Da frag ich mich doch wer hier eigentlich behindert ist

Vielleicht sollte ich diese Frage ein paar Jugendlichen oder jungen Leuten stellen. Es ist ja scheinbar ziemlich In, dass gerade alles „behindert“ ist oder man „behindert“ aussieht. Aber dazu eventuell später.

Es war vor etwa einem Jahr, als ich das erste Mal auf dem Stand von Rewalk auf der RehaCare dabei sein durfte. Es ist ein relativ anstrengender Tag, wie eigentlich fast jeder Messetag und ich laufe so meine kleinen Runden. Ich höre durch das Stimmengewirr, wie mich von hinten ein Mann anspricht und bleibe stehen, um mich besser unterhalten zu können. Der Mann, ein etwas älterer Rollstuhlfahrer, schaut mich mit einem leicht verächtlichen und abwertenden Gesichtsausdruck an und sagt: „Schämen Sie sich eigentlich nicht, sich hier als Behinderte auszugeben? Es gibt Leute, die wirklich krank sind und Sie machen sich schamlos über sie lustig!“.

Da frag ich mich doch wer hier eigentlich behindert ist

Ich muss ziemlich irritiert geguckt haben, denn als von mir so spontan keine Antwort kam, legte er erneut los: „Und dann machen Sie hier Werbung für Zeugs, womit kein wirklich Behinderter was anfangen kann. Eine Unverschämtheit ist das. Man müsste Sie verklagen!“. Mittlerweile blieben um uns herum noch mehr Leute stehen und hören gespannt zu, wie der Mann seiner offensichtlichen Wut Luft macht. Ich habe das Gefühl, als ob ich mich nun dazu äußern müsste, doch ich weiß noch immer nicht genau, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte. Überall eilen einem die Menschen zu Hilfe, oft wurde ich hilfloser eingeschätzt, als ich es wirklich bin und musste liebgemeinte Hilfe ablehnen. Aber dass mich jemand für eine Lügnerin und Betrügerin hält, die nur so tut, als ob sie Einschränkungen hätte – das war mir noch nicht passiert. Über die Komik der Situation muss ich prompt schmunzeln und meine dann nur knapp, dass ich es nicht nötig hätte, behindert zu spielen und wenn es ihm nicht reiche, dass mein Rollstuhl dort in der Ecke stehe, dann könne ich ihm auch nicht helfen. Ich drehe mich um und kehre auf den Stand zurück, um den anderen von dieser kuriosen Begegnung zu erzählen. Ich bin sicher, dass dies eine Ausnahme gewesen sei. Doch jeder der anderen Rollstuhlfahrer kann mir mindestens zwei Geschichten erzählen, bei dem ihm genau das Gleiche passiert war. Und sie sollten Recht behalten. Keinen Tag später, ein ähnliches Szenario.

Eigentlich würde das ja schon reichen, doch es kommt noch besser.
Im Frühjahr nahm ich auf einer Geburtstags-Fashion-Show meines Friseurs teil. Ich war anfangs ziemlich nervös, weil ich auf der vorherigen Show 5 Jahre zuvor noch laufen konnte und ich nicht wusste, wie das alles im Rollstuhl funktionieren soll. Doch schließlich war meine Nervosität, wie meistens, relativ unbegründet. Lukas hievte mich mal eben auf die Bühne und ich konnte zusammen mit den anderen Models den Laufsteg entlanggehen. Wir hatten ultra viel Spaß und ich war total glücklich, dabei gewesen zu sein. Obwohl es nicht barrierefrei war und obwohl ich die Einzige im Rollstuhl war.
Aber als ich zuletzt bei meinem Friseur war, erzählte er mir, wie viele Leute ihn nach der Show noch auf mich angesprochen hätten. Wie toll es viele fänden, dass auch mal Rollstuhlfahrer dabei sind – tja mit der Inklusion ist das ja oft noch so eine Sache. Dazu auch die Frage: „Die Rollstuhlfahrerin, ist die Akrobatin aus dem Zirkus?“. Ich war etwas verwirrt, wie man auf so eine Idee kommen konnte, hatte ich ja keine akrobatischen Künste vollführt. Oh doch, vergessen: ich hatte mehrmals eine 360° Drehung auf gekippten Hinterrädern gemacht (umgangssprachlich ein Wheelie). Wenn ich sowas höre muss ich jedes Mal schlucken. Wenn mir jemand erzählt, behinderte Menschen, in diesem Fall explizit Rollstuhlfahrer, seien in der Mitte der Gesellschaft angekommen, bin ich spätestens an diesem Punkt mit dem Wheelie raus. Auf der Kippe fahren zu können hat, immer den Einschränkungen nach, nichts mit Akrobatik zu tun, sondern ist ein Basic, um vorwärts zu kommen. Wie soll ich denn sonst einen normalen Bordstein hoch und runter kommen? Ich vergleiche das gerne mit „auf einem Bein stehen“.

Da frag ich mich doch wer hier eigentlich behindert ist

Da frag ich mich doch wer hier eigentlich behindert ist

Viele Leute kommen angerannt, wenn ich am kippeln bin, weil ich beispielsweise meinen Rücken entlasten möchte und zerren an meinem Rollstuhl. Nicht selten bin ich gerade deshalb umgefallen. Sie rufen oder schreien dann, dass ich umfallen würde und ich das nicht tun dürfe, ich sei ja schließlich schon behindert! Aber wenn jemand auf einem Bein steht, dann kommt niemand und sagt „Oh mein Gott, Sie müssen das sofort unterlassen! Nicht dass Sie dabei noch ernsthaft zu Schaden kommen!“.

Aber die beste Aussage, die mein Friseur sogar von mehreren Leuten hören musste, war schließlich:

Die sitzt doch gar nicht wirklich im Rollstuhl, dafür sieht die viel zu hübsch aus!

Wie sieht man denn aus, wenn man behindert ist?
Stellt man diesen Leute genau diese Rückfrage, erreicht man nur Verunsicherung. Was für ein Bild hat die Gesellschaft denn noch von Menschen mit Behinderung? Die Zeiten, in denen wir in Anstalten weggesperrt wurden, sind glücklicherweise vorbei, doch scheinbar sieht man uns nicht oft genug. Scheinbar verstecken wir uns zu sehr oder aber die Umgebung ist noch immer nicht barrierefrei genug? Oder wieso wird eine Behinderung grundsätzlich mit einer schweren Mehrfachbehinderung, einhergehend mit kognitiven Einschränkungen, assoziiert?
Ich kann gar nicht genau sagen, ob es mich nur noch trauriger oder wütender macht, solche Aussagen so oft hören zu müssen.

In meinem damaligen Medizinstudium fragte mich mal ein Professor (!!), wie ich das denn mit den Vorlesungen machen würde. Ich fragte, wie er das meine, worauf er sagte: „Naja besuchen können Sie die Vorlesungen ja nicht. Eine körperliche Behinderung geht auch immer mit einer kognitiven Einschränkung einher.“. Das sagte ein Arzt zu mir. Ein Mensch, der einmal einen Hochschulabschluss in Medizin gemacht hatte, dazu promoviert und habilitiert.
Solange ein solcher Irrglauben in unserer Gesellschaft vorherrscht, kann eine Inklusion nicht gelingen. Und solange sind manche Menschen auch offensichtlich zu hübsch, um eine Behinderung zu haben.