Das klingt hoffnungsfroh (wenn auch etwas melancholisch-nostalgisch), und man möchte diesem Satz uneingeschränkt zustimmen können. Aber das mit der Erinnerung ist offenkundig etwas komplizierter. Setzt sich Erinnerung doch zusammen – vergleichbar den Träumen – aus Resten empirischer Erfahrungen und Wunschvorstellungen oder auch Projektionen. Man redet sich die eigene Geschichte gerne schön oder interessant und irgendwie glücklich, man vergoldet sie, obwohl man weiß und ständig erleben muss, dass die Erinnerung ab und an traurig wirkt, von Unglück kündet und deprimiert. Mehr noch: Es gibt gewisse Menschen – und gelegentlich gehören vielleicht alle dazu –, die grundlegend oder zumindest gelegentlich aus diesem „Paradies“ der Erinnerung vertrieben werden möchten.
„Erinnerungen sind das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann.“ Auch Das Gedächtnis ist das einzige Paradies, aus dem
wir nicht vertrieben werden können. Imagination is the only paradise from which we cannot be expelled. El recuerdo es el único paraíso del que no podemos ser expulsados. Und nun, etliche Jahre später und viele falsche Zitierweisen weiter, überlege ich, ob Jean Paul (nicht „unbekannt“, ein weiser Rabbi oder zugeschrieben und auch nicht von Blaise Pascal, Michael de Montaigne oder Novalis, die gern für gute Sprüche herhalten müssen, aber auch nicht von Dietrich Bonhoeffer, der bei Traueranzeigen gern als Urheber genannt wird) es wirklich so gesagt hat. Die Antwort ist einmal mehr nein. Denn richtig lautet das Zitat, was vermutlich kaum einer weiß: Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht getrieben werden können. Sogar die ersten Eltern waren nicht daraus zu bringen. (Impromtü’s, welche ich künftig in Stammbücher schreiben werde. (1811.) 29. Erinnerung. In Jean Paul’s sämmtliche Werke. Reimer 1838, S. 159; als Quelle wird auch sein Roman Die unsichtbare Loge aus den Jahr 1793 genannt, ich habe es aber dort trotz der irgendwo angegebenen Quellenangabe „1, 13“ (= 1. Teil, 13. Sektor?) nicht gefunden. Nach anderen Versionen, unter anderem ebenfalls eine aus dem Jahr 1811, lautet es: Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht getrieben werden können. Sogar die ersten Ältern waren nicht daraus zu vertreiben. (Zeitung für die elegante Welt Berlin, S. 1556) Ob das auch eine Version Jean Pauls ist oder er nur falsch zitiert wurde, konnte ich leider nicht feststellen. Die Version ohne den Zusatz mit den Eltern, also nur in der Form Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus welchem wir nicht getrieben werden können, wurde, warum auch immer, zuerst 1812 im Cotta’schen Taschenbuch für Damen gedruckt. Vielleicht weil die Damen als Mütter so etwas nicht in Stammbücher oder Poesiealben schreiben würden. (Zitiert nach Karl Kraus Frühe Schriften: Erläuterungen. Suhrkamp 1988, S. 141) – Kleines Schmankerl am Rande: In diesem Blatt ließ Goethe (O-Ton „Das ist eine heillose Manier, dieses Fragmente-Auftischen …“) mit den Worten „Beykommendes wünsche für den Damenkalender geeignet!“ zehn Jahre lang Ausschnitte aus seinem Roman Wilhelm Meisters Wanderjahreals Teil seiner Verkaufsstrategie(!) vorabdrucken (mehr dazu siehe http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/PDF/db/wiss/goethe/wanderjahre_bunzel.pdf). – Gar nicht auszumalen, wie viele Autoren so manche Zeilen gar nicht geschrieben hätten, weil sie sich mit Jean Pauls Worten auseinandersetzten, wenn allein die vollständige Version überliefert worden wäre … |