler erwiesen, weil Drähte in dieses Schema nicht passen. Mit dem Radio aber wird es gelingen. Nur als Beispiel ein Radio-Telefon Sender, der eine Reichweite von sagen wir 25 bis 50 Meilen hat, kann an einem bestimmten Punkt aufgestellt werden, wo Instrumental- oder Vokal-Musik produziert wird. Das Problem der Übertragung von Musik ist inzwischen prinzipiell gelöst und deshalb können alle Empfänger, die auf die entsprechende Wellelänge eingestellt sind, dann auch eine solche Musik empfangen. Der Empfänger könnte gestaltet sein in der Form einer einfachen Radio Music Box und zudem eingerichtet werden für verschiedene Wellenlängen, die gewechselt werden könnten durch einen einfachen Knopf. Die Radio Music Box wäre mit Verstärkerröhren und mit einem Telefon-Lautsprecher ausgestattet, alles zusammen in einem Kasten. In einem Radius von 25 bis 50 Meilen leben Hunderttausende von Familien. Und sie alle könnten von einem einzigen Sender gleichzeitig empfangen. Das gleiche Prinzip könnte ausgedehnt werden auf zahllose andere Felder wie, zum Beispiel, auf den Empfang von Vorträgen, die perfekt hörbar wären. Baseball-Ergebnisse könnten übermittelt werden von Übertragungsstationen direkt am Spielfeldrand Die Herstellung einer Radio Music Box inklusive Antenne, in großen Stückzahlen, würde ihren Verkauf für moderate 75 Dollar möglich machen. Der Hauptumsatz käme vom Verkauf dieser Radio Music Boxen und zweitens vom der Verkauf der Sendeanlagen, wenn man nur genügend Werbung machte für dieses neue Drahtlose Zeitalter. Die Firma hätte die Arrangements für das Programm zu treffen, und ich bin sicher, dass es für Musikvorführungen, Vorträge etc. ein Leichtes wäre. Es ist nicht möglich, das ganze Geschäftsvolumen dieses Plans genau auszurechnen, aber allein in den USA gibt es 15 Millionen Haushalte. Würden nur sieben Prozent davon diese Idee gut finden, so ergäbe sich ein grob geschätztes Geschäft in der Größenordnung von 75 Millionen Dollar, was ein

206 186 DIE ENTSTEHUNG DES US-RADIOS AUS DEM GEISTE DES WECHSELSTROMS beträchtlicher Umsatz wäre. Abgesehen vom Profit, der sich aus diesem Vorschlag ergibt, wären die Werbemöglichkeiten für die Firma enorm; denn ihr Name würde ultimativ in jedem Haushalt präsent sein und das Prinzip wireless würde eine nationale und universelle Aufmerksamkeit erlangen«(in *Archer 1938, 84ff). David Sarnoff beschreibt in diesem Paper den»business plan«des kommenden US-Radios. Die Programme sollen (und werden auch tatsächlich über Jahre hin) von den Firmen finanziert, die Radiogeräte herstellen. Das soll sich rechnen und die Hersteller in einer Kettenreaktion (mehr Geräte = mehr Programme = mehr Geräte) reich und wohlhabend machen. Diese eindrucksvolle und mit präzisen Zahlen bewehrte Vision aus dem Jahr 1915 reichte aus. Im Kongress-Streit wurde das Papier noch einmal allen Abgeordneten zugänglich gemacht. So kamen im Frühjahr 1919 David Sarnoff (inzwischen qua Enteignung nicht mehr in Diensten Marconis) und einige Herren aus der Industrie unter Leitung eines gewissen Franklin D. Roosevelt zusammen, um aus den Liegenschaften der»american Marconi Company«unter Zahlung einiger kleinerer Abfindungen und Androhung größerer Vergeltungen die»radio Corporation of America«zu gründen, die (auch noch heute existierende) RCA. Auf dem Chefsessel wird sehr bald Platz nehmen David Sarnoff. Im Oktober 1919 war der Gründungs-Deal komplett und besiegelt, und letztlich hatten alle gesiegt: die Navy, die nunmehr zwei nationale Konzerne beauftragen konnte, nämlich AT&T und RCA. Alle wesentlichen Radiopatente waren in amerikanischer Hand: Fessendens Wechselstromsender nebst der inzwischen zur Serienreife gelangten Röhrensendern Edwin Armstrongs und Lee de Forests, auch das Lichtbogensender-Patent, sowie alle weiteren, ursprünglich europäischen Patentierungen aus Marconis Besitz.

207 »Blue Monday«,»Song and Pattern«und»Jazz«RADIO RUFT RADIO Massenmedien, sagt Niklas Luhmann, sind wesentlich dadurch definiert,»daß eine mündliche Interaktion aller an der Kommunikation Beteiligten wirksam und sichtbar ausgeschlossen ist«(luhmann 1996, 34). In dem Ausschluss mündlicher Kommunikation bildet das Massenmedium seine konstituierende Selbstreferenz heraus, d.h. es schafft Themen und Formen, die ohne es nicht existieren würden und auf welche nur das Medium allein referenziert. Die einzige Differenz, die an dieser These anzubringen wäre, ist, dass der Ausschluss an Kommunikation, der das Massenmedium konstituiert, kein systemlogischer ist, der nach logik-immanenten Konstrukten einer nur logischen Evolution beschrieben werden könnte. Es handelt sich vielmehr um einen historischen und damit genealogischen Ausschluss. Wie ein Massenmedium entsteht, wie es Substitute bildet für das Ausgeschlossensein der an der Kommunikation Beteiligten, das zu schildern bildet den Leitfaden für eine Historik des Mediums. Sie für das amerikanische Radio zu entfalten, folgt daher keinem Phantomschmerz. Mir geht es nicht darum, das vom Medium Radio radikal Ausgeschlossene, die Interaktion, die Mündlichkeit und Direktheit zu beklagen oder zu retten. Es geht um die transienten, transitorischen und substitutiven Programmformen, die dieser Ausschlussprozess erzeugt. Schon aus dieser Vorüberlegung folgt: Im Radio gibt es keine konstanten, absolut mediengerechten Programmformen, sondern nur die Inkonstanz der Form. Jede Betrachtung eines Radio-Programms verlangt deshalb die Betrachtung seiner Geschichte in ihrem zugehörigen epistemologischen Kontext. In gewisser Weise könnte man sagen, dass das Medium den absoluten Ausschluss von Anwesenden der Kommunikation, auf den es gründet, durch die historische Flüchtigkeit seiner Programmformen rächt. Da nicht nur Radio-Hören, sondern Radio-Machen, also beide Seiten der Kommunikation die strikte Nicht-Anwesenheit des Gegenüber verlangen, verdoppelt sich das Problem noch einmal und grundiert eine labile und sich überlagernde Fülle an inkonstanten Formen, in denen sich das Medium entwickelt. Vor allem in den USA. Denn vom ersten Tage an verschiebt und verdreht das amerikanische Radio die beschriebene Szene (Hören/Senden unter Ausschluss von Anwesenheit) noch um eine weitere Achse. Sie kommt in Europa so wenig vor wie das Wechselstrom-Phantasma der Stimmen und Frequenzen, das die amerikanische Radioamateurbewegung antrieb und das Medium rhizomatisch expandieren ließ.

208 188»BLUE MONDAY«,»SONG AND PATTERN«UND»JAZZ«833 khz, 618 khz Obwohl Luhmanns Überlegung zur Emergenz des Massenmediums aus einem kybernetischen, also sehr viel späteren epistemologischen Plot stammt, war es dennoch legitim sie hier einzuflechten. Denn ein spezifischer Ausschluss von Kommunikation in Gestalt einer massiven Begrenzung ist auch das, was den Radioamateuren in den USA von Beginn an im Wege steht. Nachdem der Kongress die Navy-Initiative aus besagten Gründen ablehnt, bleibt es bei der gesetzlichen Lage. Der Betrieb von Radiosendern und Empfangsgeräten wird auf die Basis des Radio Acts von 1912 zurückgestellt, alle kriegbedingten Einschränkungen werden jedoch aufgehoben. Der Radio Act hatte aus ganz anderen Gründen, nämlich um Interferences und wildes Durcheinanderfunken auf allen Wellen zu verhindern, scharfe Einschränkungen formuliert. Er erlaubte das Senden und Empfangen, getrennt nach der Reichweite der Sender und dem Inhalt der Übertragung, auf zwei und nur zwei (!) Frequenzen. Das waren: 360 Meter alias 833 khz, zugelassen für Sender, die»news Lectures«und»Entertainment«(= Musik) brachten; 618 khz für Sender, die beispielsweise Wetter und Ernte-Informationen auf dem Programm hatten (Douglas 1987, 91). WWJ, ein Sender aus Detroit, der sowohl Musik als auch Wetterberichte bringt, schickt seine Hörer innerhalb einer Sendung tatsächlich auf den Frequenzen hin und her, hält sie sozusagen kommunikativ am Knopf. Senden hieß also zu Beginn des amerikanischen Radios: auf Interaktion setzen. Im Hintergrund steht immer noch das Titanic-Desaster von Ein Schiff sendet in Seenot, und seine Signale werden entweder nicht empfangen oder durch Überlagerung mit anderen Botschaften unkenntlich gemacht. Und tatsächlich: In einer stürmischen Nacht des Jahres 1924, als schon Hunderte von Stationen in Amerika auf Sendung sind, erreichen Radiostationen in New York SOS-Rufe. Der Radio Act schrieb vor, dass bei Empfang von Notrufen (auf welchen Frequenzen auch immer) alle Sender schweigen müssen. Die New Yorker Radiosender beenden tatsächlich abrupt ihr Programm. Ein Schiff, die Shenandoah, hatte sich losgerissen von der Reede und trieb vor der Küste ab. Angeblich haben Hörer per Telefonkette das Schiff gesichtet und über eine lokale Radiostation das Schiff in den Hafen zurückbugsiert. Radio hat in Amerika von Anfang an die Struktur einer Interkommunikation, die korporative Sorge um Notfälle eingeschlossen (Douglas 1987, 107). Rufcodes Der Radio Act schreibt in seinem Kapitel»Intercommunication«vor, dass Betreiber von Sendeanlagen in regelmäßigen Intervallen die Signale anderer Stationen abzuhören hatten (in Barnouw 1966, 296). Diese Vorschrift schrieb also für das Radio de facto die Form der Radio-Telefonie vor. Den Autoren des Gesetzes (also dem Kongress) war durchaus bekannt, dass beim Senden auf ein

209 RADIO RUFT RADIO 189 und derselben Frequenz alle beteiligten Sender sich stören und gegenseitig auslöschen. Diese Erkenntnis von Interference und Chaos (Titanic-Desaster) war ja der Grund gewesen für die Einrichtung des Gesetzes. Mit Dummheit oder technischer Blindheit hat die Sache also nichts zu tun. Mit der Vorschrift, auf ein- und derselben Frequenz zu senden und zu empfangen, war vielmehr eine Art»Intercom«-System beschrieben, also das Modell einer korporativen Interkommunikation von Radiosendern mit Radiosendern. Das Radiomodell von 1912 bedeutete, sich den einen Kanal und seine Zeiten zu teilen und auf diese Weise zu kooperieren. Für AT&T, also für eine Telefon-Gesellschaft, war Radio ohnehin nichts anderes als»radio Telephony«gewesen, dann»toll broadcast«und erst ab 1926»broadcasting«. Noch 1925 sprach der spätere Präsident und damalige Handelsminister Herbert Hoover von Radio als von Radio-Telefonie (Barnouw 1966, 96). Der Organisator des Radios hielt an der dahinter liegenden Korporativitätsvorstellung fest und sagte, dass das Problem der Wellengleichheit von der Industrie gelöst werden sollte und nicht durch Verordnungen oder Legislativen (Douglas 1989, 178). Schon zum zweiten Mal hatten sich 1925 alle am Rundfunk beteiligten Firmen und Organisationen in Washington getroffen. Über 700 lizensierte Radiostationen in den USA sendeten faktisch auf zwei Frequenzen und das Chaos war unübersehbar geworden. Aber es sollte zwei weitere Jahre dauern, bis die Frequenzbänder geöffnet und abgestimmte Lizenzen vergeben wurden, die einen ungestörten Parallel-Empfang mehrerer Radiostationen an einem Ort ermöglichten. Was blieb und bis heute gilt, ist die Paradoxie der»call Letters«. Nach einer europäischen Vorstellung konstituiert sich, wie ich dargelegt habe, das Medium Radio nach der Struktur von»rufer und Hörer«, im Radioruf. 19 Nicht so in den USA. Dort ruft nicht das Radio den Hörer, sondern das Radio wird gerufen. Radiostationen erhielten als Sigel ihrer Lizenz von Beginn an Rufcodes, wie sie weltweit heute noch für Funkstationen auf Schiffen üblich sind. Das Rufcode- System gilt bis jetzt und symbolisiert die ungebrochenen Traditionen des US- Radios mehr als alles andere. Rufcodes waren zu Beginn und sind bis heute zusammengesetzt aus drei oder vier Buchstaben, die ursprünglich einmal die Zuordnung der Station zu ihren Sendedistrikten genau markieren sollten. Noch heute kann man anhand der»call Letters«zwischen West- und Ostküstensendern unterscheiden. Die Ostküstensender haben Rufcodes beginnend mit einem»w«, die Ostküstensender beginnend mit einem»k«. Das US-Radio ist von Anfang an zweiwegig und nicht einwegig. Nicht das Radio spricht zu den Hörern, sondern die Radios sprechen zu ihnen, nämlich zunächst das eine, dann das andere. Damit senden idealiter Brecht hätte sich darauf beziehen können alle die, die auch hören. Wenn der deutsche Radioruf heißt Radio ruft Hörer, so müsste der amerikanische lauten Radio ruft Radio. 19.Vgl. Der Radioruf, Seite 80ff.

210 190»BLUE MONDAY«,»SONG AND PATTERN«UND»JAZZ«Das markiert einen wichtigen Unterschied zur europäischen Frühphase des Radios. In Deutschland und England, den vehementen Vorreitern der europäischen Radioentwicklung, sorgten Hans Bredow und seine englischen Kollegen von Beginn an für Abstimmung der Kanäle gegeneinander, um zu dem Ziel des Radios zu kommen. Der deutsche Rundfunkgründer hatte noch vor dem Krieg im Auftrag des Reichs die Regelungen über abgestimmte Frequenzen und mit ihnen verbundene Reichweiten erreicht bringt er mit diesem Begriff von Radio, der mit der sicheren Übertragung von nicht zu erwidernden Befehlen zu tun hat, das Unterhaltungsradio auf den Weg. Bredow spricht von Menschheitstraum und Kulturinstrument, und es geht ihm dabei, wie wir gesehen haben, um die Errichtung je eines Radiosenders in je einem der neun Rundfunkregionen der Republik. Die Installation mehrerer konkurrierender und interkommunikativer Radiosender (auf einem Kanal) gehört nicht zum Wissen der auf autoritärer Universalität eines unitären, imperialen Äthers gestützten Episteme der europäischen Elektrizitätstechnologien. Radio ist zu keinem Zeitpunkt in Europa als Radio- Telephonie gedacht gewesen. Allen neun Sendegebieten des Reichs, vom Poststaatssekretär Bredow koordiniert, sind neun verschiedene, niemals interferierende Wellen zugewiesen, um den einen einzigen Kulturauftrag zu erfüllen. Dementsprechend ging auch die Organisation des Deutschen Radios in einer Dreiteilung vonstatten, die aus dem Theater abgeleitet war: Technik, Regie und Programm. Die Hoheit über die Technik eines Senders war der Post und damit dem Staat vorbehalten, die staatliche Hoheit über das Programm (und die Regie) war durch Vorzensur gesichert. Dass das amerikanische Radio sich in seinen Grundstrukturen so fundamental verschieden entwickelt, hat seinen Grund nicht in der Technik als Hardware oder dem Fehlen von Wissen im technologischen Sinn. Es hat seinen Grund in der Realisierung eines grundsätzlich differenten Wissens vom Wissen, also in einer fundamental differenten Epistemologie. Es ist ein Wissen, das zwei gegenläufige und widersprechende Tendenzen enthält. Zum einen bewahrt es die Vorstellung vom Radio, das mittels Wechselstrom-Technologie und dem Phantasma der Frequenz das Medium als Träger von Botschaften aus der Zukunft (miss)versteht. Zum anderen operiert es mit der gegenläufigen Einschränkung, dass diese Phantasmatik sich nur interkommunikativ und korporativ artikulieren kann, nämlich nur auf einem Kanal. Dass dies in der technologischen Praxis schon innerhalb weniger Jahre zu chaotischen Verhältnissen führen musste, ist nicht die Frage. Daraus zu folgern, alle Beteiligten hätten keine Ahnung gehabt, wie das Medium wirklich funktioniert, wäre die allerdümmste Sichtweise einer historistischen Blindheit. So gesehen müsste man ebenso konzedieren, dass auch Bredow von Radio keine Ahnung hatte. Für eine Historik des Mediums gilt vielmehr, das doppelte Paradigma der Konstitution des US-Radio ernst zu nehmen, die in einer auf Interkommunikation und damit auf Serialität eingeschränkten Phantasmatik der Frequenz gründet. Offenbar hat dieser Ausgangspunkt die Entwicklung des Massenmediums

211 KDKA UND DIE PRÄSIDENTEN 191 vom ersten Tag an sehr begünstigt. Im Ergebnis haben die Programmierung und die Formate des Massenmediums Radio in den USA einen historischen Vorsprung ergeben, stark genug, die Entwicklung des Massenmediums Radio in Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts faktisch zu dominieren. Die Gründe dafür gilt es aufzuklären. KDKA UND DIE PRÄSIDENTEN Die amerikanische Radiogeschichte setzt ihren offiziellen Beginn auf Anfang Oktober 1920 an, als ein Ex-Offizier der Navy, der Ingenieur Frank Conrad, in Pittsburgh vom Handelsministerium den Rufcode KDKA bekommt, um damit auf der durch den Radio Act 1912 vorgebenen 833 khz-frequenz der Radioamateure Sendungen auszustrahlen, nämlich die Wahlergebnisse der Präsidentenwahl von Harding und Cox. Diese erste Sendung des US-Radios ist im Internet mit einfachsten Suchbefehlen aufspür- und nachhörbar. Die nachgestellte Ursendung hat allerdings alle Schönheitsfehler einer Legende. Erstens gab es 1920 keine Aufzeichnungsmedien für Radiosendungen, und zweitens ist KDKA selbstredend de facto nicht der erste Radiosender Amerikas, wie man aus meiner Darstellung der technischen Vorgeschichte des Mediums leicht folgern kann. Wenn es um den faktisch ersten Radiosender der USA geht, könnte man ebenso gut Fred Christian von KNX-Hollywood die Ehre geben, einer Station, in der schon 1924 ein gewisser junger Pfadfinder namens John Cage seine wöchentliche Radiosendung veranstaltet hat. Oder wir könnten Professor Terry von der Universität Wisconsin nennen, den Urvater des amerikanischen College Radios, der, sogar im Ersten Weltkrieg, als Amateurradio strikt verboten war, Wetterberichte an die umliegenden Farmer ausgestrahlt hatte. Oder Elton M. Plant aus Ontario, oder Fred Laxton aus Chicago mit seinem Rufcode 4XD. Kurzum: Alle Radiostationen der Jahre 1919/20 sind ursprünglich Amateurstationen, und sie senden, wie später die daraus folgenden Radiosender, gemeinsam auf einer Frequenz. In Los Angeles senden 1922 bereits 23 Stationen auf einer einzigen Frequenz. Alle Zeitabsprachen scheitern. An der Westküste erlegen sich nachts alle Stationen ein Sendeverbot auf, um Notsignale zu orten. 22 Universitäten, quer über das ganze Land verteilt, richten ab 1922 College-Stations ein, übertragen Vorlesungen und Vorträge (Douglas 1989, 98). Die Mehrzahl der Stationen sind nicht in der Hand großer Firmen, also der General Electric, RCA, AT&T oder Westinghouse, sondern in Händen von Einzelnen und kleinsten Betrieben. Hunderte neuer kleiner mittelständischer Radiofabriken entstehen, um die riesige Nachfrage nach Geräten (Empfangs- und Sendegeräten) zu erfüllen. RCA produziert Röhren in Millionenauflage, die für Amateure verbilligt lizensiert sind, und es werden im ganzen Land Prozesse geführt, ob denn wirklich alle neu entstandenen Stationen den Status der Amateure verdienen?

212 192»BLUE MONDAY«,»SONG AND PATTERN«UND»JAZZ«Dr. Frank Conrad, Westinghouse Der Beginn der offiziellen Radiosender-Entwicklung Amerikas und damit komme ich noch einmal auf KDKA zurück beruht nicht auf einem Zufall oder historischer Beliebigkeit. Die konkrete Geschichte von KDKA in Pittsburgh hat ihre Logik, und zwar als spätes Echo der»battle of Systems«. Dass sich von Pittsburgh KDKA (der erste für Unterhaltungsradio vergebene Radiocode) tatsächlich die offizielle amerikanische Radiogeschichte her schreibt, ist eine unmittelbare Folge der erbitterten Konkurrenz der großen industriellen Elektrizitäts-Korporative. Jetzt, ein Jahr nach dem Krieg, sind beide, General Electric und Westinghouse, wieder schlichte, an der Wall Street gehandelte Konkurrenten. Seit dem Kampf um die Elektrifizierung der späten achtziger Jahre haben sich inzwischen vier Firmen herausgebildet. Für das Jahr 1920 seien sie in umgekehrter Folge ihres Auftretens genannt:»rca«, die neue große amerikanische Marconi-Erbin,»AT&T«, die alte Partnerin der Navy,»General Electric«als Ausrüsterin der beiden vorgenannten und schließlich»westinghouse«, der bei der Neuverteilung des Elektronik-Kuchens ziemlich leer ausgegangen war. Mit KDKA startet Westinghouse die Anschlussoffensive. Das ist der ganze Witz des amerikanischen Radioanfangs von Pittsburgh. Wenn schon Sarnoffs RCA einen guten Business Plan vorgelegt hatte, dann wollte Westinghouse ihn jetzt einfach besser umsetzen. Frank Conrad, der KDKA-Besitzer, war als Ingenieur bei Westinghouse angestellt, hatte dort einen Flugzeugstromgenerator entwickelt und die Produktion von Handgranaten verbessert. Nebenbei fungierte er als Radioingenieur und damit am Front-End der neuesten Röhrentechnologie. Seine erste eigene Amateur-Station hatte im Sommer 1920 den Rufcode 8XK erhalten und wegen seiner starken Reichweiten für einige Aufmerksamkeit gesorgt. Die USA, seit dem frühen 19. Jahrhundert ein Land der Gazetten und kleinen Zeitschriften, bedient die Radiohistorik mit einem entsprechenden Artikel aus»amateur Radio Stations«Nr. 32, Jahrgang 1920, in dem alles über Conrads Karriere nachzulesen ist. Der Rest ist Legende. Ein Plattengeschäft in Pittsburgh versorgt den Radio- Erfinderingenieur mit Victorola-Schellack-Platten, Conrad spielt sie jeden Samstag zwei Stunden lang ab, um von den Ex-Navy-Kameraden Empfangsberichte zu erhalten. Westinghouse, sein Arbeitgeber, stiftet für diesen Zweck ein paar neue Röhren und größeres Sender-Equipment, das auf dem Dach der Westingshouse-Zentrale angebracht wird. Gleichzeitig bereitet sich die Firma darauf vor, Radiogeräte zu bauen und in großer Stückzahl zu verkaufen. Conrad besorgt sich die nächst größere Radio Act -Lizenz. Das Thema des ersten Sendetages wird lange vorher in einer Anzeigenkampagne beworben und soll zum Gerätekauf bewegen: die Präsidentenwahl. Und tatsächlich wird in den USA fortan kein Präsident mehr ohne das Radio gewählt.

213 KDKA UND DIE PRÄSIDENTEN 193 Präsidenten Der erste Programmpunkt des amerikanischen Radios, eine Präsidentenwahl. Instantane Übermittlung der Wahlergebnisse. Wer gewinnt 1920 im Kopf-an- Kopf-Rennen zwischen dem Demokraten Cox und dem Republikaner Harding? KDKA meldet es als erster: Warren Harding. Harding Der 29. Präsident der Vereinigten Staaten, ein Säufer, Frauenheld und Mafiosi, wird Wilson-Nachfolger in den Vereinigten Staaten, ein Amtsträger, über dessen Spitzenplatz in der Liste der schlechtesten Präsidenten Amerikas sich die Historiker weitgehend einig sind. Regiert hat er nur drei Jahre. Bereits der nächste, nämlich Calvin Coolidge, Amerikas Präsident mit der bis dahin leisesten Stimme, wird, wie nach ihm Hoover und Roosevelt, behaupten, ohne das Radio nicht Präsident geworden zu sein. Denn nur im Radio, nur durch das Radio kann seine Stimme, die nicht laut, sondern eher intim und eindringlich artikuliert, wirken. Coolidge Die Ansprache des Präsidenten Calvin Coolidge vor dem Kongress am 4. Dezember 1924 ist daher in vieler Hinsicht ein legendärer Programmpunkt. Es ist die erste Präsidentenrede, die live im Radio übertragen wird, und es ist die erste vernetzte Live-Übertragung überhaupt. Die Navy/»AT&T«-Vision des technisch vernetzten Amerika erfüllt sich in den Worten des Präsidenten, die gleichzeitig über AT&T-Kabel zu hören sind von Washington bis hinunter ins WFAA-Kabel nach Dallas. An den Kabeln hängen Aberdutzende von Stationen, nur für diese eine Rede. Die Präsidentenrede krönt nicht nur die Wahl, sondern inauguriert bereits den Anfang der ersten großen Epoche der amerikanischen Radiogeschichte: die Bildung der Netze, genannt»networks«. AT&T und RCA gründen 1927 die beiden Ketten, die Red- und die Blue Chain der NBC, der»national Broadcasting Company«. Zwei Jahre später entsteht das zweite Netz (»CBS«), die Columbia Broadcasting System, ABC und»mutual«folgen in den nächsten Jahrzehnten. Hoover Der nächste Präsident der Vereinigten Staaten, Herbert Hoover, ist in jeder Hinsicht bereits ein gestandener Radiopräsident. Der 31. Präsident ist der erste und wichtigste republikanische Organisator des Radios, bevor er mit und durch das Radio selbst Präsident wird. Als Handelsminister der Jahre 1921 bis 1928 regelt Hoover (wie ein»zar«, sagten seine Kritiker) die ersten wilden Jahre des nordamerikanischen Radios. Er ordnet, so gut er kann, das Chaos, das entsteht, als

214 194»BLUE MONDAY«,»SONG AND PATTERN«UND»JAZZ«Hunderte von Stationen an der Ost- und Westküste auf einer Frequenz senden, und er ist der Vater der»federal Radio (später Communication) Commission«, die mit dem Radio Act von 1927 bis auf den heutigen Tag die Ordnung der Wellen in Amerika bestimmt. Die Ordnung, die Herbert Hoover ab 1927 herstellt, ist die Ordnung, die ihn zum Präsidenten macht. Und weil er das weiß, ehrt er 1929 die, die damals das Radio repräsentieren. Er lädt die ersten beiden großen Serial-Helden Correll und Gosden alias»amos n Andy«20 ins Weiße Haus zu einem Privatissimum ein, um ein weiteres Mal am Triumph des Mediums, das diese Serienhelden verkörpern, zu partizipieren. Im Juni 1932 stellt sich Franklin Delano Roosevelt das Land hat 10 Millionen Arbeitslose als demokratischer Präsidentschaftskandidat. Gegen ihn wird Herbert Hoover renominiert. Käme Roosevelt an die Macht, tönt Hoover über die nun entstandenen Radioketten,»the grass will grow in the streets of a hundered cities, athousand towns«. Roosevelt antwortet mit gleicher Radiopräsenz. Die ökonomische Oligarchie müsse gebrochen werden, um die Auslöschung des Landes zu verhindern. Den ersten Präsidentschaftswahlkampf, der auch über das Radio geführt wurde, gewann Roosevelt, der fortan, jede Woche, auch übers Radio das Land regiert. Am Tag seiner Inauguration, am 4. März 1933, schließen in jedem zweiten Staat des Landes die wichtigsten Banken. Roosevelt sagt im Radio:»The money changers have fled from their high seats in the temple of our civilisation«und schliesst an:»the only thing we have to fear is fear itself... The people of the United States have not failed«(in Barnouw 1966, 284). Acht Tage später geht Roosevelt wieder ans Mikrophon, und erneut am 7. Mai, am 24. Juli und 22. Oktober. Es sind die berühmten»fireside chats«, Meilensteine in der Verquickung von Medien- und Politikgeschichte.»My friends«, sagt er im Juli live über alle Stationen,»it is very hot here in Washington tonight«, fragt nach einem Glas Wasser, macht eine Pause und trinkt hörbar Schluck für Schluck. Der Präsident als Radio-Entertainer. Jon Dos Passos wird das später in die passenden Worte kleiden:»there is a man leaning across his desk speaking clearly and cordially to youandme... leaning towards youandme across his desk... so that youandme shall completely understand«(in Barnouw 1968, 8). 20.Vgl. Amos n Andy, Seite 207ff.

215 KDKA UND DIE PRÄSIDENTEN 195 Mass Media Aber Roosevelt verlässt sich nicht nur auf die Wirkung seiner intimen Stimme und den familiären Ton seiner»fireside chats«. Er weiß bereits etwas über die, zu denen er spricht. Denn schon dass er Präsident werden würde, 1932, war ihm und der amerikanischen Bevölkerung vorhergesagt worden, und zwar von den»crossley Surveys«, oder zu deutsch: den Massenbefragungen; eine Vorform dessen, was wir heute Demoskopie nennen. Damals war es der»literary Digest«, der 1932, mit Zehntausenden von Befragten, Roosevelt als Präsident verkünden konnte, bevor er überhaupt gewählt war. Umfragetechniken existierten in Amerika seit Mitte der zwanziger Jahre, entstanden waren sie nicht zuletzt, um zu messen, wie viele Menschen durch das neue Medium erreicht wurden. Der Begriff Massenmedien,»Mass media«, wird geprägt von der Werbeindustrie und ihrem verständlichen Bedürfnis nach Wirkungsforschung. Die ersten Umfragen wurden methodisch am geeigneten Objekt überprüft, an der Präsidentenwahl. Heraus kamen in den 1920er und frühen 1930er Jahren verheerende Falschprognosen, bis zum Jahr 1936, als die Institute, die Roosevelt 1933 noch vorne gesehen hatten, seinen Gegner Landon vorab zum neuen Präsidenten erklärten. Allerdings, ein kleines Institut, geleitet von George Gallup, widersprach. Gallup hatte mittels einer neuen Umfragemethode Roosevelt auf der Siegerstrasse, eine Vorhersage, die mit einem Prozent Abweichung dann auch eintraf. Jetzt erst, 1936, nachdem der Präsident einigermaßen sicher, nämlich qua Repräsentativerhebung, vorhersagbar ist, beginnt die eigentliche Radioforschung. Ab 1937 wird ein Österreicher namens Paul Lazarsfeld die wissenschaftlichen Emigranten aus Europa, unter ihnen Rudolf Arnheim, Karen Horney und Theodor W. Adorno, in einem Projekt vereinigen, das das»princeton Radio Research Project«genannt werden wird: die erste und wegweisende Anschreibung des Neuen Mediums Radio als ein Massenmedium mit eigenen Gesetzen der Selbstreferenz. 21 Ohne Roosevelt, der schon weiß, wie man den Kreis des Mediums schließen kann, weil er weiß, dass seine eigene Wahl vorhergesagt werden kann, ohne den Präsidenten also, wäre das amerikanische Radio kein amerikanisches Radio. Nationale Korporativität Mit den Wahlergebnissen einer Präsidentenwahl beginnt das Programm 1920, Reden und Wahlen von Präsidenten, 1924, 1928, 1932 und 1936, treiben das Radioprogramm als Programm voran. Radio in den USA war aus dem Geist des Wechselstroms (dem Kampf für die nationale Elektrifizierung) gewachsen und damit aus dem Phantasma einer nationalen Korporativität. Der Inbegriff dieser 21.Vgl. Eine tote Menge lauter Einsen Radioforschung, Seite 286ff.

216 196»BLUE MONDAY«,»SONG AND PATTERN«UND»JAZZ«Korporativität ist von der Frühphase der Entwicklung des Mediums an der Präsident. Über seinen Einsatz im Medium, nicht seine Führung, nicht seinen rechtlichen Einfluss oder seine Macht über das Medium, sondern durch seinen Einsatz, seine Stellung, wird das amerikanische Radio Schritt für Schritt zum Massenmedium. Ganz im Unterschied zu Deutschland, wo zwar der Führer ebenfalls, im Jahr 1933, einen entscheidenden, aber gewaltsamen und terroristischen Einsatz ins Radio bringen wird. Auch Goebbels und Hitler entdecken das Radio 1933 erstmals als Massenmedium und begreifen einige seiner Gesetze. Aber nur, um das Massenmedium sofort in einer faschistischen Umdeutung der Masse als Volk zu missbrauchen und gleichzuschalten. Ziel dieser Verschaltung ist der Krieg. DIE DUALITÄT DER RADIOSTIMME Trotz seiner inaugurativen Rolle ist mit dem Einsatz des Präsidenten in den USA kein Präsidenten-Propaganda-Radio entstanden. Ganz im Gegenteil. Als KDKA und Frank Conrad 1920 die Serie der Wahlberichterstattungen beenden, ist das Programm selbst auch schon wieder zu Ende. Ein Programmvakuum entsteht, eine Art negativer Sog der Wahllosigkeit. WJZ In Garrison Keillors»Radio Romance«, einem Roman über das frühe amerikanische Radio, der aber arg kolportagehaft daherkommt, steht die Station WLT irgendwo im Süden der USA im Zentrum und wird folgendermaßen eingeführt:»wlt... war von den Soderbjergs gegründet worden, um für ihr neues Restaurant in der alten Pillsbury-Villa an der Nicollet Avenue in der Nähe des Baseballstadions zu werben: Der beste Schnellimbiss der Stadt, der auch die kleinsten Preise hat«(keillor 1994, 25). Hunderte von frühen amerikanischen Radios sind auf diese Weise in Hinterzimmern von Hotels, Gaststätten und Friseurläden entstanden. Entstanden und wieder vergangen. Slim und Billie heissen die beiden, die Songs und Scherze im Radio von WLT aus Keillors»Radio Romance«machen. Die Figuren sind nicht erfunden. In Wahrheit hießen sie aber Billy Jones und Ernest Hare, nannten sich»the Happiness Boys«und starteten im August 1923 über WEAF in New York ihr Programm. Song n Pattern»How do you do, everybody, how do you do? How do you do, everybody, how are you?

217 JAZZ 197 We are here we must confess just to bring you happiness. Hope we please you more or less, how do you do? How do you do, oh, how do you do? How do you doodle-doodle-doodle-doodle-do? Billy Jones and Ernie Hare wish to say to you out there Don't forget you have a date. Every Friday night at eight So watch out and don't be late Goodnight.«Für diese gesungene Selbstannonce der»happiness Boys«werden die beiden»happiness Boys«berühmt. Radio ist fortan Happiness und das jeden Freitag um Acht. Die Selbstreferenzierung des Mediums beginnt in Amerika auf diese oder ähnliche Weise, indem ein Sänger und ein Pianist für ein Abendessen in der Restaurantküche besingen, dass sie Sänger und Pianist für ein Abendessen in der Restaurantküche sind. Arthur Frank Wertheims Buch»Radio Comedy«(1992) vermerkt mehr als ein Dutzend dieser frühesten Programmmacher des amerikanischen Radios unter der Überschrift:»Song and Patter«, Gesang und Geplätscher:»The Smith Brothers«,»Trade and Mark«,»Breen and Derose«,»Goldy and Dusty«,»Gene and Glen«,»The Baybestos«und auch schon»sam n Henry«. In zwei Jahren werden aus Ihnen»Amos n Andy«werden, und sie werden begründen, was bis heute das berühmteste, längste, erfolgreichste und formatprägendste Duo der Radiogeschichte bleiben wird.»trade and Mark«,»Abbott and Costello«,»Amos n Andy«, also duale Stimmen, Duette, Duos stellen im frühen US-Radio eine Art Urform des Radioprogramms und des Radioinhalts dar. Die frühen Radiostimmen operieren überwiegend zu zweit und nehmen damit die Interkommunikation und Serialität der medialen Struktur des US-Radios in das Programm zurück. So bildet sich eine wichtige Leit- und Erwartungsfigur im Programm heraus die Dualität der Radiostimme. JAZZ Aber nur, wenn gesprochen wird. Das Gros aber ist noch Musik. Gespielt werden, am Anfang, Schallplatten. Aber erstens ist die Technik der Platten (78er Schellack-Aufnahme) alles andere als geeignet, über den Radiokanal klanglich zu beeindrucken, und zweitens schiebt die ASCAP, die»american Society of Composers, Authors and Publishers«, der Sache schnell einen Riegel vor. Sofern ASCAP-Musik auf Schallplatten gepresst ist, untersagt die Organisation ab 1922 deren Abspiel im Radio, es sei denn die Station bezahlt vergleichsweise horrende Tantiemen (Passman 1971, 27ff). So hört man in den Sendern dann sogenannte»potted Palm Music«, weiße Bands, die in Hotelhal-

218 198»BLUE MONDAY«,»SONG AND PATTERN«UND»JAZZ«len spielen, live ausgestrahlt. Popularisierte Stückchen von Händel und Massenet, Combofassungen aus Puccinis La Boheme. WFAA in Dallas baut einen schmucken holzgetäfelten Konservatoriumssaal, damit die Kapellen besser klingen. Die Flut von Combos, die überall in die paar Stunden Programmzeit der Ein-Frequenz-Stationen der Frühzeit drängen, produziert eine Kettenreaktion, weil sie selbst schon Produkt einer Kettenreaktion ist. Außerdem geht, parallel zur Entwicklung des Radios, die inneramerikanische Migration weiter. Aus dem Süden drängen die afroamerikanischen Musiker zu tausenden auf den Markt. Serien von Schallplattenproduktionen entstehen, die allerdings zunächst kaum im Radio gespielt wurden, obwohl sie dafür prädestiniert gewesen wären. Denn deren Komponisten sind nicht in der ASCAP organisiert. Gemeint sind die»race«-records der»all-black-artists«. Sie bekommen nur zögerlich Auftritte in Radioprogrammen, obwohl dort über lange Zeit hin, aus ASCAP-Gründen, keine Platten aufgelegt werden. The Great Migration Die Migrationsmusik Jazz oder Swing, die im Harlem der frühen 30er Jahre entsteht, ist eine Mischung aus kreolischen Musiken New Orleans mit neutönenden Harmonien, die die Musiker aus Europa übernahmen. Die Instrumentierung, auch wiederum ein Migrationsmix: Reste der weißen Militärkapellen mit Schlagwerk und Bläsergruppen, dazu das Ragtime-Piano der Afro-Amerikaner. Dieses Mixtum ist keine autochthone Musik der Schwarzen mehr, es ist großstädtisch adaptierte Musik, an die Klanglandschaft der Industriestädte angepasst und deshalb auch nicht zwingend den Schwarzen vorbehalten. Insbesondere auf dem Feld des Swing spielt die erste große musikalische Integration von Rassen, die Integration von Afroamerikanern und weißen Musikern, so dass es am Ende der weiße Saxofonist Benny Goodman sein wird, der Ende 1935 aus dem Paloma Ball Room in Los Angeles den endgültigen Durchbruch für den Swing erwirkt. Natürlich live übertragen im Radio. Die neuen Ghettos in den Nordstaaten, Detroit, Chicago und New York, wo Hunderttausende Immigranten, Hunderttausende aus dem Süden hergezogene Afroamerikaner leben, sind eben, neben den vornehmen Vierteln der Nordstädte, die kommenden Märkte nicht nur des Radios, sondern auch der Schallplatte. Ab 1920 sind alle großen Rundfunkstädte auch Schallplattenstädte. Was in Kansas City, St. Louis und Memphis schon lange bekannt war, kommt nun über die Migration der Schwarzen vom Süden in den Norden nach New York, Chicago und Los Angeles und wird dort erstmals ab 1920 auf schwarzes Schellack gepresst. Damit Frank Conrad senden konnte, musste es bereits diese Victorolas geben, also Schallplatten der Firma Victor bereits hatte das Label Victor seine erste Jazzplatte gemacht, und sie ist eine der ersten Jazz-Aufnahmen der Musikgeschichte überhaupt. Die Entwicklung dessen, was wir den Jazz

219 JAZZ 199 nennen, und die Entwicklung des amerikanischen Radios zeigen eine tiefe Kongruenz. Ohne das Radio keinen Jazz, ohne Jazz kein Radio. New Orleans Gegen landläufige Legenden bleibt festzuhalten: Die ersten Aufnahmen der populären Musikgeschichte des Jazz sind nicht schwarz, sondern weiß:»the Original Dixieland Jazz Band«, Victor-Records 1917, besteht nur aus Weißen und ihrer Musik. Der geliebte Dixieland eben, wurde so niemals von Schwarzen gespielt. Aber eben von Buddy Bohlen und seiner legendären Band, von der Musikhistoriker sagen, dass von ihr das ausgehe, was man im eigentlichen Sinne»Jazz«zu nennen hat, nämlich die musikalische Verschmelzung von Marschmusik, Blues und Ragtime. Jazz-Musik ist eine Musik aus New Orleans, die bereits in New Orleans zusammenmischte, was die Stadt zu bieten hatte, eingeschlossen die kreolische Bordellmusik aus Storyville, dem Nuttenviertel der Hafenstadt New Orleans, die Märsche der Militärparaden, die durch die Stadt ziehen und die Gesänge der Blues- Shouter vom Land, die versuchen, um die Jahrhundertwende 1900 in der Stadt einen Job zu finden. Als die Navy 1917 alle Bordelle in Storyville schließt, zum geschlechtlichen Schutze der Navy-Boys, die jetzt gegen Deutschland in den Krieg zu ziehen haben, ziehen die frühen Jazz-Musiker in den Norden und bringen das, noch ohne Radio, was eine Generation lang auf den Strassen und in den Hunderten Clubs von New Orleans gespielt wurde. Über den Umweg Chicago, Los Angeles und New York kommt dann auch später New Orleans ins Radio. Das, was da so schräg klingt und nicht zusammenpasst, nur für die damaligen Ohren wohlgemerkt, aber schon so ungeheuer groovt und mit seinen Rhythmen vor allem an das Letzte und Schönste erinnert, was den umherziehenden Migranten letztlich geblieben ist, nennt man nun den»jazz«. Wobei schon irrelevant erscheint, ob dieser Name wirklich einen Namensgeber in diesem angeblich immer geilen und nur an das eine denkenden Musiker namens Jelly Roll Morton hat. Intercourse Jazz ist nichts anderes als ein Slangwort für den»sexual Intercourse«, wie schon die Vornamen»Jelly Roll«von Morton es andeuten. Keine vierzig Jahre später wird auch»rock n Roll«nichts anderes bedeuten.»sexual intercourse«eben, nur dass es der Rock n Roll noch bildlicher und in klarer Metonymie ausspricht. Das Wort»Jazz«soll aus einer westafrikanischen Sprache stammen. Daraus folgt, dass schon mit dem ersten Einsatz der Musik in einem elektronischen Medium ein Name für eine mediale Musik geprägt wird, der auf das Unan-

220 200»BLUE MONDAY«,»SONG AND PATTERN«UND»JAZZ«sprechbare schlechthin, den Ort der Lust, des Begehrens und des Phallus, abzielt. Der Betrug, oder besser, das trügerische, weil immer auch falsche Versprechen, das mit diesem Wort einhergeht, bleibt eingeschlossen. Denn populär wird in Amerika unter dem Namen»Jazz«zunächst eine weiße Band, die genau das nicht spielt, was Jelly Roll Morton spielt. Populär wird unter dem Namen Jazz durch das US-Radio zunächst die»original Dixieland Jazz Band«, die weder jazzig (im Sinne vom New Orleans Jazz) noch alles andere als original war. Diese gar nicht originale, aber durchaus originelle Dixielandmusik von der originalen Dixieland Jazz Band nimmt aus der schwarzen Musik, was sie braucht. Übrigens ganz ähnlich, wie es später der Rock n Roll eines Elvis Presley tun wird, der bekanntlich mit der musikalisch verharmlosten Cover-Version von»that s allright«oder»rock me Mama«1954 seine schwindelerregende Karriere startete, mit zwei Stücken, die von dem schwarzen City Blues Gittaristen Arthur»The Big Boy«Crudup stammen, auch von ihm eingespielt worden waren, allerdings ohne jeden nennenswerten Erfolg. Täuschung Sowohl der Jazz wie auch der Rock n Roll, also die zwei entscheidenden Medienmusiken des Radios, thematisieren in einem sexuellen Wortspiel den Tatbestand eines Betruges, einer musikalischen Erschleichung von fremdem Eigentum, ausgeführt durch Zensur und Camouflage. Indem man»jazz«nennt, was nicht Jazz ist, wird in einem Wortspiel unausgesprochenerweise verdeckt, dass Jazz niemals Jazz sein kann. Wer also glaubt, dass Jazz Jazz sei, hat gewissermaßen selbst Schuld.»Jazz«und»Rock n Roll«sind weiße Zensur-, Betrugs- und Camouflageprodukte aus musikalischen Elementen aforamerikanischer Herkunft, die nur mehr oder minder schwer verstellt hinter der geschminkten neuen Fassade hervorkommen. Jazz und Rock n Roll sind also auf ihre Art»Blackface Gags«22. Sie sind klingende schwarze Schminke auf weißer Haut, verbunden in dem Namen einer Aneignung, einer Erschleichung, die zudem im Wortspiel um die Differenz der Geschlechter und ihrer Lust sich verbirgt und enthüllt zugleich. Race Was die schwarze Musik selbst betrifft, so entstehen im Amerika der frühen zwanziger Jahre die sogenannten Race-Labels. Marshall McLuhans Wort, demzufolge das Radio der elektrische Zündfunke an der Entwicklung der Schallplatte ist, gilt für die»allblack music«, die zeitgleich mit dem Radio auf 22.Vgl. Amos n Andy, Seite 207ff.

221 JAZZ 201 Schallplatte kommt, ganz und gar nicht. Die Musik der Schwarzen, auf Platte gepresst, wird mit einem Ausgrenzungsnamen abgestempelt und nicht im Radio gespielt, jedenfalls nicht von weißen Stationen. Und fast alle Stationen sind in der Hand weißer Eigentümer. Diese entsprechenden Platten heißen jetzt ebenso schlicht und ausgrenzend»race-records«. Bis in die vierziger Jahre hinein existieren keine schwarzen Radiostationen in Amerika, also Stationen, die Schwarzen gehören und in denen ausschließlich Schwarze arbeiten. Erst 1948, im Aufschwung der Black-Movements nach dem Zweiten Weltkrieg, entsteht die berühmte Station WDIA in Memphis, in der Carla Thomas und Rufus Hayes im Chor singen und B. B. King als Diskjokkey anfängt, erst dann werden auch die Platten schwarzer Musiker häufiger eingesetzt. Diese mediale Bedingung leitet jenen berühmten Epochenwechsel mit ein, den wir das»rock«-zeitalter nennen. Bedingung des»rock«ist der»rock n Roll«, ein aber wiederum von weißen, nämlich nur von weißen Diskjockeys inaugurierter Stil, der dem»rythm n Blues«(der Blues-Records der 30er Jahre und 40er Jahre) ein weltweites Revival verschaffte und in Verbindung mit einer weißen Landmusik namens Hillbilly oder Country, den weißen Rock und Pop der sechziger und siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts bestimmte. Ab 1920 entstanden Abertausende afroamerikanischer Plattenaufnahmen auf weißen Plattenlabels, zunächst in Chicago, dann vor allem in New York, die in eigenen Registern und Hitparaden geführt werden. Bis in die vierziger Jahre hieß diese Musik schwarzer Musiker»Race«, mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde sie in»rhythm n Blues«umgetauft und heißt heute einfach»black Music«. In den 1920er Jahren waren die schwarzen Communities in den Außenbezirken der großen Städte durch Migration enorm gewachsen und bildeten einen entsprechenden Markt. Columbia, Victor und Brunswick, drei führende Plattenhersteller der Zeit, prosperieren durch ihre Race-Kataloge mit exorbitanten Umsatzgrößen. Als Bessie Smith Mitte der Zwanziger in Chicago auftritt, brechen fast Unruhen aus. Im Stolz auf ihre Musik drehen die Afro- Americans die Diffamierung um. Es war nämlich der weiße Boss von Okey- Records gewesen, der der Reihe seiner 8000 Blues-Nummern, die sein Label enthielt, den Namen»Race«gab. Andere Firmen zogen nach:»the Original Race records«, ein legendärer Serientitel des Brunswick-Labels (Shaw 1978, 4). Chicago Jazz dagegen wird im Radio gespielt, wenn und weil es Weiße sind, die Jazz spielen. Für die Entwicklung des Jazz aber ist wiederum Chicago zunächst der Schmelztiegel. Denn Chicago hat nicht nur Ghettos für Schwarze, sondern Ghettos ebenso für Juden und verarmte Russen, Slowaken und Menschen aller Nationalität. Aus einem dieser Ghettos stammt Benny Goodmann, weißer Jude aus Chicago, der Vater des Swing. Im Lincoln Garden in Chicago tritt ab 1923»The

222 202»BLUE MONDAY«,»SONG AND PATTERN«UND»JAZZ«King Oliver Creole Jazz Band«auf, ohne Bass, weil auf den Race-Schellacks der Bass sowieso nicht zu hören war.»chi-ca-go, Chi-ca-Go... that toddling town«, singen die Schwarzen auf ihren Scheiben in Chicago. Andere Schwarze, und immer mehr Musiker, toddeln in die Stadt hinein. In Chicago schießt die Auflage einer Zeitung in die Höhe, die die Marktlücke erkannt hat und sich vor allem an die neu hinzugezogenen Schwarzen richtet:»the Chicago Defender«. Im Defender findet sich der für den Treck vom Süden in den Norden passende Spruch:»If you can freeze to death in the North and be free, why freeze to death in the South and be a slave?«(5) 1920 kam Big Bill Broonzy aus Arkansas, Tampa Red aus Florida, Lonnie Jackson aus New Orleans und Roosevelt Sikes wiederum aus Arkansas, alles Blues- Gründer-Namen, die über den»rhythm & Blues«der vierziger Jahre direkt in die Blues-Revivals der 60er Jahre und damit in den Rock unserer Tage ihre Spur gezogen haben. Vorbei am Jazz und am Swing. Was wir heute Blues nennen, ist die Musik, die seit den zwanziger Jahren in den weißen Städten des Nordens von Afroamerikanern gespielt wird, die in den Norden zogen, um vor und für Afroamerikaner aus dem Süden im Norden Musik zu machen macht»king Oliver«in Chicago seine ersten Jazz -Aufnahmen im migrierten New Orleans-Stil. Benny Goodmann ist jeden Abend dort. Enge Satzführung der Bläser, kollektive, schnelle Harmoniewechsel, keine Soli. King Oliver hat nie im Radio gespielt, aber den Weg des Jazz geprägt, nicht nur, weil mit King Oliver auch Louis Armstrong, geboren in New Orleans, das erste Mal die Bühne betritt und seine spätere Frau, Lilien Hardin, in Olivers Band Klavier spielt. Ins Radio kommen aber wiederum auch nicht Armstrongs»Hot Five«und»Hot Seven Band«, sondern im Radio spielt immer noch der Star aller»potted Palm Bands«, der Star aller Hotel-Kapellen, ein weißer Bratschist namens Paul Whitemann, der so etwas wie ein Paul Kuhn des frühen amerikanischen Radios war. In seinen Arrangements beklaut und kalmiert er die Elemente der schwarzen Musik, die in den großen Städten jetzt bereits von den Schwarzen an jeder Straßenecke gespielt wird. Paul Whiteman Er bietet ein musikalisch wenig komplexes Amalgam. Man hört dieser Musik noch an, dass es die weißen Militärkapellenarrangements sind, die sich da der schwarzen Musik bedienen. Aber selbst diese harmlose Mischung von Schwarz und Weiß genügt, um eine Anti-Jazz-Hysterie losbrechen zu lassen. Whiteman selbst nennt seine Musik»Syncopated Dance Music«. Jazz nämlich ist ungesund und unmoralisch, tönt es über den Sender WJZ Newark. Einige Stationen verbieten sogar jeglichen Gebrauch von Saxophonen in ihren Programmen, weil man Saxophonen einen»unmoralischen Einfluss«zuspricht (131).

223 JAZZ 203 Aber in der Mischung, wie Whiteman sie bringt, wird die Sache akzeptiert. Schließlich steht sein Name für die Sache des Weißen Mannes schlechthin. Als WJZ nach New York umzieht, inzwischen im Eigentum der RCA, und auch dort ein großes schönes Konzertsaalstudio gebaut wird, engagiert man wiederum Paul Whiteman, der das Radiokonzert bestreitet und zwar mit der Uraufführung von George Gershwins»Rhapsodie in Blue«. Um es deutlich zu sagen: Der Jazz als Jazz ist keine schwarze Erfindung, sondern eine, in der weiße Musiker, an der Harmonik des europäischen Abendlandes geschult, schwarze Song- und Sound- Elemente schonungslos adaptieren. Und zwar für den Zweck, die Interkommunikation eines neuen Mediums, nämlich des Radios, für einige Stunden mit Programm zu füllen, während die Schwarzen sich aus den Pfandhäusern und Second Hand Shops die ausgedienten weißen Instrumente, verbogene Trompeten, Posaunen, Klarinetten und Saxophone borgen werden, um mit den übrig gebliebenen, eingeschränkten Tonumfängen ihre Musik zu machen. So setzte sich ehemals die Musik aus New Orleans zusammen. Arme-Leute-Musik. Auf dem Migrationsweg der Schwarzen von Süd nach Nord, den Hunderttausende Jahr für Jahr in Amerika gehen, eignen sich weiße Musiker mit der ganzen Macht ihrer wohltemperierten Harmoniekunst für das neue Medium Radio Stück für Stück die Elementarbestände afroamerikanischer Soundkunst an. Formgebend, und zwar musikalisch, ist auch die Übertragungstechnik. In dem Schmelztiegel von weißer und schwarzer Musik, von Militärkapellen, Operettencouplets, Ragtime, Fox und Blues, kommt es zu genau der Instrumentierung, die für die Mikrophone und die Mittelwelle die geeignetste ist. Was hören wir nicht? Akustische Gitarren oder einen Contrabass oder die verschiedenen größeren Trommeln des Schlagzeugs. Was hören wir gut? Eine Bass-Tuba, die Klarinette, eine gedeckte Trompete, das schwarze Banjo, zwei Saxophone, das Klavier natürlich und den durchgehend tonstarken Gesang eines Baritons. Diese Instrumentierung um seine Stimme herum, genannt»the Wolverines«, bildet das ideale Backing des sanft singenden Bing Crosby. Er wird zum ersten wahrhaftigen Gesangs-Star des Radios,»America's New Singing Sensation«, Vorbild aller kommenden weißen Frank Sinatras und schwarzen Nat King Coles. Bing Crosby Warum wurde Bing Crosby ein Star des Radios? Aufgrund der mangelnden Mikrophontechnik, die Stimmen, wie die seine, stark begünstigte. Bis 1926 kennt man in Amerika eben nur das telefonmäßig klingende Kohle-Carbon- Mikrophon, erst ab 1926 werden die ersten Röhrenmikrophone entwickelt, also das, was wir heute das Kondensator-Mikrophon nennen, das eine höhere Frequenzbreite an Stimmen übertragen kann. Bing Crosby macht eine zweifache Neuschöpfung populärer Musik, die vom Radio induziert ist. Erstens kreiert er eine neue Radio-Singstimme, den weichen, zum Tenor tendierenden Bariton,

224 204»BLUE MONDAY«,»SONG AND PATTERN«UND»JAZZ«und zweitens verwendet er Songstrukturen, die das Neue im Radio, nämlich ethnische Vermischung der Musikstile, thematisieren. Noch 1926 spielen weder WGN noch WMAQ, die Chicagoer Stationen, die schwarzen Platten aus den schwarzen Suburbs, noch übertragen sie schwarze Bands, die doch so zahlreich in der Stadt auftreten. Als sich 1927 in der»national Broadcasting Company«und seiner»red-chain«, Dutzende Radiostationen vereinigen, die von der Kopfstation WEAF in New York ihren Programm- Mantel erhalten (einige Stunden täglicher Sendezeit), kehren viele schwarze Musiker Chicago den Rücken und pilgern nach Harlem, New York. In Harlem waren nämlich Blackface Acts neuer Art entstanden. Gemeint sind die»offlimits Nightclubs«, die vornehmlich oder ausschließlich weißes Publikum einließen und in denen andererseits vornehmlich und ausschließlich schwar-ze Bands auftraten. Eine in den USA traditionsreiche Praxis, denn die zahllosen Vaudeville-Theater, die schon im 19. Jahrhundert entstanden waren, hatten es nicht wesentlich anders gemacht: schwarze Künstler vor weißem Publikum. So können sich jetzt, Ende der 1920er Jahre, noch einmal Weiße, Gangster, Gauner, Zuhälter, Börsenmakler und das hippe Stadtpublikum Manhattans für sündhaft teure Preise an der Crazyness der neuen»jungle-music«ergötzen. Damit allerdings geschieht etwas Neues und zweierlei wird möglich: erstens die Übertragung schwarzer Kapellen und ihrer afroamerikanischen Migrationsmusik nun auch in weißen Radiostationen; zweitens die legendären Auftritte und damit der Start der legendären Karriere eines schwarzen Butlersohns aus Washington mit dem Namen Duke Ellington. Man nennt ihn»sir Duke«, und er spielt erstmals mit seiner Band im»cotton Club«am 4. Dezember 1929, live übertragen im Radio. Duke Ellington Ellingtons Cotton-Club-Auftritte wirken wie ein Dammbruch in der radiomusikalischen Entwicklung Amerikas. Jede Nacht um Null Uhr schalten WEAF und damit die gesamte Red-Chain von NBC Amerika in den Cotton-Club nach Harlem. Das verändert das kulturelle Gefüge der USA. Nicht nur, dass nunmehr die halbe Nation an einem sündhaft teuren Vergnügen teilhaben kann. Nicht nur, dass sich die halbe Nation belustigen kann über»harmonika-charlie«, der ganz zwischendurch mal, für eine halbe Minute, einige originale Blues- Riffs blasen darf. Nicht nur, dass die Schwarzen unter Ausschluss aller Schwarzen jetzt im Radio auftreten dürfen, damit Millionen von Schwarzen sie an ihren Rundfunkgeräten hören können, ein Betrug, der sich sozusagen für alle Seiten zu lohnen scheint. Nicht nur, dass jetzt das Tor aufgestoßen wird für das Kapitel, das zwei Jahre später von Fletcher Henderson, dem Schwarzen, und Benny Goodman, dem Weißen, eröffnet werden wird mittels einer ähnlichen Übertragungsserie von Konzerten, die aus Los Angeles kommt, 1935, und den Swing um die ganze Welt schickt. Ab jetzt, mit einem umgekehrten Betrug, mit einem

225 JAZZ 205 vertauschten Blackface -Trick, werden in Amerika schwarze Musiker populär. Ab jetzt kommt niemand mehr um sie herum. Sie beginnen mehr und mehr ihr Land zu repräsentieren. Louis Armstrong wird einer der ersten sein, der diese Chance nutzt und bereits Anfang der 30er Jahre seine erste Europa-Tournee absolviert. Seit 1927 auf NBC: das erfolgreichste Serial der amerikanischen Radiogeschichte, eine Hörspiel-Comedy-Serie mit über 4000 Episoden in mehr als dreißig aufeinanderfolgenden Jahren. Ich werde auf dieses Serial gleich zu sprechen kommen. Aber vorweggeschickt sei, es ist eine Comedy, in der zwei schwarze Serienhelden ihre Migrationsgeschichte spielen, aber gespielt werden sie von Weißen. Die Schnittstelle zwischen»amos n Andy«, dem weißen»blackface Gag«als Anfang, Urbild und Vorbild aller Serials des amerikanischen Radios, und Duke Ellington, dem Musiker der jungen schwarzen Generation von 1930, wird ein Film des Jahres 1930 sein, nämlich»check and Double Check«, der erste»amos n Andy«-Film, mit dem»andy«charles Correll und»amos«freeman Gosden ihre tägliche Millionen-Zuhörerschaft zur Kasse bitten wollen. Duke Ellington, der reale»blackface Act«im weißen»off Limit«Cotton Club in Harlem, wo er nur vor weißen Besuchern spielen darf, schreibt für diesen Film, in dem zwei Weiße zwei Schwarze spielen, die Musik. Paradox genug wird er in seiner Biografie später schreiben, dass dies der»crowning Point«, der krönende Punkt in seiner Karriere gewesen sei (Ely 1991, 167). Tatsächlich bestehen zwischen Duke Ellington, der schwarzen Jazz qua Radioübertragung aus einem weißen Club gesellschaftsfähig macht, und jener weißen Comedy-Show, die Schwarze simuliert und, wie wir sehen werden, dem Radio als Massenmedium zum Durchbruch verhilft, seltsame strukturelle Parallelen. Für die US-amerikanische Kultur des 20. Jahrhunderts scheint in der Tiefenstruktur eine Art Selbsttäuschung konstitutiv zu sein: nämlich die Selbsttäuschung der jeweiligen Ethnien über sich in der Täuschung der jeweils anderen. Diese Struktur führt zur Ausbildung des Jazz einerseits, der niemals weder eindeutig schwarz noch eindeutig weiß sein wird, und andererseits zur Ausbildung des amerikanischen Radios, das bis auf den heutigen Tag weder eindeutig weiß noch eindeutig schwarz ist; sondern eben so, wie sich seine allermeisten Akteure verstehen as Americans.

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227 Die Serials Das amerikanische Radio hat von 1926 bis zum Durchbruch des Fernsehens um Hörfunk-Serials, also 6000 verschiedene Hörfunk-Serienhörspiele und serielle Showformen hervorgebracht, jedes einzelne von ihnen mit Hunderten, in manchen Fällen mit Tausenden von Einzelepisoden. Nach der»song n Pattern«-Epoche, die sich auf eine spezifische Weise in den Musikneuschöpfungen des Radios fortsetzt, zumal in der Kreation der Radiomusik namens»jazz«, ist die»serial«-epoche die zweite, in der das Massenmedium Radio in den USA zur Entfaltung kommt. In Deutschland erschien Anfang der 1990er Jahre die letzte einschlägige Monografie zum Thema, Eckhard Breitingers»Rundfunk und Hörspiel in den USA«(1992). Am Maßstab eines immanent normativen Begriffs des Literarischen und des auf ihm gründenden deutschen Literaturhörspiels der 50er und 60er Jahre drischt Breitinger auf die kommerzielle Radiokultur der USA der 30er und 40er Jahre ein, weil sie durch Sponsoring und Werbung finanziert wurde. Ideologisch und sachlich fiel Breitinger damit schon damals hinter die amerikanischen Forschungen der späten 30er Jahre zurück, wie sie von Hadley Cantril, Paul Lazarsfeld oder Rudolf Arnheim vorgelegt wurden. (Douglas 1999, 142ff). Nach Breitingers Buch gibt es keinen ernsthaft deutschen Forschungsstand zum Thema, und die inzwischen sehr reichhaltige amerikanische wissenschaftliche Literatur zum Thema ist hierzulande kaum bekannt (Sterling 1990; Ely 1991; Hilmes 1990, 1993, 1997, Douglas 1999.) Die Tatsache, dass man sich gegen geringe Gebühren seit Jahren Tausende (!) von Serial-Episoden aus dem Internet besorgen kann, hat offenbar niemanden zu neuen Forschungen veranlasst. Warum das amerikanische Hörspiel bei uns erstens nicht wirklich bekannt und zweitens noch weniger Gegenstand ernsthafter Analysen wurde, bleibt rätselhaft, auch wenn im Folgenden ein paar subtextuelle Fingerzeige für eine mögliche Antwort gegeben werden. AMOS N ANDY Zumindest die Vorgeschichte des Serials aller Serials hätte auch Garrison Keillor erzählen können, wäre sein Roman über die Frühzeit des US-Radios (»Radio Romance«) nicht fiktiv geblieben. Es geht um die Genesis des ersten Serien-Hörspiels der amerikanischen Radiogeschichte,»Amos n Andy«; erste Sendung 1925, letzte Sendung 1955, über 4000 Einzelepisoden in dreißig Jahren.

228 208 DIE SERIALS»Songbirds«Das Besondere an diesem Serial ist nicht allein seine Pionierfunktion in Bezug auf das Genre; nach seinem Vorbild werden Tausende von täglichen oder wöchentlichen Soaps und Shows entstehen.»amos n Andy«ist vielmehr die Radioserie, die von Beginn an mit der ethnischen Differenz zwischen Schwarz und Weiß in den USA auf besondere Weise spielt. Amos und Andy sind zwei schwarze Boys, aber geschrieben, gespielt, gesprochen und dargestellt wird ihre Geschichte von zwei weißen Schauspielern: Freemann Gosden und Charles Correll. In aller Kürze zu schildern, wie es dazu kam, resümiert noch einmal die typischen ersten Entwicklungsstufen des amerikanischen Radios. Gosden Freeman Fisher Gosden, geboren 1899, stammt aus dem tiefen Süden der USA, aus Richmond, Virginia. Sein Vater hatte im Bürgerkrieg in der»virginia Cavalry«den Yankees aus dem Norden blutige Schlachten geliefert. Sohn Freeman ist gerade 18 Jahre alt, als die USA in den Ersten Weltkrieg eintritt. Er arbeitet als Funker und kennt das Radio von daher so gut wie jene Hunderttausende von technischen Amateuren, die der Erste Weltkrieg an alle Fronten der Welt entlässt. Freeman ist zudem ein begabter Laiendarsteller, passabler Sänger und auf allen Army- oder Benefit-Bühnen wegen seiner außerordentlichen Begabung beliebt: Er kann den tief-schwarzen afroamerikanischen Südstaaten- Slang imitieren wie kein zweiter. Hier kommt noch einmal der Vater und Kavallerie-Offizier ins Spiel. Denn die Gosdens, Südstaatler aus Leidenschaft und Überzeugung, hatten gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen schwarzen Jungen namens Garret an Kindesstatt angenommen. Mit ihm war Freeman aufgewachsen wie mit einem Zwillingsbruder und lernte so perfekt den Südstaaten-Slang der Afroamerikaner sprechen, als sei er Mitglied der Black Community. Das fällt auch einem Unterhaltungs-Unternehmer namens Joe Bren auf, der kleinstädtische und dörfliche Feste mit Schauspielern und Hilfsregisseuren beschickt und nach dem Krieg Gosden unter Vertrag nimmt. Correll Charles James Correll, geboren 1890, entstammt einer Arbeiterfamilie aus dem Mittelwesten, Illinois. Wie Gosden ist auch Correll ein leidenschaftlicher Fan des Vaudeville-Theater (Sketche, Varieté, Zauberei, Moritaten etc.), leidlich schauspielerisch begabt und ein guter Klavierspieler, so dass auch er vom Unterhaltungsunternehmer Joe Bren angeheuert wird. Dieser Bren macht sein Geschäft mit mobilem Vaudeville-Theater, das über die Dörfer und Kleinstädte zieht und lokale Shows veranstaltet. Die Radio-Forscherin Elisabeth McLoed hat die Umstände erforscht.

229 AMOS N ANDY 209»Brens Produktionen waren in der Regel von Handwerksinnungen gesponsert, Maurer, Schreiner und Zimmermänner waren seine besten Kunden. Die Shows folgten stets dem Standard Minstrel -Format: Die Eröffnung machte ein singender Minstrel -Chor (Sänger vor Ort gemischt mit Bren-Angestellten), gefolgt von einer Comic-Einlage zwischen dem End Man der Minstrel-Truppe und dem Interlocutor, dem Conferencier des Abends. Diesem Teil folgte eine durchgehende Serie von kurzen Musikdarbietungen, und den Abschluss bildete ein breit ausgespielter Comedy-Sketch mit der ganzen Truppe. Die Bren-Unternehmungen waren gewöhnlich sehr groß angelegt, wobei es darum ging, soviel Laiendarsteller wie möglich vor Ort mit in den Minstrel-Chor einzubinden. Nur der End Man war dann in Minstrel-typischer Weise geschminkt, schwarzes Makeup auf weißer Haut, überbetonte Augen, wulstig herausgemalter Mund. Aus den wenigen Unterlagen, die sich erhalten haben, geht hervor, dass Brens Produktionen zwar durchaus klassische Minstrel-Charaktere wie den Jefferson Snowball -Typ auf die Bühne brachten, der allen die Hühner klaut, aber mehr noch dem Dünkel der neuen schwarzen und weißen Mittelschicht aufs Maul schaute, die wegen ihrer falschen Aussprache von Fremdworten und deplazierter Literaturzitate leicht auf den Arm zu nehmen war«(*mcloed 2001). The Harmony Boys Correll und Gosden, beide bei Bren angestellt, lernen sich kennen, haben durch die Arbeit bei Bren so ziemlich das gesamte Repertoire an Vaudeville-Nummern drauf und beschließen 1924, nach dem großen Vorbild der besagten»happiness Boys«, im Radio Karriere zu machen.»song n Pattern«à la Happiness Boys hatte zumindest diese beiden (Bill Jones und Ernie Hare) 23 bereits durchs Radio populär gemacht und durch Plattenaufnahmen zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Von hier an wären wir wieder in Keillors Roman; denn Gosden und Correll heuern zunächst bei einem Radiosender an, der einer Backpulver-Firma gehört (WQJ, Chicago), wechseln dann in das vornehme»edgewater Beach Hotel«am Michigan-See-Strand, das ebenfalls einen eigenen Radiosender betreibt (WEBH). Sie nennen sich»the Harmony Boys«und dann»the Two Songbirds«(Hilmes 1993, 305). Abend für Abend eine viertel- oder halbe Stunde lang plätschern sie ihre Geschichtchen daher und dahin wie alle anderen auch. Victorola Records wird auf sie aufmerksam und macht mit ihnen erste Plattenaufnahmen. Ihre Song -Sendung wird schnell populär, so dass sie im September 1925 ein Angebot vom größten Sender in Chicago bekommen, WGN. Dem Besitzer gehört auch die»chicago Tribune«, die größte Tageszeitung am Ort. Die Zahl der Stationen landesweit war auf gut 700 angestiegen und Chicago war eines der frühen Radio-Zentren im Land mit gut zwanzig Stationen. Aber viele dieser Sender sendeten nur wenige Stunden am Tag, und überließen getreu dem Radio-Telefonie-Paradigma die Frequenz dann wieder anderen; was für die Hörer allerdings ein Durchfinden durch dieses»radio-dickicht«nicht eben 23.Vgl. Song n Pattern, Seite 196ff.

230 210 DIE SERIALS einfacher machte kamen die Stations-Eigentümer überein, an jedem Montag der Woche eine»silent Night«einzurichten.»Keiner sendete, so dass die Chicagoer die Radioskala absuchen konnten nach weiter entfernt liegenden Sendern ohne von den lokalen Stationen gestört zu werden«(ely 1991, 49). Radio-Comic Correl/Gosden alias Harmony Boys alias Songbirds senden auf WGN von halb Neun bis halb Elf jeden Abend (außer Montags). Es versteht sich von selbst, dass in dem Frequenz-Getümmel Mitte der 1920er Jahre ein Radiounternehmer nach dem Clou sucht, der seiner Station vor allen anderen ein ultimatives Programmangebot sichert. Es musste, wie alles im Radio aus der amerikanischen Frühzeit, seriell sein, also regelmäßig wiederkehrend, wiederauffindbar um die gleiche Zeit an der gleichen Stelle. Ihr neuer Arbeitgeber, Ben McCanna, schlägt ihnen vor, was Zeitungsleute, wenn sie Radio machen, immer vorschlagen, nämlich erfolgreiche Zeitungs-Formen zu kopieren. Eine der erfolgreichsten Innovationen der»tribune«waren ihre Comic-Serien.»Tribune«-Besitzer Robert McCormick hatte den Urvater aller amerikanischen Comic-Serien schon 1917 unter Vertrag genommen (Robert Sidney Smith) und schlug nun vor, dass Gosden und Correll dessen überaus erfolgreiche Serie»The Gumps«, an der er alle Rechte hielt und an zahllose andere Zeitungen in der Welt schon verkauft hatte, nun auch für das Radio umzusetzen. Gosden und Correll lehnten ab, boten aber im Gegenzug an,»eine Comedy- Serie über zwei schwarze Charaktere zu entwickeln. Gosden wusste, wie gut er die Afro-Americans seines Landes kannte, und die Karriere der beiden Männer von 1920 an hatte sie für nichts besser vorbereitet als dafür, komische schwarze Rollen zu spielen. Die zahllosen Darstellungen von Schwarzen, die sie auf Vaudeville-Bühnen gesehen, in Skripten gelesen oder schon selbst auf der Bühne gegeben hatten, machte für sie ein Axiom gültig, das ihr ganzen Leben lang halten sollte: Wir wählten damals schwarze Charaktere, sagt Gosden ein halbes Jahrhundert später, weil Blackface einfach lustigere Geschichten erzählen können als Whiteface -Comics«(in *Ely 1991, 54). Gosden und Correll sind in dem konservativsten (um nicht zu sagen: reaktionärsten) Verlagshaus der ganzen USA gelandet. McCormick nannte sein Blatt»The American Paper for Americans«, hasste Demokraten, Briten und Franzosen, wird später gegen den New Deal anschreiben und die Kampagnen des Senators McCarthy unterstützen. Keine Frage, dass ein»blackfacing«-radio-comic, von Weißen geschrieben und dargeboten, in diesem Hause gut untergebracht ist. Am 12. Januar 1926 titelt die»chicago Tribune«auf ihrer Unterhaltungsseite in eigener Sache:

231 AMOS N ANDY 211»The funniest ten minutes ever are in store for radio fans this evening with the first appearance over W-G-N., The Chicago Tribune station on the Drake hotel, of Sam n Henry the two characters in the station's new radio comic strip«. Bereits im ersten Jahr ist der Erfolg so überwältigend, dass schon bald das erste Buch mit Orginal-Skripten erscheint. Gosden und Correll werden bis weit in die vierziger Jahre hinein alle Skripte mit eigener Hand in die Maschine tippen und zwar in einer selbstentwickelten Lautumschrift ihrer (auf Deutsch unübersetzbaren) Slang-Diktion: (Sam und Henry sind in Chicago angekommen und versuchen, bepackt mit allem Gepäck, ihre erste angebliche Arbeitsstelle zu erreichen)»sam. Henry, dis looks like de place heah? Henry. Didn't de man jes' tell you dat it was right on dis cornah? Sam. How you gonna git all dem boxes in dat do' goin' 'round like dat? Henry. Heah. carry some o' dese packidges o' mine till we git inside de do'. Sam. Let's wait till dat do' slows down a little bit. Dat thing's goin' 'round like a buzz saw. Henry. Come on, git in dere now-it's gonna slow down. Sam. Heah I go Henry-git in dat nex' openin' now.... Did you git through alright, Henry? Henry. You see me heah, don't you-i must-a got through dere alright. Sam. Let's axe dat man over dere by de elevatohs whar de Chicago 'struction Company is. Henry. Go on-axe de man how to git dere. Sam. Say Mistah, how do you git to de Chicago 'struction Company? Elevator Man. Sixteenth floor-take car number three. Sam. Thank you sah. Henry, de man says sixteenth flo', cah numbah three. Henry. We kain't go up dere wid all dese heah boxes. Axe de man if we kain't leave dese boxes heah till we come back. Sam. You go on axe him Henry-I done axe de man one question. Henry. How I goin' axe de man when I got all dese heah boxes heah?«(correll 1926, Chapter 5) Gemessener Erfolg»Sam n Henry«heißen ein Jahr später»amos n Andy«, weil die stock-konservative»tribune«sich von vorneherein alle Rechte gesichert hat, Gosden und Correll miserabel bezahlt und ihnen die Weitergabe ihrer Show an andere Sender im Land verbietet. Gosden und Correll verlassen die Station und setzen ihre Shows beim größten Konkurrenten WMAQ, Chicago, fort, unter einem neuen Namen und diesmal ohne alle Rechte abzugeben. Dem Riesenerfolg tut die erzwungene Namensänderung keinen Abbruch. Gemessen wird der durch regelmäßige Quotenmessungen über Telefon, die ab den späten zwanziger Jahren üblich werden: zunächst durch das sogenannte»recall«-verfahren der Firma von Archibald Crossley, wenig später durch das Verfahren der Firma»Clark-Hooper«, die zeitgleich während der Sendungen die

232 212 DIE SERIALS Hörer befragte. Nach beiden Verfahren hatten»amos n Andy«bis etwa 1935, wo immer die Show auch gesendet wurde, stets die höchsten Quoten. (Douglas 1999, 136ff.) In den 30er Jahren, als die Show über alle Stationen läuft, die dem NBC-Network angeschlossen sind, werden Schichtzeiten von Fabriken, Anfangszeiten von Filmen und Einkaufszeiten so gelegt, dass abends um sieben Uhr eine Viertelstunde»Amos n Andy«gehört werden kann hatte die Show alltäglich etwa 40 Millionen Zuhörer. Daneben touren Gosden und Correll, vor allem in den Anfangsjahren, im Land herum und treten, geschminkt wie»minstrel«-schauspieler, in überfüllten Sälen auf. Die kurzatmigen Comic-Pointen ihrer Geschichten treten dabei mehr und mehr in den Hintergrund. Zufall oder nicht: Gosden und Correll haben einen zentralen»plot«der amerikanischen Kulturgeschichte zu ihrem Thema gemacht, nämlich die Immigration der Fremden in die Nation. Dabei geben sie ihren beiden Figuren ein stimmlich so stimmiges Gesicht, dass aus der kurzen Comic-Idee mehr und mehr eine Saga wird. Abb. 27 Freeman Gosden und Charles Correll 1938 Von Atlanta nach Harlem Amos und Andy erzählen die Geschichte der afroamerikanischen Völkerwanderungen quer durchs eigene Land. Die Nation der USA entstand über die Jahrhunderte aus der millionenfachen Einwanderung fremder Völker in das Land ihrer Zukunft. Gosden und Correll erzählen einen wichtigen Teil dieser Geschichte noch einmal, und zwar den, der ihre unmittelbare Gegenwart betrifft. Ihr Plot ist die Geschichte der Wanderschaften der Schwarzen aus dem Süden des Landes in den Norden, vom Mississippi-Delta nach Chicago, von Louisiana nach Detroit, von Virginia nach Cleveland, von Georgia nach Michigan. Diese Verpflanzung von Millionen von Menschen war eine Folge des Bürgerkriegs und erstreckte sich über Generationen bis in die 30er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein. Das heißt, sie ist, als die Serie läuft, immer noch im Gange.

233 AMOS N ANDY 213 Gosden kennt diese jüngste Geschichte seines Landes schon aus seinem Elternhaus, inklusive aller Tragik in den Einzelschicksalen. Er kennt die Afro-Americans, die aus dem Süden, aus Richmond zum Beispiel, nach Chicago ziehen, gut. Zu Hunderttausenden wurden sie im Zuge der rasanten Industrialisierung des Nordens als billige Arbeitskräfte gebraucht. Sie kämpften bereits im Ersten Weltkrieg als einfache Rekruten im europäischen Expeditionschor und werden im Zweiten Weltkrieg als reguläre Einheiten bei der Invasion in die Normandie ihr Leben lassen. Die Afro-Americans, um die es geht, bilden seit dem Bürgerkrieg das Rückgrad der Entwicklung der Zivilisation in den USA und gleichwohl fallen doch erst in den 50er Jahren alle offiziellen Schranken der amerikanischen Apartheid. Rap und Hip & Hop erzählen uns bis auf den heutigen Tag von der tatsächlichen Geschichte, die weit davon entfernt ist abgeschlossen zu sein. In vieler Hinsicht ist»amos n Andy«also ein Serial, das von Anfang an eine, wenn nicht sogar die amerikanische Geschichte erzählt. Das besondere und zugleich Typische an dieser Geschichte ist die fundamentale Verdrehung, mit der sie von Beginn an daherkommt. Amos und Andy kommen von Atlanta (Georgia) über Chicago nach Harlem. Dort stranden sie, Anfang der 1930er Jahre, wie Hunderttausende andere auch. Amos Jones und Andrew H. Brown betreiben im schwarzen Viertel New Yorks eine»fresh Air Taxi Company«, die so heißt, weil ihrem klapperigen Wagen die Windschutzscheibe fehlt. Andy ist der solide, geschäftsmännisch operierende Part des Pärchens, der, der dazugehören möchte zu der mehr und mehr in die Gesellschaft hineinwachsenden, sauberen Middle-Class. Auf der anderen Seite Amos, der Immer-Noch-Fool, immer noch Bauern-Lümmel und Faulpelz mit Riesenschnauze, nur auf Spaß und Vergnügen aus und stets hinter den Frauen her. Mit heller, hysterisierter Stimme, kurz an der Kreischgrenze artikulierend, fällt er über jeden sprachlichen Stolperstein, den das Großstadtleben ihm hinlegt. Andy dagegen, sonor tönend, alles zu überblicken behauptend, in der Sache oft haarscharf daneben, aber ganz nah ins Mikrophon förmlich kriechend, um im nächsten Augenblick, mit einer kleinen Bewegung weg vom Mikrophon, jede beliebige andere Person der Handlung spielen zu können. Im Laufe der Serial-Zeit kommen zahllose andere Charaktere hinzu. Beispielsweise»Georges Stevens«(von Amos gesprochen), ein schwarzer Hausbesitzer, genannt»kingfish«, der ununterbrochen zu irgendwelchen zwielichtigen Geschäften aufgelegt ist, Andy Stücke von der Brooklyn Bridge für teures Geld verkauft oder Autos ohne Motor. Dann (um bei den Langzeit-Charakteren zu bleiben)»lightnin«, der Hausmeister,»William Lewis Taylor«, der schwarze Unternehmer und seine hübsche Tochter»Ruby«. Kurz: Amos und Andy alias Gosden und Correll verkörpern die ersten anderthalb Jahrzehnte nicht nur sich selbst, sondern annähernd 100 verschiedene afroamerikanische Charaktere aus diesem fiktiven schwarzen Harlem einer fiktiven, ausschließlich schwarzen Welt, in die die Vereinigten Staaten höchst ironisch hineingespiegelt sind.

234 214 DIE SERIALS Minstrel Gosden und Correll bringen ihren Plot aus den»minstrel«-gags der Vaudeville- Shows herüber. In den Minstrel-Shows schminkten sich Weiße schwarze Farbe aufs Gesicht und überzeichneten ihre Lippen fingerdick. Diese Tradition reicht weit bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück. Im Minstrel lachen die Ethnien überund untereinander und zwar mit stilisiertem, rituell überwachtem Respekt. Schwarze spielen durchaus mit und sitzen, wenn auch separiert, im Publikum. Vaudeville folgt man den kulturwissenschaftlichen Forschungen Eric Lotts ist alles andere als bloßer Slapstick, Varieté, Zauberei, Minstrel und Song n Patter, sondern die erste große kulturelle Integrationstheatralik des Vielvölkerstaats der USA von der Mitte des 19. Jahrhunderts an (Lott 1995). Nach drei Generationen wird Vaudeville, mit seinen zahllosen Bühnen und umherziehenden Schauspielertruppen, im Radioboom und in dem Boom des Kinos der zwanziger Jahre untergehen und nie wieder erwachen. Vaudeville kennen Gosden und Correl aus ihren Jugendtagen und so haben sie ihr Repertoire sozusagen intus. Im Radio angekommen drehen sie, ursprünglich für eine kurze Comic-Serie im Radio, die Verstellungs- und Vertauschungskomödien des Minstrel-Vaudeville um eine wahrhaft fundamentale Medien- Windung weiter. Denn im Radio gibt es keine schwarz angemalten Gesichter. Man sieht nichts und alles muss mit der Stimme erwirkt werden. Allein schon der Südstaaten-Dialekt erzählt eine Geschichte, die, wie in den besten Minstrel- Plots, eine gemeinsame von Schwarzen und von Weißen ist. Blackfacing Blacktalking Daraus ergibt sich der nächste Schritt der Selbstreferentialität, nämlich eine Oszillation der Serialitäten des alltäglichen Hörens und des alltäglichen Sendens. Das Radio wird zum Partner der elementaren und linearen Rhythmen und Prozeduralitäten des Lebens in den Großstädten und skandiert ganz simpel, dass morgen auch wieder ein Tag ist. Das»Cliffhangig«, also die Pointenverschiebung und ihre verzögerte, auf die nächste Folge vertagte Auflösung in den Episoden von»amos n Andy«skandiert das sehr alltägliche Cliffhanging des täglichen Lebens. Die These, dass sich Programmformen der elektronischen Massenmedien autopoetisch und selbstreferentiell entwickeln, hätte der Serial-Form des US-Radios abgeschaut werden können, also dem täglichen Hörspiel, das»amos n Andy«begründen. Der programmierende Vorgang ist faktisch erzwungen. In einem Serial, in dem keine Episode für sich steht, sondern semantisch stets auf seine Vor- und Nachläufer-Episoden verweist, ist Selbstbezüglichkeit und Rekursivität schon strukturell verankert. Correl und Gosden sind im Radio und reden ungeschminkt, denn ihr Blackfacing ist ein rein stimmlich dialektales Blacktalking, und es erzählt: die Geschichte der Vertreibungen, der Wanderungen, der Trecks und der Irrfahr-

235 AMOS N ANDY 215 ten der Schwarzen quer durch Amerika. Auch die Serialität des»amos n Andy«Plots ist schon im Ansatz selbstreferentiell, weil die Geschichte der Wanderungen der Afroamerikaner in sich selbst die Geschichte einer ursprungslosen Wanderung ist. Insofern kommt hier nichts an ein Ende. Im Chicago der 20er Jahre, also im Chicago der Radiohörer von»amos n Andy«, ist der Plot des Serial Alltag. Neben dem Effekt der Wiederholung, neben der Struktur der Serialisierung und Rhythmisierung, die nur wiederholt, was das Wiederholte verspricht, kommt ein weiteres, kulturell spezifisches Moment der Täuschung hinzu, das es nur in dem Staat der vielen Ethnien geben kann, in diesem Neuen Amerika. Die Nation wird zwar im 20. Jahrhundert zur absolut führenden Weltmacht aufsteigen, aber hat, bis auf den heutigen Tag, ihr tiefstes soziales und kulturelles Problem nicht gelöst, nämlich den sozialen Gegensatz zwischen den unterschiedlichen Ethnien und insbesondere den zwischen Afroamerikanern und Weißen. In den Städten der USA sind die»gated Communities«entsprechend segregiert, und es herrscht eine»spatial Governmentality«, um die Stichworte der neueren kultursoziologischen Diskussion zu zitieren, die konkret nur besagen, dass man als Weißer bestimmte Stadtteile in Detroit besser nicht betritt. Unausgesprochene räumliche Trennungen (»Ethnic Zoning«) innerhalb der Städte und Vorstädte, um Ethnien voneinander zu trennen, haben in den USA, wie in keinem europäischen Land in dieser Form, eine lange Tradition. Amos und Andy aber spielen in einem Medium, das kein»zoning«kennt. Sie spielen zwar mit mentalen Zäunen, mit ihren Vorurteilen und denen anderer, die die Ethnien für den Erhalt ihrer jeweiligen Identitäten aufbauen. Aber sie spielen eben auch vor und hinter dem Zaun zugleich, sie spielen mit Täuschungen, nämlich sowohl damit, dass sie selbst eine sind, als auch mit den Täuschungen und Enttäuschungen des alltäglichen Lebens. Nur dadurch, dass sie selbst die Täuschung niemals aufheben, als Weiße Schwarze zu spielen, und in ihren Stücken niemals einen Weißen vorkommen lassen, versuchen sie, in der Unsichtbarkeit des Radios den tatsächlichen Rassismus ihres Betruges in Ironie wieder aufzulösen. Das Spiel der Betrogenen Andy und Amos sind zumindest in Correll und Gosdens»Amos n Andy«immer die Dummen, stets die Betrogenen, die sie als diskriminierte Ethnie in einer weißen Stadt ohnehin schon sind. Sie machen sich Hoffnung auf eine neue schöne Welt und fallen immer wieder auf die Tricks der Illusionisten herein. Aber die beiden Schwarzen in»amos n Andy«sind die doppelt Betrogenen. Correll und Gosden, die weißen Schöpfer des Daytime Serial»Amos n Andy«, die über Jahrzehnte die alleinigen Schreiber und Präsentatoren sind, stellen ihre schwarzen Kunstfiguren nicht nur als die Betrogenen hin, sondern betrügen sie noch einmal. Sie geben Ihnen, im Slang, im Charakter ihrer Redeweisen, im Ton

236 216 DIE SERIALS der Überheblichkeit, der sich seitens der Weißen dagegen aufrichtet, sozusagen auch noch selbst die Schuld daran, so zu sein, wie sie sind. Darüber, was die Weißen in der Maske der Schwarzen spielen, kann man sich nur amüsieren, ein Amüsement auf Kosten der Anderen, die eine andere Rasse sind; ein gefährliches, rassistisches Amüsement. Protest Auf dem Höhepunkt des Erfolges von»amos n Andy«im Jahr 1930 veröffentlicht W. J. Walls, der Bischof der»african Methodist Episcopal Zion Church«, einen geharnischten Protestbrief im Namen seiner schwarzen Brüder: Die Serie fokussiere ausschließlich die Schattenseite des»black life«und diskriminiere so einen ganzen Volksteil. Der (weiße) Inhaber des»pittsburgh Courier«, einer Wochenzeitschrift, die überwiegend schwarze Leser hat, schließt sich diesem Protest 1931 an und sucht seine Leser um Unterschrift unter folgende Resolution:»WANTED: Eine Million Unterschriften als ein nationenweiter Protest gegen»amos n Andy«. In Anbetracht dessen, dass seit mehr als einem Jahr zwei weiße Männer, der Radiowelt als»amos n Andy«bekannt, verschiedene Typen des American Negro ausbeuten, und zwar zu rein kommerziellen Zwecken für sich und ihre Arbeitgeber; In Anbetracht dessen, dass die Bezüge, die zu den Schwarzen gemacht werden von solchem Charakter sind, dass sie diametral dem Selbst-Respekt und dem generellen Ansehen der Schwarzen in den USA und überall sonst zuwiderlaufen;, dass auch die Rolle der schwarzen Frauen der Welt über Rundfunk so wiedergegeben wird, als bestehe sie nur in Gefügigkeit und Bigamie, dass Rechtsanwälte als Intriganten und Gauner geschildert werden und Organisationen der Schwarzen als solche, wo den Mitgliedern das Geld auf unehrenhafte Art gestohlen wird, wobei alle diese Aktivitäten unter Schwarzen in das schändlichste und erniedrigendste Licht gestellt werden;, dass der Pittsburgh Courier einen landesweiten Protest ins Leben gerufen hat gegen die weiteren Praktiken dieser weißen Männer, die sich an bestimmten Typen der amerikanischen Schwarzen bereichern und zwar mit einem angeblichen Honorar von 6000 Dollar die Woche; In Anbetracht all dessen schließen wir, die Unterzeichner, uns feierlich und ausdrücklich dem Protest des Pittsburgh Courier an und fordern, dass diese Komödianten, die unsere Bevölkerungsgruppe derart ausbeuten, aus dem Radio vertrieben werden, weil sie sowohl unseren Selbstrespekt bedrohen, als auch unseren beruflichen, brüderlichen und ökonomischen Fortschritt, und wir also zum Zeichen des Protestes unsere Namen und unsere Adressen hinterlegen«(in *Ely 1991). Die Vorwürfe waren berechtigt. Auf genüssliche Weise hatten Gosden und Correll in der Stimm-Haut von Amos und Andy genau das in ihrer täglichen Viertelstunde über Wochen und Jahre polemisch in Szene gesetzt: Schwarze Anwälte (vor allem auch Ärzte und Wahrsager), die in ihre eigene Tasche wirt-

237 AMOS N ANDY 217 schaften, Frauen, die nicht zugeben, dass sie schon verheiratet sind, Kingfish, der stets drauf und dran ist, jemanden übers Ohr zu hauen, kurz: Sollte es nur Spaß sein oder so wie im richtigen Leben in Chicago oder Harlem? So oder so, es war das Spiel mit den enttäuschten Hoffnungen derer, die kamen, um ein besseres Leben zu haben. Das Ende»Amos n Andy«, das erste Serial der amerikanischen Radiogeschichte, verdoppelt diesen Betrug aber noch um eine weitere Variante. Diejenigen, die schon da sind und in den etwas besseren Häusern Chicagos wohnen, machen diejenigen, die nachziehen, zu den Opfern, die sie selbst waren (oder immer noch sind), und markieren damit nur noch einmal deren und ihr Schicksal als Objekt der Comedy und Belustigung. Diese zweifache Unterdrückung bringt den Herausgeber des»pittsburgh Courier«ebenso heftig auf wie alle schwarzen politischen Bewegungen von den frühen 60er Jahren an. Gegen»Amos n Andy«läuft die offizielle afroamerikanische Community schon sehr früh Sturm, während die Hörer, zumal in den schwarzen Vierteln der Großstädte, millionen- und abermillionenfach zu den treuesten Hörern der Serie zählen. Erst in den frühen 1960er Jahren, als»amos n Andy«bereits einige Jahre als Fernseh-Soap läuft, erreicht die»national Association of the Advancement of Colored People«, die NAACP, einen einhelligen Beschluss, daß»amos n Andydepict the Negro and other minority groups in a stereotyped and derogatory manner«, was dazu führen müsse,»to strengthen the conclusion among uninformed or prejudiced people that Negroes and other minorities are inferior, lazy, dumb and dishonest«(in Ely 1991, 7). Die entsprechenden Fernseh- und Rundfunkanstalten, die die Show noch senden, geraten jetzt unter so starken öffentlichen Druck, dass die erste und berühmteste aller Radio-Shows von der Bildfläche verschwindet hingegen, als der Protest das erste Mal mit denselben Argumenten und mit derselben Schärfe geäußert wird, tut sich nichts. Der Protest des»pittsburgh Courier«, der mit landesweit verkauften Exemplaren die einflussreichste schwarze Tageszeitung war, erreichte immerhin fast Unterschriften. Aber er bleibt wirkungslos. Es ist ein erster, aber eben noch schwacher Protest der wachsenden schwarzen Mittelklasse Amerikas gegen ein Radio-Serial, das große Teile der Nation und auch der eigenen Ethnie täglich an den Geräten des neuen Mediums hält. Viele Schwarze, Schulklassen, Vereine, Gruppierungen aller Art der schwarzen Community erklären in der Hochphase des Serials, also in den frühen 30er Jahren, treueste und begeisterte Hörer der Serie zu sein.

238 218 DIE SERIALS Die oszillatorische Täuschung der medialen Stimme Das Ende von»amos n Andy«ist also durch einen Effekt erwirkt worden, der bei fast allen anderen Serien der»radio Days«eher reibungslos funktionierte, nämlich durch die Mutation des Radioformats ins Fernsehen. Noch heute basieren viele Soaps und Sit-Coms im Fernsehen auf Plots, deren Ursprünge in Serialformaten des US-Radios der 30er Jahre liegen. Nur bei dem Ursprungsformat des Serial, bei»amos n Andy«, konnte der Übergang ins Bildliche nicht gelingen, weil es sich um einen Betrug der Stimme handelte, der auf dem Bildschirm nicht reproduzierbar war. Stimm-Betrug Nummer Eins: Zwei Weiße spielen zwei Schwarze. Stimm-Betrug Nummer zwei: Diese zwei Weißen/ Schwarzen simulieren die Stimmen von allen weiteren schwarzen Charakteren, von denen die Hauptfiguren umgeben sind. Das Serial tut so, als seien die USA eine geschlossene schwarze Welt. Das Fernsehen erlaubt diese doppelte Camouflage nicht. Correll und Gosden setzen hier erstmals nicht mehr ihre Stimmen, sondern schwarze Schauspieler und deren Stimmen ein. Jetzt, nachdem der Plot in gewisser Weise verehrlicht ist, platzt der Betrug, weil er jetzt sichtbar ist. Denn»Amos n Andy«waren in einem bildlichen Sinn niemals schwarz gewesen. Ihre Stimmen waren es, zweifellos, und sie betrogen die Hörer auf die intelligenteste Weise, was die Hörer zwar wussten (aber nicht hörten ); und letztere honorierten die Täuschung mit ihrer Zustimmung und ihrer Begeisterung. Gosden und Correll betrogen die Hörer, indem sie das tägliche Betrogen-Werden der Schwarzen in einer weißen Welt noch einmal als Betrug der Weißen an einer schwarzen Welt inszenierten. Auf diese Weise wurde im genealogischen Programmierzentrum des amerikanischen Radios, nämlich zu Beginn seiner großen Serial-Epoche von 1925 an, ein geheimes, aber für das Radiohören offenbar fundamentales Bedürfnis in Szene gesetzt, das das europäische Radio sich zu artikulieren niemals erlaubt hat. Es ist das Bedürfnis, von der Stimme im Medium getäuscht zu werden; und zwar so, dass diese Täuschung sich unmerklich in der Komik und im Lachen entlastet und so zu einem echten Genuss verhilft. Das Medium Radio operiert mit einer oszillatorischen Täuschung der Sinne, wie es alle Medien elektronischer Art tun. Wir halten es für echt und sind zugleich bereit, die Täuschung zu akzeptieren, dass da eine Stimme anwesend sei, die zu uns spricht. Dass sie es nicht ist, sondern möglicherweise schon tot, ist in dieser kognitiven Oszillation von Wahrheit und Täuschung inkludiert. Die radiotechnische Reproduktion der Stimme ist immer eine solche oszillatorische Wahrheitstäuschung. Vom Radio wird gleichwohl eine wahre und zutreffende Information erwartet. Zumindest aber eine Nachricht, der man zustimmen kann oder nicht. Solche Nachrichten sind im US-amerikanischen Radio von Beginn an präsent. Der Wahrheitsbezug des Radiomediums bildet sich aber von Beginn an, und zwar noch früher als jede Serial-Form, vor allem an der für die Nation wichtigste politische Wahrheit heraus, nämlich an der Wahl des Präsidenten. Das amerikanische Radio gibt in seiner ersten Sendung im Oktober 1920 das Ergebnis bekannt.

239 AMOS N ANDY 219 Zugleich jedoch bildet sich in der Programmgeschichte des amerikanischen Radios, in stiller Selbstreferenz und ohne eine planende, geistvolle Hand, eine andere, nicht minder wesentliche Seite des Mediums heraus, nämlich der Rezeptionsmechanismus der oszillatorischen Täuschung, eines Sich-Täuschen-Lassens, das, wie das Begehren selbst, seine Negation einschließt, das Sich-Nicht- Täuschen-Lassen-Wollen. Mit Illusion oder Illusionsbildung hat das nichts zu tun. Studiopublikum die Codierung des Hörens 1926 ist das amerikanische Radio noch weit davon entfernt, dass ein Publikum und seine Reaktionen der HörerInnen das Supplement für den Ort ihres Hörens gibt. Auch Comedy-Serials wie»amos n Andy«werden zunächst, nach der Idee eines Radio-Comic, ohne ein Studiopublikum gesendet. Stimmen werden serialisiert, d.h. hintereinander gestellt, sequentiell angeordnet, in Beziehung gesetzt, durch Erzählstrukturen verbunden. Identifizieren aber muss sie jeder allein. Ob diese Identifizierung im Hören gelingt, bleibt unklar. Identifizieren im Hören setzt Wiederholung und Hörgewohnheiten voraus; aber wie soll man wissen, ob man sich nicht täuscht? Einige hören schon länger und sind geübt, andere haben eben erst ein Radio erworben und sind irritiert. Das Medium Radio bedarf immer einer voraus laufenden Bestätigung der Identifizierung im Hören, also einer Codierung oder Ikonisierung, auch und vor allem um Täuschungen und das Getäuscht-Werden zu ermöglichen. Pure Stimmen im Radio wieder zu erkennen, ist schwierig und bleibt ein unsicherer Akt. Man muss genau hinhören und kann sich dennoch ver-hören und täuschen. Wenn andere gemeinsam gehörte Stimmen mit-erkennen (oder sich täuschen), ist es sicherer. Um die Codierung der Identifizierung des seriellen Stimmenhörens zu stützen, und damit die Ikonisierungen und Codierungen im Stimmenhören (des Getäuscht-Werdens) zu ermöglichen, wird um 1930 in jeder Radioshow, die auf Identifizieren von Stimmen setzt, Reaktionen eines hörenden Publikums mit gesendet. Es wird vor einem Studiopublikum gespielt. Diese Ökumene des Hörens erleichtert die Identifizierungsleistungen. Jetzt gibt es Hörende, die noch näher dran sind und alles sehen, was ich nur höre. Das wiederum schafft eine neue Ambivalenz und neue Entlastungschancen. Denn von einem Studiopublikum kann sich das Radiohören jederzeit unterscheiden. Mit dieser Unterscheidung kann das Radiospiel selbst noch einmal operieren. Den Ort des Hörens in einem Publikum und seinen hörbaren Reaktionen in der Präsenz eines Studiopublikums zu substituieren, ist ein Programm-Kennzeichen des Massenmediums Radio. Es entlastet das Zu-Hören, eröffnet gelegentliche Aus- und wieder Einstiege ins Hören, weil ein Studiopublikum mit vorgeformten Reaktionsmustern (Angestufte Lacher, Gemurmel, Räuspern etc.) die Struktur der Radiohör-Reaktion vorlaufend mitprägt. Um 1930 herum wird

240 220 DIE SERIALS deshalb ein Studiopublikum zum Standard in den Serials, die es, wie»amos n Andy«, auf nicht-illusionäre Stimm-Täuschungen anlegen. Nur solche Serial- Formen, die einem bekannten Genre folgen und auf eingeübte theatralisch-dramatische Codierungen der Illusion setzen, verzichten auf die Präsenz eines Studiopublikums. Hier würde jede vor- oder nachlaufende Reaktion eines Studiopublikums die Illusionsbildung nur irritieren. Orson Welles beispielsweise wird an die hundert Radiohörspiele in seinen Sendungs-Serien präsentieren. Aber niemals eine vor einem Studiopublikum. Illusions-Genre-Formen wie Kriminalhörspiele, Western, Science-Fiction-Stoffe und alle klassischen Theater-Adaptionen laufen zwar immer seriell, d.h. durch Befestigung ihrer Struktur in (wöchentlichen) Serien, aber ohne Studiopublikum ab. Die erfolgreichsten Formen in der Serial-Geschichte des US-Radios allerdings werden die sein, in denen die Ambivalenz im Stimmenhören durch die Differenz der Existenz eines mithörend reagierenden Studiopublikums noch einmal gebrochen und verdoppelt wird. Spielt die Tatsache, dass das Studiopublikum sieht, aber der Radiohörer nur hört, eine Rolle? Wohl nicht. Denn schon in den 1930er Jahren setzen findige Produzenten statt eines realen Studiopublikums ein weiteres Mal auf Täuschung: Das Studiopublikum kommt, in all seinen abgestuften Lach- und Geräusch-Reaktionen, von Platte. Soap Anfangs hören das Publikum die Radio-Comedy von»amos n Andy«gleichsam nackt. Die Funktion des Studiopublikums hat sich noch nicht ausdifferenziert. Vermutlich kommt sie dadurch ins Spiel, dass die ersten Nachahmer von»amos n Andy«(z.B. die»quality Twins«) ebenso wie die musikalischen Vorläufer aus der»song n Pattern«-Ära oft in Live-Übertragungen aus großen Sälen gesendet wurden. Ohne und mit Studiopublikum:»Amos n Andy«setzen für die spezifische Serialität des amerikanischen Radios den ersten Baustein. Darüber gibt es in der Forschung keinen Zweifel. Zudem begründen»amos n Andy«die Form der»standup Comedy«. Weil später, nach Pepsodent und anderen Sponsoren, die Firma»Rinsaw«mit ihren Seifenprodukten»Amos n Andy«sponsert (= finanziert), heißen Serials der Amos/Andy-Art seither auch»soap-operas«. Um aber wiederum das Sponsoring so weit wie möglich vom Inhalt der Episoden zu trennen, trotzen Gosden und Correl ihren Sponsoren das»spot-format«der Hörfunk-Werbung ab, kurze, geschlossene Werbe-Trailer, die auf diese Weise in die elektronischen Medien kamen.

241 FIRST PERSON SINGULAR 221 FIRST PERSON SINGULAR»First Person Singular«war der designierte Titel einer Radioserie, zur besten Sendezeit auf CBS, zunächst Montags-, dann Sonntagsabends 20 Uhr. Für diese Radioshow unterschreibt der 23 Jahre junge Orson Welles, zehn Jahre nach dem Start von Amos n Andy auf NBC, im Juni 1938 einen Vertrag mit der Radiokette CBS. Zehn Jahre nach dem Start von»amos n Andy«ist in den USA niemand mehr allein auf dem Mittelwellenband. Neben dem Serial aller Serials gibt es inzwischen Dutzende andere:»jack Benny«,»Fred Allen«,»Fibber McGhee and Molly«,»Burns and Allen«,»Lone Ranger«, das erste Western-Serial,»Suspence«,»The Shadow«, um nur einige wenige zu nennen ist das Radio bereits ein starkes Massenmedium mit einer entsprechend hohen formativen Selbstreferenz. Mit Dutzenden von parallel laufenden Serials jeden Tag konkurrieren die beiden Radioketten NBC und CBS erbittert um jede Sendestunde. CBS ist, was Stationenanzahl, Quoten und Umsatz betrifft, NBC noch weit unterlegen. March of the Time Orson Welles seinerseits hatte schon seit 3 Jahren in kleineren Nebenrollen fürs Radio gearbeitet. Nicht unerheblich für sein Portemonnaie. Alles hatte damit begonnen, dass 1935 für»march of The Time«, ein wöchentliches Dokuplay über Zeitereignisse, die Babyschreie von Fünflingen gesucht wurden.»march of the Time«, die Urform aller medialen Dokufiktion-Formate überhaupt, spielt Zeitereignisse mit Schauspielerstimmen in gestellten Szenen nach. Orson Welles spricht Hindenburg, Churchill, Roosevelt, vielleicht auch Hitler, genau ist das nicht mehr zu ermitteln. Welles konnte offenbar in die verschiedensten Stimm-Persönlichkeiten schlüpfen. Mit seiner weichen, vielfarbigen, baritonalen, seine Jugendlichkeit völlig übertönenden und fast altersneutral klingenden Stimme übernahm Welles ab Herbst 1937 mit großem Erfolg für eine Staffel die Rolle des»schattens«in der»suspence-seriethe Shadow«(Callow 1996). Orsons Welles Stimme klang wie ein»vokales Instrument«, so sagt es John Houseman, sein Freund, sein Geliebter, sein Nahezu-Sklave, sein Vaterersatz, sein Skriptautor und sein Produzent,»ein vokales Instrument von abnormaler Resonanz und Flexibilität«(Houseman 1973, 362). Mit und in dieser Stimme, ihrem Umfang, ihrer Stärke, ihrer Rhythmisierung, ihrer Ruhe, ihrem Melos, ihrem ausdrucksvollen, warmen, vollen, weichen Timbre, in ihrer dialektfreien, unaffektierten, kristallklaren Artikulation war Orson Welles ein anderer als auf der Bühne. Sein Konterfei war im Maiheft 1938 auf dem Cover des Time-Magazin abgebildet untertitelt mit»marvelous boy«(hilmes 1997, 218). Er hatte längst seine kleine Theater-Kompanie um sich geschart, genannt»the Mercury Theatre«, die mit wechselndem Erfolg kleinere Broadway-Bühnen bespielte.

242 222 DIE SERIALS Dabei war Welles selbst auf der Bühne keineswegs immer überzeugend, zuweilen irgendwie»behindert«, wie Houseman sich im Nachhinein erinnert, behindert»von [seinem] oft so neurotischen Überbeschäftigtsein mit seiner eigenen physischen Erscheinung«. Orson Welles Stimme aber war ein eigenes Element, so erschien es allen, die mit ihm spielten. Mit ihr konnte er»einen fast unbegrenzten Bereich von Stimmungen und Gefühlen ausdrücken«(houseman 1973, 362), so Houseman. Orson Welles hat zahllose Auftritte im amerikanischen Radio gehabt, allein mit seiner Theatertruppe bis 1940 an die Hundert einstündige Hörspiele produziert und ist darüber hinaus in ungezählten Radio-Shows, Werbespots, Hauptund Nebenrollen anderer Produktionen aufgetreten. Mit seiner Stimme traf Orson Welles im Radio offenbar einen Nerv. EXKURS: DIE POLITIK DER STIMMEN In den Jahren des frühen Massenmediums Radio in den USA zählen nur Stimmen und nichts als Stimmen; aber eher nicht ihre»körperlose Wesenheit«, wie es die zeitgleiche europäische Radiostimmtheorie des faschistischen Theoretikers Robert Kolb dekretierte. Es ging nicht um die Stimme, die»die fehlende leibliche Wirklichkeit des Bühnenworts durch Steigerung aller intimen seelischen Ausdrucksmöglichkeiten«ersetzen muss, wie Hermann Pongs geschrieben hatte (Pongs 1930, 9). Im Vergleich zu den frühen deutschen oder europäischen Programmen herrschte im amerikanischen Radio vom Ende der 20er Jahre an eine fast kakophonische Vielstimmigkeit. Aus den Lautsprechern tönten Stimmen, die allein in der Differenz zu anderen Stimmen aus anderen Lautsprechern begründet waren und damit die einfache Wahrheit technisch noch einmal reproduzierten, nämlich dass niemals nur eine Stimme spricht, sondern stets auch eine andere, nämlich eine auf einem anderen konkurrierenden Kanal zu anderen. Und dass auf demselben Kanal immer eine andere Stimme folgt, die mit wieder anderen konkurriert.»amos n Andy«und die nach seinem Vorbild nachfolgenden Serials (z.b.»abbott and Costello«,»Ozzie and Harriet«,»Betty and Bob«,»Big Jon and Sparkie«,»Bob and Ray«,»Burns and Allen«,»Fibber McGee and Molly«,»Gene and Glenn«,»Judy and Jane«,»Lum and Abner«,»Tommy Riggs and Betty Lou«,»Vic and Sade«) setzen auf die Dualität der Radiostimme. 24 Insofern ist das amerikanische Radio, was die Frage des Zusammenhangs von Stimme und Persönlichkeit betrifft, über Europa weit hinaus. In Europa sind die tiefgreifenden, ontologischen Fragen aus der Tradition des psychophysiologischen Parallelismus der Phonetiken des 19. Jahrhunderts in Geltung. Sie bestimmen, vor allem, was das Hörspiel betrifft, die Entwicklung. Weit entfernt, eine kulturelle Andersheit ausbilden zu können oder zu wollen, 24.Vgl. Die Dualität der Radiostimme, Seite 196ff.

243 EXKURS: DIE POLITIK DER STIMMEN 223 wird das staatlich reglementierte Radio vielmehr zum affirmativen Experimentierfeld ontologisierender Stimmästhetiken. Ich verweise nur auf die heillose Geschichte des Freiburger Instituts für Rundfunkwissenschaft und die Studien seines Leiters Friedrich Karl Roedemeyer (Roedemeyer 1940; Kutsch 1985) sowie die Arbeiten seiner Schüler Wolfgang Metzger (1942) und Arthur Pfeiffer (1942). 25 Dominik Schrage hat herausgearbeitet, wie zwingend diese Theorien einer»physiologischen Verschaltung durch Radio«entweder schlicht einen»singulären Hörer«voraussetzen, der für eine Beschreibung des Massenmediums nicht signifikant sein kann, oder»eine geschichtsphilosophisch durch vorausgesetzte Interessen stabilisierte Vielheit von Hörern«(Schrage 2001, 297). Tom Heatherly Pear Während im amerikanischen Radio bereits ein telefonischer Vielklang Hunderter gegeneinander konkurrierender Serial-Stimmen tönt, hebt in Europa eine auf das Radio bezogene Forschung an, die epistemologisch der kulturalistischen Staatshoheit des Rundfunks korrespondiert. Angefangen hat die europäische Radiostimmforschung um 1930, als der englische Psychologieprofessor Tom Heatherley Pear 4000 Probanden am Radio die Frage vorlegte:»how many persons, when they hear a voice on the wireless visualise or guess at the speaker's appearance and personality? And to what extent is the voice commonly to be assumed to be an expression of personality or of character?«(pear 1931, 153) An der entscheidenden Frage ging Pear schon damals vorbei. Nämlich an der Frage, ob sich Hörerinnen und Hörer überhaupt Personen im Sinne einer bewussten Vorstellung vorstellen, wenn sie Stimmen im Radio hören. Ob und wie viele Hörer solche Vorstellungen im Hören entwickeln, konnte Pear deshalb auch nicht ermitteln. Er überging diese Frage, indem er die Probanden schlicht aufforderte, es zu tun. Sie sollten sich erstens ein Menschbild zur Stimme machen und zweitens ihre Vorstellungen aufschreiben. Aus 4000 Rückantworten fand Pear heraus, dass diejenigen, die aufgefordert waren, sich etwas vorzustellen beim Stimme-Hören, das Alter von Sprecherinnen schlechter schätzten als das von Sprechern (165); dass aber signifikante Berufe wie Schauspieler, Lehrer, ja sogar Techniker, Richter oder kleine Schulmädchen offenbar sehr gut als das zu identifizieren waren, was sie waren. Herta Herzog Aufgrund der Veröffentlichung von Pear sahen sich daraufhin der Wiener Mathematiker Paul Lazarsfeld und seine Lebensgefährtin Herta Herzog im Kon- 25.Vgl. Einheitsprogramm und Verschaltung, Seite 137ff.

244 224 DIE SERIALS text der Ausdrucksforschung von Karl Bühler veranlasst, eine ähnliche Experimentation in Gang zu setzen.»inwieweit ist die Stimme eines Sprechers für den Hörer Ausdruck seiner Persönlichkeit?«(Herzog 1933, 301) Herzog ließ ein und denselben Text von einem Privatdozenten, einem Chauffeur, einer Mittelschülerin, einem katholischen Priester, einem Volksschullehrer, einer Stenotypistin und der Besitzerin einer Bastwerkstätte sprechen und ihre Stimmen im Radio übertragen. Würden sie wiederzuerkennen sein? Herta Herzog fragte auch nach Größe und Dicke der Sprecher und bekam tatsächlich offenbar wirklichkeitsnahe Antworten, jedenfalls was die Größe (321), aber auch, überraschenderweise, was die Haarfarben,»blond oder dunkel«, betraf (326). Schlechter schnitten die Angaben über die Dickleibigkeit der Sprecherinnen und Sprecher ab, aber nur weil, wie Herzog meinte,»dick«viel zu unspezifisch gefragt sei. Denn»die Stimme«, sagt Herta Herzog, ist»ausdruck für viel detailliertere Gestaltmomente«(326). Von Pear bis Herzog war der Frageansatz der gleiche: Gibt es ontologische, anthropologische oder andere invariant-objektive Merkmale der Stimmartikulation, die fest auf eine entsprechende Person, auf soziale Stellung, auf ihre Gestalt, auf ihren Charakter oder gar Aussehen von Gesicht und Haaren des unsichtbar Sprechenden schließen lassen? Bühler Reinhart Meyer-Kalkus hat in seiner überragenden Arbeit zur europäischen Stimmtheorie und Stimmästhetik des 20. Jahrhunderts deutlich gemacht, wie genau Lazarsfeld und Herzog in ihrer Fragestellung den Lehren ihres Lehrers folgen, nämlich der»resonanztheorie«, die Karl Bühler, ein Psychologieprofessor an der Wiener Universität, entwickelt hatte (Meyer-Kalkus 2001, 157). Stimme-Hören, so Karl Bühler, folgt einem Mechanismus der Resonanz, in der das Hören durch Assoziation und Erinnerung an entfernte oder näher stehende Bekannte ein Resonanzbild der Stimme erzeugt. Stimme-Hören ist also immer ein Hören eines imaginären anderen, ein mediales Hören, das, wie Bühler sagt, das mithörende Erinnern eines»medius«impliziert (Bühler 1968, 192). Grundlegend an dieser Ausdruckstheorie der Stimme ist, dass ein Stimme- Hören stets im Kontext mit anderen Stimm-Erinnerungen oder Stimm-Einprägungen steht und insofern von mitschwingenden Stimmerwartungen mitbestimmt ist. In dieser Bühlerschen Ausdrucks-Resonanz-Theorie, so Meyer- Kalkus, stecken die Nuklei der Prager Linguistenschule Trubetzkoys und Jacobsons, die Bühlers Phonologie der Stimme aus den 20er Jahren aufgreifen und erweitern werden. Die Prager Schule trägt die Theorie der Stimme auf das Feld der strukturellen Linguistik der 40er und 50er Jahre und von dort aus in die Psychoanalyse Jacques Lacans der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Mit Lacan end-

245 EXKURS: DIE POLITIK DER STIMMEN 225 lich entfernen sich die Theorien der Stimme von dem psycho-physischen Parallelismus anthropologischer Ontologismen, dem die Stimmforschung in Europa über ein Jahrhundert lang anhing. Loslösung der Stimme von der Person Paul Lazarsfeld, der keine zehn Jahre später das erste große Radioforschungsprojekt der USA leiten wird aus diesem Embryo wird die Wahlforschung und damit die moderne Demoskopie erwachsen, hat in Amerika seine und die Fragen Herta Herzogs nicht wieder aufgenommen. Der Grund liegt auf der Hand. Ob eine außermedial bekannte Person tatsächlich hinter einer Stimme steckt, ist keine Frage, die angesichts der Dimensionalität der amerikanischen Radiostimmen der dreißiger Jahre hätte von Bedeutung sein können. Vielmehr ist die spezifische Loslösung der Stimme von einer gegebenen personalen Identität das auditive Kennzeichen des amerikanischen Radios von Beginn an. Radio in Amerika ist von Beginn an Simulation und Täuschung, Täuschung durch Simulation von Identitäten, die nicht existieren. Weiße, die nicht Afroamerikaner sind, sprechen, als seien sie Afroamerikaner; Musikstile werden kreiert, indem sie kopiert und gegeneinander vertauscht werden. Fluchtpunkt nahezu aller Radiostimmen in den Serials der frühen Radiozeit ist gerade nicht die Herstellung einer Identität und Authentizität, sondern einer größtmöglichen Differenz, Kollision, Andersheit, Devianz, Variation und Abgetrenntheit von Stimme und Personalität. Der Bezug bleibt ambivalent, nämlich fixiert auf das Begehren, die Identität von Stimme und Person als eine vollere, neuere, klarere und bezwingendere auszubilden. Von den späten 20er Jahren an entwickelt sich in den Radioprogrammen der USA daraus eine plurale, vokale und phonetische Polyphonie, deren Grund schon in der Tradition und Herkunft der ersten Radio-Serials liegt und aus dieser Tradition und Herkunft eine mannigfaltige Verstärkung erfährt. Multi-ethnische Polyphonien Die ersten Serial-Plots»Amos n Andy«genauso wie»jack Benny«oder»Fibber McGhee«stützen sich ihrerseits bereits auf eine starke Tradition multiethnischer Polyphonien. Denn sie sind, wie angedeutet, mediale Mutanten von Acts und Skits der Vaudeville-Tradition des 19. Jahrhunderts; Abwandlungen von Elementen und Figuren aus den»minstrel«-shows, wo etwa das»blackfacing«von weißen Komikern eine bereits Generationen alte Tradition hatte. Wenn also, um mit Lacan zu sprechen, das Ich stets ein Anderer ist, und nun die Frage steht oder von Herta Herzog gefragt wird:»kenne ich den anderen, der da im Radio spricht, erkenne ich ihn wieder?«, dann gilt, dass diese Frage nach

246 226 DIE SERIALS dem stimmlichen Ich und dem stimmlichen Anderen im vielstimmigen Einwandererland Nordamerika, erst Recht nach den Millionenwanderungen seit dem Bürgerkrieg von 1860, eine völlig andere ist als in Europa. Auch 1920 oder 1930 schon sind die USA, nicht anders als heute, eine babylonische Sprachen-Vereinigung, bestehend aus Millionen und Abermillionen von Immigranten oder Immigrantenkindern, das heißt vielstimmig fremden Stimmen aus allen Ländern Europas und aus den Südstaaten der USA, eben angekommen in Chicago, Detroit oder Harlem. Und jede und jeder von ihnen hatte eine alte Stimme zu verlieren, weil eine neue Sprache zu lernen, heißt: eine neue Stimme zu finden.»always Arriving, Never Arrived«Die Ausbreitung des Radios in Amerika im ersten Jahrzehnt verlief, wie es oft genug in Europa mit falscher Herablassung registriert wurde, nahezu anarchisch, sehr schnell und rhizomatisch. Es lag dem ja, anders als in Europa, kein staatlicher Masterplan zugrunde. Betrachten wir die Erfolgsmittel dieser Ausbreitung genauer, nämlich die zahllosen seriellen Radioformate der Stimmkünstler, dann verwundert die Einsicht eines ganz frühen Kommentators aus einer der ersten Ausgaben der Zeitschrift»Radio Broadcast«nicht, der schon 1923 schrieb, das Radio sei ein»new Way to Make Americans«. Was Michelle Hilmes zusammenfasst in der Bemerkung, das Radio in Amerika sei eine»zentrale Institution zur Unifizierung und Definition der Nation«(Hilmes 1993, 303). Fast alle frühen Radio-Serials haben deshalb nicht allein mit Stimmen, sondern vor allem mit Stimm-Findung zu tun. Es sind Stimmen, die sich in einer Welt zurechtfinden müssen, in der alles anders ist. Stimmen, die Stimmen suchen. Zum Beispiel, als Herbert Hoover und Al Smith als Präsidentschaftskandidaten zur Wahl standen,»amos n Andy«, am 17. Juli 1928.»Andy tell me one thing: are you a democrat or a republican? Well, I was a democrat. But I believe I have since switched over to the republicans now. Who's the man that's running to be elected? Explain that to me Herbert Hoover versus Al Smith Herbert Hoover Visuvius Al Smith, huh? Yeah. Another thing Andy: what is the difference between a democrat or a republican? Well, one of them is a mule and the other one is an elephant. That's the way I get it. Hmm. I don't know about if I wanna be a democrat or a republican, you know? Well, what was your ancestors? My ant didn't have no sisters. No, no, not your ant's sisters. Your ancestors. I mean: how does your old man vote?

247 EXKURS: DIE POLITIK DER STIMMEN 227 Oh my papa you mean? Yeah, that's it. Papa he would always vote for the democrats. Well, then if I was in your place I would vote for the republicans. How come? Because all I know about your old man is that he did nothing right in his life. Wait a minute now, wait a minute! Don't say no more about him now. Well, on the other hand though, I believe you ought to vote for the democrats because you look more like a mule than anything I know. But I [ ] whichever is the best one. I don't care [ ] Well, then let's be democrat and vote for Herbert Hoover. Wait a minute, though, wait a minute. What is he? Herbert Hoover is a democrat ain't he? He was a democrat. Maybe he then changed over. I believe there's nothing wrong. Yeah, that's right, Hoover is a republican. Well, if you like Hoover you can still vote for him and be a democrat. Tell me now: why can't I have a democrat and a republican president at the same time? Then Hoover would be president one week and Al Smith would be president the next week. [ ] we would have a whole lot of freedom Amos, the president of this country don't have nothing to do now. The problem with that is: the republicans would get everything messed up for the democrats and vice versa. And what? Vice versa. He ain't wanna do it Who? Vice Versah I didn't say Vice Versah, I said vice versa. Would he be a democrat or a republican? Oh oh.«(eigenes Transkript) Stimmenfindung. Dass Weiße schwarze Stimmen vokalisieren und dies über Jahrzehnte ohne größere Proteste zum Massenerfolg im Radio wird, zeigt die Intensität des Mechanismus der Differenzierung in der Wirkung von fiktionalen Stimmen als Stifter einer Definition des Nationalen. Amos und Andy überbieten sich in diesem Stück, und nicht nur in diesem, in politischer und zivilisatorischer Naivität. Gosden und Correll spielen dabei aber niemals irgendeine rassistische Komponente aus, etwa dass sie als Weiße weniger naiv oder schlauer seien als die von ihnen gespielten Farbigen. So kommt es, dass gerade Amos und Andy, wie Michelle Hilmes sagt, das Immigrationsschicksal von Millionen am besten haben ausdrücken können, das nahezu jeden American betreffen mußte, nämlich die Permanenz der Immigration, immer im Ankommen, aber niemals angekommen,»always arriving, never arrived«(hilmes 1993, 311).

248 228 DIE SERIALS Linguistischer Slapstick Ein anderes Beispiel, das wiederum für zahllose weitere steht, wären»fibber McGee and Molly«, ein Serial über den vergeblichen Weg eines kleinbürgerlichen Tante-Emma-Ladenbesitzers in die große Welt von Hollywood, wo Fibber sich plötzlich vor Gericht wieder findet, weil er eine rote Ampel überfahren hat. Fibber startet einen sehr kunstvollen, rasant schnellen, aber völlig am Thema vorbei gehenden Wortsalat, warum er erstens die Ampel nicht überfahren habe und zweitens dies gar keine Ampel gewesen sein könne. Fibber McGee vom 16. April 1935:»(Fibber and Molly, motoring down a rural highway in their antiquated jalopy, are stopped by a cop who claims Fibber has run a red light. The officer summons Fibber before a judge. The judge, noting that the stop light is broken, dismisses McGee) Now, what have you to say, McGraw? McGee it is! And I got this here to say: I m a law-abiding citizen and that s their right: If it had been lit I would have known it was a red light. But a red light that ain t lit ain t a red light, a light that ain t lit ain t a light. And if it s got to be lit to be a red light and ain t lit then it ain t a red light. If a red light is the kind of a light a red light ought to be then it s ought to be a lit light and not a dead light. A dead red light ain t no more a red light than a lit light is a dead light. And I claim that any time my head light sees a dead light red light or no red light and I ride right by the light I m in my right! Come on honey«(eigenes Transkript). Susan Douglas hat in ihren Studien zum frühen amerikanischen Radio angesichts der ungeheuren Vielfalt von sich verplappernden, devianten, ungenauen, radebrechenden, wortverspielten und ventriloquistischen Stimmartisten von einem»lingustic Slapstic«(Douglas 1999, 15) gesprochen, der die frühen Programme nahezu sintflutartig überschwemme:»da wo der Stummfilm sich auf den physischen Slapstick verlegte um die Abwesenheit des Verbalen zu kompensieren, beginnt das Radio seine Kompensation der Abwesenheit des Visuellen durch eine Zurschaustellung und Inflationierung eines lingustischen Slapstick. In den 30er Jahren mit dem Aufkommen der Comedy als dem populärsten Genre on air, veranstaltete das Radio geradezu einen Krieg zwischen einer zunehmend homogenisierten Sprache auf der einen Seite und einer devianten, abweichenden, unassimilierten linguistischen Weigerung auf der anderen. Wortspiele erreichen ungeahnte Höhen, weil immer umstellt von einem neuen, einem offiziellen Korpus einer Sprachpolizei, die zu bestimmen und durchzusetzen sucht, welche Art von Englisch zu sprechen angemessen sei vor einer nationalen Zuhörerschaft. Anstand, Etikette und Insubordination wechselten einander ab und arbeiteten Hand in Hand zugleich«(*douglas 1999, 101).

249 HALLOWEEN Die phatische Stimme Für das Immigrantenland USA hätte Elias Canetti sagen müssen: Jeder Neuankömmling musste seine eigene»akustische Maske«finden (Meyer-Kalkus 2001, 131). Aber Maske, das heißt noch lange nicht Identität. Fibber McGee, das Kind armer Farmer aus dem Mittelwesten, wird man sein Leben lang an seinem Akzent erkennen. Elias Canetti, Karl Bühler und die Prager Schule in Europa hatten und bleiben im Recht: Stimme ist vor allem Ausdruck,»Darstellung«,»Kundgabe«und»Auslösung«(151), wie Bühler sagte, und ihre Phonologie hat zudem eine»phatische«,»poetische«und»metasprachliche«dimension, wie Roman Jakobson später hinzufügte (153). Das alles weiß das klügere Europa schon in den dreißiger Jahren. Die junge strukturale Linguistik und Phonologie weiß, dass Stimme und Identität keine ontologischen oder psychophysiologisch eindeutigen Zuordnungen erlauben. Aber dieses Wissen bleibt in Europa eine eher randständige Theorie, geht nicht in die Praxis des Radios ein und kann sich bestenfalls an den (später für entartet erklärten) Stimmkünstlern der expressionistischen Avantgarde erproben. Im amerikanischen Radio dagegen ist nichts Expressionistisches anzutreffen. Die gleichnamige europäische Kunstbewegung bleibt in den USA ohne Gegenpart. Dafür aber gibt sich, um nur ein Jahrzehnt versetzt, im amerikanischen Radio eine Stimmenvielfalt zu vernehmen, für die sich umgekehrt in der europäischen Radiogeschichte nichts auch nur annähernd Vergleichbares finden ließe. Es sind Stimmen, denen es nicht um Identität geht, sondern um Unterscheidung, um Differenzierung und die Differenzierung der Differenzierung. HALLOWEEN 1938 Nur so ist zu verstehen, was im Juni 1938 CBS-Chef William Paley mit der vorhin genannten Verpflichtung des»marvelous Boy«und jungen Genies namens Orson Welles im Schilde führt. William Paley, milliardenschwerer Sohn eines Zigaretten-Tycoons, war seit neun Jahren im Besitz der CBS-Kette, und er will zum Marktführer NBC endlich aufschließen. Er holt Orson Welles, weil er nichts auslassen möchte, um sich von dem Ton und den Stimmen der Konkurrenzkette NBC zu unterscheiden. Er holt ihn wegen dessen Stimme, aber nicht um ihretwillen, sondern nur, damit sie sich gegen eine andere Stimme positioniert. Keine Stimme ist im Radio allein, und keine kann sich aus sich selbst heraus definieren. Dieses Lehrstück uns zu zeigen, ist die radiohistorische Besonderheit des frühen amerikanischen Radios. Die besondere Komplikation aber, die jetzt entsteht und mitverantwortlich sein wird für die Panik um»the War of Worlds«, die ein halbes Jahr später für einen halben Abend ausbricht, besteht darin, dass die Stimme, gegen die Welles antreten soll, nicht einmal eine Stimme ist, sondern eine doublettierte Stimme, ein Stimmdoppel, also mit einem Wort: Es sind zwei in eins.

250 230 DIE SERIALS Als Welles 1938 seinen Kontrakt unterschreibt, lauscht ein zweistelliges Millionenpublikum auf der Konkurrenzkette NBC einer ganz besonderen Show, wie es sie radiohistorisch so, auch in den USA, kein zweites Mal gegeben hat. Die Rede ist von Edgar Bergen und seiner sprechenden Puppe Charlie McCarthy. Edgar Bergen ist ein Bauchredner und trägt, wie es sich für einen Ventriloquisten seit Generationen gehört, sein Double auf dem Arm, ausstaffiert mit feinem Frack, Zylinder und Hut. Aber sein Millionenpublikum sieht das nicht. Viele Zeitgenossen rätselten also schon damals, was so viele Menschen an den Radios an einem Bauchredner fesseln kann, den man doch gar nicht sehen kann. Charlie McCarthy»Charlie: (singing) A haunting way we ll go, tata, tata, a haunting way we ll go [laughs]. Don Ameche: Hey Charlie, the word is»hunting«, C: Oh, not on Halloween, I think, D: Say, what are you going to do tomorrow night, Charlie? C: Oh, I don t know. Dug for apples, I guess. What else can a fellow do on a measly 75 cents a week? D Oh no Bergen: Charlie, I wish you wouldn t take advantage of every opportunity to mention the allowance I give you. C No? B No C Why B It s embarrassing. C Yeah. I m ashamed of it too, Bergen. B All you think of is money. Pleasure can be derived in many other ways. C Name four. B Well ( ) B I could assure you there will be no repetition of last years riot. C No? B No! That experiment was much too expensive. C Oh, sure. No party this year? B No party C No ah, Aren t you going to do anything further than itsy bitsy Charlie, ah, on

Wo kann man The Blind Side schauen?

Watch Blind Side – Die große Chance | Netflix.

Wann kommt Blind Side im Fernsehen?

Sat. 1 strahlt am Montagabend um 20.15 Uhr das Sportlerdrama „Blind Side – Die große Chance“ aus.

Wie endet der Film Blind Side?

Nachdem sie ihn an der Schule verabschiedet hat, ist Leigh Anne glücklich über das, was sie für Michael getan hat. Der Film endet mit einem Originalausschnitt des NFL Drafts aus dem Jahr 2009, der den echten Michael Oher zeigt, wie er bei den Baltimore Ravens vorgestellt wird.