Kann man seine Kinder gleich lieb haben?

Wenn die Professorin Catherine Conger recht hat, lügt meine Mutter. Und zwar immer dann, wenn sie sagt, sie würde mich und meine 15 Monate jüngere Schwester in gleichem Maße lieben.

Genau das kann nicht stimmen, hat Frau Conger, die an der Universität von Kalifornien lehrt, herausgefunden. Nachdem sie in einer Studie 384 Geschwisterpaare und deren Eltern beobachtet hat, kam sie zu dem Ergebnis:

65 Prozent der Mütter und 70 Prozent der Väter haben ein Lieblingskind. Und es kommt noch schlimmer. Professor Conger geht davon aus, dass sich Eltern sehr viel Mühe geben, ihre ungleiche Zuwendung zu verbergen. Was bedeuten würde: Haben Eltern mehr als ein Kind, haben sie auch ein Lieblingskind.

Mit diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen im Kopf rief ich meine Mutter an: „Sag mal, Mama, magst du die Laura oder mich lieber?“ Nach der Stille kam der Schuss vor den Bug: „Spinnst du jetzt? Wie kommst du denn auf so was?“

Also gut, vielleicht ist die eigene Mutter in diesem Fall nicht der richtige Ansprechpartner. Deshalb fragte ich mich durch die Redaktion. Haben eure Eltern ein Lieblingskind? Bekommt ihr weniger Liebe als eure Schwester, euer Bruder? Ob ich noch ganz dicht sei, war noch die freundlichste Reaktion.

Wie erklärt sich der Familienforscher Professor Hartmut Kasten diese Abwehrreaktion? So: „In unserer Gesellschaft gibt es ein ungeschriebenes Gesetz, dass man alle seine Kinder gleich zu lieben hat.“ Dabei sei gerecht aufgeteilte Liebe eine Illusion. Man müsse den Alltag nur mal klar betrachten – nicht verklärt.

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Nüchtern betrachtet steckte ich bis zum Hals im Pubertätsdrama (Abnabelungsversuch inklusive), während meine Schwester nur durch Verkleiden Erwachsensein spielte. Ist doch klar, wem sich meine Mutter in dieser Phase lieber zugewandt hat. Doch benachteiligt fühlte ich mich deswegen nie. Mein Grundvertrauen in die Liebe meiner Mutter blieb stabil.

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Dauerhafte Probleme entstehen erst, wenn ein Kind über einen längeren Zeitraum weniger geliebt wird. Clare Stocker von der Universität Denver stellte in einer mehrjährigen Studie fest: Kinder, die das Gefühl haben, ihre Geschwister bekommen mehr Elternliebe, sind anfälliger für Ängste, für Depressionen, für Selbstwertzweifel.

Das heißt umgekehrt aber leider nicht, dass sich Lieblingskinder wenigstens besser fühlen: „Die ständige Bevorzugung führt zu einer Riesenerwartungshaltung“, sagt Professor Kasten. „Sobald das Kind beginnt, sich sein eigenes soziales Netz zu knüpfen, erwartet es, in dem unendlichen Maße geliebt zu werden, wie das einst die Eltern getan haben. Enttäuschungen sind da programmiert. Oft werden diese Kinder nicht mehr richtig glücklich.“

Kinder kennen diese Folgen nicht; wie auch? Deshalb versuchen sie, möglichst viel Aufmerksamkeit von ihren Eltern zu bekommen – was oft zu Kämpfen im Kinderzimmer führt.

Bei mir zu Hause folgte daraus zweierlei: Häufige, sehr handfeste Streitereien zwischen meiner Schwester und mir sowie ausgeprägte Nischenstrategien. Meine Schwester suchte sich die Ecke der leicht chaotischen, kreativen, musikalisch begabten Tochter, vermutlich auch deshalb, weil die verantwortungsbewusste, organisierte Rolle bereits von mir besetzt war. So verschafften wir uns beide Zeit im Rampenlicht.

Eltern, die nicht in die Bevorzugungsfalle tappen wollen, verbringen ein halbes Erziehungsleben damit, die Spielchen und Strategien ihrer Kinder zu erkennen und ihre eigene Reaktion darauf einzustellen. „Wenn Eltern das Gespür haben, dass ein Kind für längere Zeit in den Vordergrund gerückt ist, muss es für die Geschwister einen Ausgleich geben“, sagt Professor Kasten. „Dann könnte sich beispielsweise der Papa stärker um das andere Kind kümmern, ihm wieder mehr Zeit schenken, mit ihm spielen, damit es spürt: Wir Kinder werden alle gleich behandelt.“ Allein die Anstrengungen, Unterschiede in der Liebesverteilung auszugleichen, sind schon ein Liebesbeweis.

Die Frage lautet also nicht, ob es Eltern möglich ist, ihre Liebe zu 100 Prozent gerecht unter den Geschwistern zu verteilen. Es geht hier schließlich nicht um die gleich großen Stücke einer Sahnetorte. Es geht um das Gefühl, dass jedes einzelne um seiner selbst willen geliebt wird.

In meinem Fall kann ich nur sagen: Wer in unserer Familie auch immer das Lieblingskind ist – ich habe es bis heute nicht zu spüren bekommen.

Auch dafür liebe ich meine Mutter.

Mitarbeit: Kerstin Quassowsky

VON BIBEL BIS KINO – VIELE ELTERN LIEBTEN UNGERECHT

Auferstehung schlägt Gerechtigkeit

Im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15, 11-32) verprasst der jüngere Sohn eines reichen Mannes seinen Erbteil im Ausland; als Schweinehirte kehrt er heim und sein Vater feiert den totgeglaubten. Das verärgert den älteren Bruder (Kupferstich von Pierre Mariette, 1670).

Eine Klonschwester als Lebensretter

Im Film „Beim Leben meiner Schwester“ wird das dritte Kind von Sara (Cameron Diaz) als Kopie ihrer kranken Schwester Kate (Sofia Vassilieva) gezeugt. Fortan wird Anna (Abigail Breslin) für Organspenden benutzt – bis sie nein sagt.

Der falsche Sohn stirbt

Johnny Cash (Foto) erlebte als 12-Jähriger, wie sein Bruder Jack durch einen Kreissägeunfall starb. Der Vater gab Johnny die Schuld an der Tragödie und bedauerte offen, dass es Jack und nicht Johnny getroffen hatte.

Das Leben nach dem Tod

Joseph Jr. (links), der älteste Sohn von Joseph P. Kennedy (Mitte), fiel im Zweiten Weltkrieg. Erst durch den Tod seines Bruders konnte sich John F. Kennedy (rechts) einen Platz in der Familie erobern.

Aus Bruderneid wird Brudermord

Die ältesten Söhne von Adam und Eva brachten Gott je ein Opfer dar. Der fand größeren Gefallen an Abels Gabe. Kain erschlug daraufhin aus Neid seinen Bruder, wie hier im Gemälde von Bartolomeo Manfredi (ca. 1610).

Wo die Vaterliebe hinfällt

Tristan (Brad Pitt) kann unvernünftig sein wie ein pubertierender Teenager, er kann kommen und verschwinden, wie’s ihm passt – Tristan bleibt der Lieblingssohn von Colonel Ludlow (Anthony Hopkins). Darunter leidet der älteste Sohn Alfred (Aidan Quinn) im Film „Legenden der Leidenschaft“ sehr.

Hat man seine Kinder gleich lieb?

Schon länger ist durch eine Studie belegt, dass 65 Prozent aller Mütter und sogar 70 Prozent aller Väter eines ihrer Kinder bevorzugen. Bei Vätern ist das Lieblingskind meist die jüngste Tochter, bei Müttern ist umgekehrt meist der älteste Sohn am beliebtesten.

Ist es schlimm ein Lieblingskind zu haben?

Ein Lieblingskind zu haben, sei auch kein Problem, solange Eltern nicht ein Kind grundsätzlich bevorzugen und das andere vernachlässigen. «Kinder sind wie Seismographen», erklärt Prof. Hartmut Kasten. «Sie spüren sehr genau, wenn sie benachteiligt werden.

Hat man immer ein Lieblingskind?

Etwa eine viel zitierte Studie der USamerikanischen Cornell University: 70 Prozent der Müt ter und 65 Prozent der Väter, so heißt es darin, bevorzugen eines ihrer Kinder. Fragt man die Kinder selbst, sa gen sogar 85 Prozent: Klar, Mama und Papa haben einen Liebling. Im ungünstigsten Fall denselben.

Kann man das zweite Kind genauso lieben?

Denn man muss seine Liebe plötzlich nicht teilen, wenn ein zweites Kind kommt. Für jedes Kind hat man eine ganz individuelle Liebe da. Und diese wächst sogar mit jedem Tag. Und für all diejenigen, die mich nun fragen, ob ich beide Kinder gleich liebe, denen antworte ich mit einem klaren: Nein!