Wann denn sonst wenn nicht jetzt

Das Krisenjahr 2021 geht zu Ende – nur die Krisen nicht. Der Soziologe Armin Nassehi über fatale Mutlosigkeit, die ästhetische Dimension des Politischen und die alles entscheidende Frage: Wann ist diese Pandemie vorüber?

Ein Interview von Daniel Graf und Theresa Hein, 30.12.2021

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Wann denn sonst wenn nicht jetzt

Beschäftigt sich intensiv mit der überforderten Gesellschaft und hat doch längst nicht alle Hoffnung aufgegeben: Armin Nassehi, Soziologe. Markus Burke

Eines kann man über Armin Nassehi ganz sicher sagen: Der Mann hat ein Gespür für Timing. «Unbehagen» heisst sein aktuelles Buch, der Unter­titel verrät: eine «Theorie der überforderten Gesellschaft». Selten lag harte soziologische Theorie derart nah beim aktuellen Lebens­gefühl. Als wir ihn im Videocall sprechen, trägt der Münchner Soziologie­professor seine Überforderungs­diagnose allerdings mit bemerkens­werter Gelassenheit und geradezu unverwüstlicher Zuversicht vor. Im grossen Jahresend­gespräch wollten wir nicht zuletzt eines von ihm wissen: Wieso diese Gesellschaft es einfach nicht schafft, die Probleme zu lösen, die sich vor ihr auftürmen.

Zur Person

Armin Nassehi, geboren 1960, ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Gesellschafts­theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie der Natur­forscher Leopoldina und stellvertretender Vorsitzender des Bayerischen Ethikrates. 2020 wurde er in den «Expertenrat Corona» des Bundes­landes Nordrhein-Westfalen berufen, der Strategien für die Rückkehr ins soziale öffentliche Leben entwickeln sollte. Sein aktuelles Buch «Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft» erschien vor kurzem bei C. H. Beck.

Da wandert jemand durch Deutschland, vom Süden bis zum Norden, von Oberstdorf bis Sylt, über 2000 Kilometer mit seinem Rucksack auf dem Rücken, und jeden Schritt zu Fuß. Er ist 72 Jahre alt. Er hat viel Zeit, und er muss sich nichts beweisen. Mit offenen Sinnen durchstreift er das Land, vergnügt und zugleich nachdenklich.

Er erlebt einen Sommer von der Blumenpracht des späten Frühjahrs bis zu den ersten Nebeln des kommenden Herbstes. Er durchstreift ein Land von den Almen der Allgäuer Alpen bis zu den Marschen Nordfriedlands. Überall stößt er auf Spuren der Geschichte. Sei es der „Karlsgraben", mit dem Karl der Große die Stromgebiete von Rhein und Donau (aber wozu?) verbinden wollte, sei es jene Grenze, die bis 1991 Deutschland zerteilte und die mancherorts noch immer nicht leicht zu überwinden ist. Überall stößt er auf deutsche Gegenwart, auf Flüchtlinge etwa (wie er selbst in seiner Kindheit einer war) und die teils freundlichen, teils hasserfüllten Reaktionen der Menschen auf sie. In Landwirtshäusern genießt er angenehme Gastlichkeit; in heruntergekommenen Zimmern leidet er mit am Elend des Beherbergungsgewerbes in weiten Landstrichen.

Er sagt von sich: „Ich streife durch das Land, um zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken. Gut ist es, wenn zum Wahrnehmen ein bisschen Verstehen und ein kleines bisschen Empathie hinzukommt."

Über den Autor:

Peter Steinberg, geboren 1943 in Schlesien, als Baby in den Westen getragen, aufgewachsen zunächst im Weserbergland, wurde mit acht Jahren auf der Suche nach dem Wirtschaftswunder nach Frankfurt am Main verschleppt. Das sozialdemokratische Hessen gab dem Arbeiterkind Zugang zur höheren Bildung. Mit wachem Verstand sog er alles Neue begierig auf. Als Jugendlicher glaubte er den Lehren eines pietistisch gefärbten Christentums, als Student denen des Marxismus-Leninismus. Um die Welt zu verändern, mischte er sich in die Kommunalpolitik, zunächst für die Grünen, dann, als diese den Grundsatz der Gewaltfreiheit aufgaben, trotz Bedenken für die Linken.

Sein Berufsleben verbrachte er als Lehrer, zunächst an einer Gesamtschule, dann an einem Gymnasium in Frankfurt. Er lehrte Mathematik, Physik, Erdkunde, Geschichte, Sozialkunde u. a. m.

Er reist gern und viel, fast immer mit seiner Frau Gisela: mit dem Liegerad von Holstein nach Rügen, wandern (in Etappen) von München nach Venedig, aber auch Paddeln in British Columbia, zu Fuß auf Pilgerpfaden im Süden von Honshu – alles Dinge, die man nicht als Pauschalreise bucht. Nicht die sportliche Leistung steht dabei im Vordergrund, sondern Landschaft, Natur und Kultur.

Inhalt

Vorauszuschicken

Liebe Leserin, lieber Leser

Wandern oder Pilgern?

Die Reise

Durch bayerisch Schwaben

Oberstdorf – Augsburg – Harburg (Schwaben) 1. bis 14.Tag

Der Frankenweg

Fränkische Alb

Harburg – Weißenburg – Altdorf – Weißenohe 15. bis 27.Tag

Fränkische Schweiz

Egloffstein – Pottenstein – Bad Staffelstein – Weismain 28. bis 37.Tag

Frankenwald

Kulmbach – Naila – Blechschmidtenhammer 38. bis 41.Tag

Der Rennsteig

Steinbach a. W. – Neuhaus a. R. – Schmücke – Eisenach 42. bis 48.Tag

Von der Werra zur Leine

Creuzburg – Heilbad Heiligenstadt – Göttingen 49. bis 55.Tag

Durchs Weserbergland

Lippoldsberg – Bodenwerder – Hameln – Bad Nenndorf 56. bis 63.Tag

Durch Moor und Heide

Steinhude – Celle – Soltau – Buxtehude 64. bis 74.Tag

Hamburg

Wedel – Hamburg – Siek 75. bis 77.Tag

Holstein

Mölln – Ratzeburg – Malente – Preetz – Kiel 78. bis 86.Tag

Schleswig

Schleswig – Tarp – Flensburg 87. bis 93.Tag

Nordfriesland und Sylt

Schafflund – Neukirchen – Westerland – List 94. bis 97.Tag

Epilog

Zusätze

Weitwandern – praktisch

Mein Rucksack

WANN SONST, WENN NICHT JETZT!

Liebe Leserin, lieber Leser,

natürlich ist es mir am liebsten, wenn du mein Buch auf der ersten Seite aufschlägst, dich sofort darin festliest, ab und zu lachst, gelegentlich nachdenklich wirst und es erst wieder weglegst, wenn du die letzte Seite gelesen hast.

Aber vielleicht willst du ja erst einmal in dem Buch blättern, hier über eine Gegend lesen, die du gut kennst, dort eine erkunden, die dir ganz fremd ist. Dann wirst du auf Bemerkungen stoßen, die du nicht verstehst, weil sie sich auf vorher Gesagtes beziehen. Deshalb habe ich Fußnoten eingefügt, Verweise auf frühere Stellen. Du kannst ihnen nachgehen, wenn du magst.

Andere Fußnoten erklären Begriffe, die für das Verständnis nötig, aber nicht allgemein bekannt sind. Sie habe ich gering gehalten; dafür gibt es ja heute das Internet. Manchmal allerdings wollte ich etwas anmerken, das in keinem Print- oder Onlinelexikon steht …

Längere Ausführungen zu Themen am Rande habe ich in „Infokästen" gepackt. Aber Vorsicht! Sie enthalten zwar immer handfeste Informationen, aber auch meine persönliche Sichtweise und manchmal gewagte Spekulationen. Vielleicht findest du die ja anregend.

Mein Dank gilt in erster Linie Gilla, meiner Frau. Sie hat diese Reise ermöglicht, indem sie bereit war, mich ein Vierteljahr zu entbehren. Sie hat auch meine Texte als erste gelesen, manchmal zu Recht verrissen, meist aber sehr konstruktiv kritisiert. Thomas Müller hat eine gewaltige Arbeit für mich geleistet, indem er den ganzen Text sachlich (bis zu den Hausnummern!), orthografisch und sprachlich kontrolliert hat. Ulrich Sonnenberg danke ich für die Beratung in Fragen der Vermarktung und für die Vermittlung von Kontakten, vor allem aber für Zuspruch und Ermutigung in einer frühen Phase des Projekts. Anita Kessler danke ich für ihre Korrekturarbeit am Schluss. Von allen anderen, die mich ermutigt, beraten und unterstützt haben, will ich hier nur Angelika Klein-Wittmeier nennen und Bernard Brown. Professionelle Hilfe bekam ich von Rainer Vollmar bei der Textgestaltung und von Christiane Hahn bei Umschlag und Layout. Die Zusammenarbeit mit den beiden war ebenso fruchtbar wie angenehm.

Eine Bemerkung noch: Für die kleinen Dinger, die wir alle dauernd mit uns rumtragen, schreibe ich Händi, weil das ein hübsches, passendes Wort ist, aber kein Englisch.

Frankfurt am Main, im März 2019

Peter Steinberg

„Hinter Schlipsheim stoße ich auf eine kleine Kapelle, die ist gut als Hintergrund für das Foto, das ich Gilla schicken will." (Seite →)

Wandern oder Pilgern?

Manch einer, dem ich von meinem Plan erzählte, fragte mich: „Warum eigentlich nicht den Jakobsweg?" Da wurde ich dann immer etwas unwirsch und fragte zurück: „Warum eigentlich den Jakobsweg?So bin ich eben gestrickt: Was allzu „in ist, meide ich eher.

Eine ernsthaftere Antwort wäre gewesen: Weil ich mir Deutschland ansehen will und nicht Spanien. Deutschland liegt mir einfach näher.

Natürlich hätte ich auch in Deutschland einen der vielen Jakobswege gehen können, und ich habe es auf vielen hundert Kilometern getan. Jakobswege gibt es überall, von Schwaben bis Schleswig. Ich denke, ein Landrat müsste mit dem Klammerbeutel gepudert sein, wenn er nicht dafür gesorgt hat, dass sein Landkreis irgendwie an das Jakobswegenetz angeschlossen ist. Pilgerwege sind für Weitwanderer fast unvermeidbar, und natürlich hatte ich keinen Grund, sie zu vermeiden. Sonderlich auf sie geachtet habe ich nicht; meist wurde ich von anderen darauf aufmerksam gemacht und gefragt, ob ich auf einer Pilgerfahrt sei.

Ich habe Leute getroffen, die gingen denselben Weg wie ich, nicht so weit, ein paar Tage nur, und sie sagten, sie pilgerten auf dem Jakobsweg, und machten bedeutsame Gesichter. Wahrscheinlich haben sie noch ganz Anderes erlebt als ich unspiritueller Knochen.

Die Wirtstochter, die mich in Egloffstein zum Arzt fuhr, fragte mich, ob ich pilgere. Als ich von ihr wissen wollte, was der Unterschied zum Wandern sei, dachte sie einen Augenblick nach und sagte: „Ja, das Marketing wohl." – Offenbar wünschte sie sich, ihr Wirtshaus läge am Jakobsweg und nicht am so wenig beachteten Frankenweg.

Einen Grund muss es aber geben, warum das sonst so wirkungsvolle Pilger-Marketing bei mir nicht ankommt.

Pilger zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf der Suche sind. Sie suchen Gott oder sich selbst oder den Sinn des Lebens oder die Antwort auf die Frage, warum ihre Frau sie verlassen hat. Oder einfach Ruhe und Abstand von der täglichen Hetze. Wobei die Übergänge zwischen all diesen Dingen fließend sein können.

Ich bin kein Pilger, weil ich nichts suche.

Anfangs wusste ich das nicht so genau. Eine Zeit lang habe ich damit gerechnet, dass mir beim Gehen in der Einsamkeit tiefgründige Gedanken kommen. Sie kamen aber nicht. Einmal hatte ich unterwegs einen Traum, der mir bedeutend vorkam. Aha, dachte ich, jetzt geht‘s los. Es kam aber nichts nach. Ich bin, was das Spirituelle angeht, offenbar ein hoffnungsloser Fall.

Ich streife durch das Land, um zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken. Gut ist es, wenn zum Wahrnehmen ein bisschen Verstehen und ein kleines bisschen Empathie hinzukommt.

„Aha, wird nun mancher sagen, „er sucht also doch etwas: Erfahrungen. Na schön, es ist ja kaum zu vermeiden, dass man beim Reisen klüger wird. In erster Linie aber geht es mir um Genuss.

Seit ich zurück bin, beglückwünschen mich Leute zu „der tollen Leistung. Ich will ja nicht bestreiten, dass ich etwas geleistet habe. Trotzdem finde ich das unpassend. Lieber sollten sie mich zu „dem tollen Erlebnis, „der tollen Zeitoder meinetwegen „der tollen Erfahrung beglückwünschen.

Denn ich wanderte, wie man in Frankfurt sagen würde, „aus Spass anner Freud".

Mittwoch, 18. Mai 2016 – 1. Tag

Oberstdorf Bahnhof → Hinang, STADT SONTHOFEN

13,4 km,

Wann denn sonst wenn nicht jetzt
620 Hm,
Wann denn sonst wenn nicht jetzt
604 Hm

Pünktlich um 14 Uhr 18 kommt mein Zug in Oberstdorf an. Ich kaufe rasch ein Brötchen in der Bahnhofsbäckerei, esse es im Gehen und strebe der Brücke über die Trettach zu, an der mein großes Abenteuer beginnen soll. Für den ersten Tag – es ist ja nur ein halber – habe ich ein Schmankerl¹ ausgesucht: den Walraffweg, einen Höhenweg über dem Trettach- und Illertal in 1000 bis 1200 Metern Seehöhe.

Hinter der Brücke stoße ich auf ein Warnschild: „Walraffweg wegen Holzarbeiten gesperrt. Umleitung über Rubi." Rubi liegt unten im Tal, nahe bei meinem Zielort. Den glanzvollen Auftakt für die Wanderung meines Lebens könnte ich damit vergessen. Das aber kann nicht sein, beschließe ich, sage mir, nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird, und mache mich trotzig an den Aufstieg.

Der führt mich zunächst zur Skiflugschanze. Eine Strecke weit verläuft hier der Wanderweg unter den Sitzreihen der Tribüne. Eine eigentümliche Landschaftsgestaltung ist das, finde ich.

Nun ja, hier findet jährlich die Auftaktveranstaltung der renommierten Vierschanzentournee statt, und Wintersport – der zum Zuschauen mehr als der zum Selbermachen – wird groß geschrieben. Wer wird sich da an kleinen landschaftlichen Absonderlichkeiten stören.

Mehr würde mich aber interessieren, was es mit der Wegsperrung auf sich hat. Es kommen reichlich Wanderer entgegen, aber die kann ich nicht befragen. Sie kommen alle von der Mittelstation des Sessellifts herunter. Wo der Walraffweg von dieser Route abzweigt, steht noch eine Tafel: „Holzarbeiten. Gesperrt." Nun ist da auch ein rot-weißes Sperrband, allerdings nicht über den Weg gespannt, sondern am Boden liegend. Das gibt mir Zuversicht. Dann überholt mich ein Mountainbiker, er fährt bedenkenlos über das Band weg. Von hinten sieht er eigentlich aus wie jemand, der sich auskennt; das stärkt meine Zuversicht. Es kommt jetzt niemand mehr entgegen; das lässt mich wieder zagen.

Immerhin muss ich feststellen, dass sich das Risiko lohnt. Das Illertal, ebenso geschäftig wie beschaulich, ebenso verkehrsreich wie grün, liegt zu meinen Füßen. Hier oben zeigen Laubbäume und Wiesen noch ein zartes Frühlingsgrün. Zur Rechten sehe ich den markanten Grünten, den „Wächter des Allgäus". Seine Südseite erscheint von hier als ein schwarzes Dreieck. Und von der linken Seite grüßen die Gipfel der Allgäuer Alpen, mit viel Schnee noch an ihren Nordflanken. Dieser Schnee hat verhindert, dass ich meine Wanderung wirklich am südlichsten Punkt Deutschlands beginnen kann.

Der Mountainbiker ist nicht zurückgekommen; das ist nun wieder ein gutes Zeichen.

Dann, nach zwei Stunden Wanderung, scheint es ernst zu werden mit der Wegsperrung. Da vorne sind große Warntafeln, und der Weg ist mit Sperrbändern abgeriegelt. Doch als ich kurz vor dem Hindernis bin, kommt mir ein Wanderer entgegen, der schlupft einfach unter den Bändern durch. – Nein, da sei weiter nichts, heute werde sowieso nicht mehr gearbeitet, und das gesperrte Stück sei nur ganz kurz. – Das stimmt, es sind vielleicht siebzig Meter, und von Waldarbeitern ist weithin nichts zu sehen oder zu hören.

Am Ende des Weges treffe ich auf ein Grüppchen junger Wanderer, die zagend vor dem Warnschild für die Gegenrichtung stehen, und kann ihnen eine entwarnende Auskunft geben. So jemanden wie mich hätte ich bei meinem Aufbruch auch gebraucht.

Es geht nun ein Stückchen abwärts in eine kleine Waldschlucht. Als ich die durchquert habe, sehe ich die Gaisalpe hoch oben über steilen Almwiesen. Das sieht auf den ersten Blick erschreckend aus für jemanden, der zehn Kilo auf dem Buckel hat und heute schon ein Stück weit gestiegen ist. Immerhin führt ein bequemes Sträßchen da hinauf. Nur darf ich jetzt nicht auf die Idee kommen, ich müsse das schnell hinter mich bringen. Ich steige langsam, Schritt für Schritt, nicht anders, als läge das Ziel in weiter Ferne. Und schau an: In zehn Minuten bin ich oben, ohne außer Atem zu sein. Es waren im Ernst kaum sechzig Höhenmeter.

Die Alpe erweist sich als ein typischer Berggasthof mit prachtvollem Ausblick, einfacher Speisekarte und gemütlicher Atmosphäre. Ich genieße von diesen Angeboten nur den Ausblick, denn es zieht mich weiter. Nur weiß ich nicht, wo es langgeht, ich muss fragen. – Ja, unten ums Haus herum. – Dort, wo der Esel steht? – Ja, dort. – Aha, deswegen konnte ich den Weiterweg nicht sehen: Das Tier steht im Weg, im wahrsten Sinne des Wortes. Es lässt mit sich reden, ich darf an ihm vorbei.

Hinter dem Esel erwarte ich den zweiten Höhenweg des heutigen Tages, auf den ich mich freue. Da führt aber erst einmal ein kleiner Pfad bergan, dann über ein Bächlein, dann durch Wald hinauf, und diesmal wirklich steil. Das erfordert Disziplin, denn ich will mich nicht verausgaben, und in meiner gegenwärtigen Verfassung heißt das, dass ich nur im Schneckentempo vorankomme. Trotzdem: Jeder Schritt bringt mich ein paar Zentimeter höher. Und siehe da: Nach zwanzig Minuten habe ich diesen Anstieg geschafft.

Der Höhenweg verläuft jetzt flach über Wiesen. Und er bietet fast noch schönere Ausblicke als der vorige; ein paar nette Ruhebänke gibt es auch.

Danach finde ich allerdings, dass es für den ersten Tag bald reicht. Die letzten paar Kilometer zu meinem Gasthaus in Hinang will ich im Tal zurücklegen. Ein dritter, kürzerer Höhenweg, der noch auf dem Programm stand, wird gestrichen. – Zur Strafe für diese Schwachheit stolpere ich zwei öde und unwegsame Kilometer weit über eine verlassene Straßenbaustelle.

Vor dem Essen rufe ich Gilla an. Ihr ist es nicht leicht gefallen, mich auf diese lange Reise gehen zu lassen. Die ungeschriebenen Regeln unserer Ehe verbieten es zwar, dass sie mein Vorhaben in Frage stellt oder mich gar bittet, es zu lassen. Im Gegenteil, sie hat mich sogar ermutigt. Aber sie hat mehrfach gesagt, sie werde mich vermissen. Einmal sogar, sie werde mich sehr vermissen. Das hat mich ein bisschen überrascht, denn im Alltag habe ich nicht oft das Gefühl, gebraucht zu werden. Manchmal kommt man sich doch eher vor wie ein notwendiges Übel. – Ich erzähle ihr begeistert von meinem ersten Tag. Dazu musste ich allerdings meine Jacke anziehen, denn im Gasthof habe ich kein Netz, und draußen hat es ein wenig zu nieseln begonnen. Gut, dass ich „zu Hause" bin.

Zum Abendessen gibt es das, was es immer als erstes gibt, wenn ich nach Bayern komme: einen Schweinsbraten mit Knödeln und Rotkohl. Auf der Speisekarte steht „Schweinebraten", was mich befremdet; was müssen das für Schweinderl sein, dass man gleich mehrere für einen Braten braucht! Vielleicht liegt das daran, dass ich gar nicht wirklich in Bayern bin, sondern in (bayerisch) Schwaben. Jedenfalls schmeckt’s, wie ein Schweinsbraten schmecken soll.

„Das Illertal, ebenso geschäftig wie beschaulich, ebenso verkehrsreich wie grün, liegt zu meinen Füßen." (Seite →)


¹ auf Deutsch: ein highlight

Donnerstag, 19. Mai 2016 – 2. Tag:

Hinang → Dreiangelhütte, STADT SONTHOFEN

17,6 km,

Wann denn sonst wenn nicht jetzt
522 Hm,
Wann denn sonst wenn nicht jetzt
355 Hm

Das Nieseln von gestern Abend hat sich zu einem leichten Regen ausgewachsen. Wo die Wolken ein bisschen Blick auf die Berge freigeben, sehe ich Neuschnee bis hinunter in die Almenregion, dort, wo ich gestern über grüne Wiesen gegangen bin.

Ich steige hinauf zu den Hinanger Wasserfällen. Um diese Zeit und bei diesem Wetter ist außer mir kein Mensch unterwegs. Es ist ein steiler Pfad in einem verwunschenen Winkel. Ich werde allmählich nass und kann nicht entscheiden, was davon Schweiß und was durchdringender Regen ist. Die Wasserfälle sind nicht spektakulär, aber nett anzusehen. An einer Stelle führt der Weg hinter einem Vorhang von Tropfen durch. Nasser werde ich dort nicht mehr.

Oben angekommen, geht es über Wiesen und durch kleine Dörfchen weiter – es hat aufgehört zu regnen, ich werde allmählich wieder trockener – und zum Schluss am Schwarzenbach entlang. Das soll der schönste Weg nach Sonthofen hinein sein, aber jetzt ist da eine Baustelle. Und da ich nach den Erfahrungen von gestern Warnschildern nicht mehr glaube, laufe ich bis vor den Bauzaun und muss dann einen großen Bogen um die Kaserne herum gehen.

Dabei suche ich die ganze Zeit nach der „Burg Sonthofen, die auf meiner Karte verzeichnet, aber nicht zu sehen ist. Wikipedia belehrt mich, dass da gar keine mittelalterliche Burg ist, sondern eine von den Nationalsozialisten erbaute „Ordensburg, eine Ausbildungsstätte für NS-Führungspersonal. Heute nutzt die Bundeswehr die Gebäude. „Generaloberst-Ludwig-Beck-Kaserne" haben sie das Gemäuer genannt. Hoffentlich kann Becks Geist dem schlimmen Nazi-Geist, der aus den Steinen dünstet, genug entgegensetzen.

Im Stadtzentrum suche ich das Tourismusbüro auf und frage nach Weitwanderwegen Richtung Norden. Man holt einen Mitarbeiter, der sich da auskennt, und der nennt mir den Schwäbisch-Allgäuer Wanderweg; dieser geht von Sonthofen bis Augsburg. Irgendetwas Gedrucktes über diesen Weg hat er nicht, aber ich kriege einen Computerausdruck mit dem groben Verlauf und finde, das könnte für die nächste Zeit eine gute Orientierung sein.

Sonthofen verabschiedet mich mit einer Allgäuer Käsesuppe. Die ist sicher vor langer Zeit erfunden worden, um die Reste aus der Käseproduktion zu verwerten. So wie sie hier zubereitet wird, ist sie eine leckere Überraschung. Erwärmt und gestärkt geht es aus der Stadt hinaus.

Jetzt wird es noch mal feucht und steil, denn ich steige durch die Starzlachklamm hinauf. Da würde man selbst bei Sonnenschein nicht trocken bleiben, und es regnet wieder ein bisschen. Trotzdem – auch diese Klamm beeindruckt mich.

Ein fünf Kilometer langer Höhenweg führt nun, immer auf etwa tausend Metern, zunächst hoch über der mir entgegenstürzenden Starzlach entlang, bis schließlich Bach und Weg die gleiche Höhe haben und ich auf einem Brücklein zur Dreiangelhütte hinüber kann. Dort sehe ich zum ersten Mal das blaue Kreuz, das Zeichen des Schwäbisch-Allgäuer Wanderweges.

Der Wirt hatte mich schon am Telefon nach meinen Plänen gefragt und begrüßt mich mit einer Begeisterung, die meinen bisherigen Leistungen ganz unangemessen ist. Diese Begeisterung teilt sich den übrigen Gästen mit – es sind vier – und sie zollen mir, oder eher meinem Vorhaben, ordentlich Respekt. Der lässt allerdings ein wenig nach, als sie hören, dass ich „erst" 72 bin. Jaa, in dem Alter kann man sowas noch machen!

Die vier sind Schwaben, zwei Ehepaare. Sie sind ebenfalls heute angereist, um morgen die Goldene Hochzeit des einen Paares zu feiern.

Es wird ein vergnügter Abend. Der Wirt trägt einen wesentlichen Teil der Unterhaltung. Er hat viele vernünftige Gedanken zur richtigen Lebensführung und zur Verbundenheit mit der Natur, und er trägt diese enthusiastisch vor. Abschalten vom Datenstrom, den Vogel sehen, den Bach hören, den Pilz riechen, den Holzklotz spüren, das führt uns zu uns selbst zurück².

Er ist, wie er sagt, ein extrovertierter Hypersensibler. Es gebe introvertierte Hypersensible und extrovertierte Hypersensible. Seine Frau sei auch hypersensibel, auch extrovertiert, die Kinder auch, aber eher introvertiert.

Die Schlutzkrapfen, die er mir vorsetzt, sind übrigens delikat; so sensibel, das zu bemerken, bin sogar ich.


² Dass er auf meine Frage, ob es hier WLAN gibt, nur unwillig den Kopf schüttelt, versteht sich von selbst. Hier gibt es weder mobilen Datenempfang noch Händinetz, und das hält er für einen Segen. Ich sehe ja ein, dass es segensreich ist, sich vom Datenstrom abzuschalten, aber meinen weiteren Reiseweg planen würde ich halt doch gern. Und ausreichend Kunde von der realen Welt in etwa zwanzig Kilometern Entfernung kann er mir auch nicht bieten.

Freitag, 20. Mai 2016 – 3. Tag

Dreiangelhütte → Oy, GEMEINDE OY-MITTELBERG

21,4 km,

Wann denn sonst wenn nicht jetzt
273 Hm,
Wann denn sonst wenn nicht jetzt
324 Hm

Das Sträßchen, das sich an der Dreiangelhütte vorbei weiter das Tal hinauf zieht, heißt Königssträßle, und es zeigt sich, dass es wirklich ein Königsweg für Wanderer ist: Es steigt nur noch ganz sachte an, und die Passhöhe ist dann kaum wahrnehmbar. Dazu passt, dass, als es endlich wieder bergab geht, der Bach seinen Namen kaum geändert hat. Statt der Starzlach begleitet mich nun die Wertacher Starzlach durch das breite, waldige Tal.

Und so flach der Pass auch ist, hier endet das Funkloch, in dem die Dreiangelhütte liegt. Ich setze mich auf einen Stein und halte einen fröhlichen Schwatz mit Gilla.

Am Talausgang stehe ich vor einer Wahl: Nach links könnte ich zu dem Höhenzug zwischen Rottach- und Grüntensee hinaufsteigen und käme dann auf einem langen Kammweg zu meinem Zielort Oy. Dorthin will mich auch der Schwäbisch-Allgäuer führen. Andererseits habe ich kein Picknick, und vor allem: Wegen des „segensreichen" Funklochs habe ich noch kein Quartier für morgen Abend. Also will ich zum Markt Wertach. Da gibt es was zu essen und ein Touristenbüro. Und dorthin geht es nach rechts.

Ich entscheide mich für den Mittelweg. Der geht nun nicht geradeaus, denn da liegt das Hühnermoos, und das ist weglos. Ich werde zunächst zur Höhe hinauf steigen, dem Kammweg bis ungefähr zur Mitte folgen, und dann nach rechts absteigen in den Ort.

Als ich meinem Wegzeichen, dem blauen Kreuz, folgen will, zeigt sich eine Tücke des Schwäbisch-Allgäuer Weges: Er führt gar nicht von Sonthofen nach Augsburg, sondern von Augsburg nach Sonthofen. So jedenfalls ist er ausgeschildert. Das bedeutet, dass mir an jeder Weggabelung angezeigt wird, woher ich gekommen bin, aber kaum je finde ich einen Hinweis darauf, wo es weitergeht. Zum Glück habe ich eine gute Karte.

Der Kammweg ziert sich ein bisschen, bis er den Blick auch nach Westen frei gibt, aber dann fühle ich mich als Herr der Welt. Links blicke ich auf den Rottachsee und darüber weit hinaus ins Allgäuer Hügelland, rechts ins grüne Tal des Grüntensees und auf den Marktflecken Wertach, und hinter mir grüßt der Grünten. Er zeigt jetzt seine Nordflanke, in der noch viel Schnee liegt; dahinter, teils in Wolken, die tiefer verschneiten Allgäuer Alpen.

Was da als malerische Voralpenseen zu meinen Füßen liegt, ist freilich Menschenwerk. Die Stauseen gibt es erst seit 1992 beziehungsweise 1962. Vom Rottachsee weiß ich, dass der Widerstand der Landschaftsschützer und der Landeigentümer zäh war. Die Idee, die Rottach zu stauen, gibt es seit 1904, durchgesetzt hat sie erst der Freistaat Bayern in den 1970er Jahren.

Beim Abstieg nach Wertach lässt mich meine Karte doch im Stich. Ich will nicht einfach einem Sträßchen folgen, sondern wähle einen schmalen Wiesenweg. Der endet unversehens auf einer Kuhweide. Eine Handvoll junge Rinder dort halten mich wohl für ihre Leitkuh. Während ich hin und her nach der Fortsetzung des Weges suche, kommen sie mir auf Schritt und Tritt nach. Schließlich muss ich durch einen Tobel³ kraxeln. Da können sie nicht hinterher, schauen mir noch eine Weile nach und wenden sich dann wieder ihrer Pflicht zu: fressen und schlachtreif werden. Ich lande auf einer Wiese mit schönem hohen Gras und trampele ohne Weg, aber mit schlechtem Gewissen, dem ungeliebten Sträßchen zu.

Im Ort unten kann ich ein Zimmer für morgen Abend buchen und erhalte eine kräftige Gulaschsuppe. Der Wirt hätte gern ein Essen verkauft, die Tageszeit wäre richtig, aber ich kann nicht zusätzlich zu meinem Rucksack vorne noch ein Ränzlein schleppen.

Ein Ungemach mit meinem Rucksack habe ich sowieso: Er scheuert an der rechten Seite unangenehm an meinem Rücken. Das fing gestern an, heute wird es ein bisschen schmerzhaft. – Wäre dies mein alter, unbequemer Rucksack, so würde ich ihn verfluchen und schauen, wo ich einen besseren herkriege. Es ist aber der bewährte komfortable Markenrucksack, den Gilla mir für die Wanderung geliehen hat. An ihm kann es nicht liegen, also liegt es wohl an meinem Rücken. Ich habe nämlich eine ordentliche Skoliose, vulgo einen Buckel, nicht gerade entstellend, doch recht deutlich. Ein Pflaster müsste ich aufkleben, nur wie klebt man sich ein Pflaster auf das rechte Schulterblatt ziemlich weit innen?

Der Grüntensee hat trotz seines jugendlichen Alters schön bewachsene Ufer und ein Feuchtgebiet an seinem oberen Ende. Da tummeln sich zahlreiche Wasservögel. Es haben sich Biotope entwickelt, die sicher auch Naturschützer erfreuen. Was hier vorher war und dafür verloren gegangen ist, kann ich freilich nicht beurteilen.

Es gibt einen Campingplatz und einigen Tourismus. Eine Kindergruppe, geführt von einer Halbwüchsigen, überholt mich joggend.

Das Oyer Landhotel liegt zentral, aber etwas versteckt im Orte Oy, ein geräumiges Haus mit noch einem Nebengebäude. Die Wirtin empfängt mich selbst; ich bin zurzeit der einzige Gast. Wann es Abendessen gebe, will ich wissen. – Nun, wenn ich Hunger hätte.

Das ist um sieben Uhr der Fall. Ich gehe in den Gastraum und stelle fest, dass ich immer noch der Einzige bin. Es gibt eine reichhaltige Speisekarte. Nach dem vegetarischen Tag gestern leiste ich mir ein überbackenes Schweinesteak. Die Wirtin bedient, ihr Mann kocht. Ich mache eine Bemerkung darüber, dass sie für mich allein die Küche anwerfen müssten. – Das mache gar nichts, ihr Mann koche gerne. Außerdem komme später ein Reisebus.

Das Steak ist auf den Punkt gebraten, und vor allem die Bratkartoffeln sind ausgezeichnet. Gäste sind bis jetzt keine gekommen. Und heute ist immerhin Freitag. Ich überlege, wie die beiden wohl ihre Unkosten decken.

„Und als ich mich umschaue, prangen da noch einmal die schneeweißen Allgäuer

Alpen und darüber ein paar Wattewölkchen als Verzierung." (Seite →)


³ ein steilwandiges Bachbett mit Baumbewuchs

Samstag, 21. Mai 2016 – 4. Tag

Oy → Unterthingau, OSTALLGÄU

22,1 km,

Wann denn sonst wenn nicht jetzt
128 Hm,
Wann denn sonst wenn nicht jetzt
291 Hm

Von dem Trubel, den eine Busladung Gäste machen müssten, habe ich gestern nichts mitbekommen. Beim Frühstück bin ich wieder allein. – Doch, der Bus sei gestern noch gekommen. Es seien nicht viele Leute gewesen, aber ein sehr vergnügter Abend.

Als ich den Rucksack aufsetze, wird sofort klar, dass zwischen ihm und meinen Buckel eine Pufferzone eingerichtet werden muss. Nebenan ist eine Apotheke, ich kaufe sechs mal zehn Zentimeter große Pflaster und gestehe der Verkäuferin, dass ich nicht weiß, wie ich eines davon applizieren soll. – „Das können Wir schon machen", sagt die junge Dame im Pluralis majestatis, und ich ziehe mein Hemd hoch. Sie sieht sich die Sache an, macht ein bedenkliches Gesicht und bezweifelt, dass ein einfaches Pflaster genügend Polsterung wäre. Stattdessen empfiehlt sie ein Blasenpflaster entsprechender Größe, Preis acht Euro. – Nun, die halten eine Weile, das kenne ich. Ich rechne kurz: Jede Woche ein solches Pflaster, das macht bis Sylt 120 Euro. Das kann ich mir leisten. – Ich will noch vorschlagen, die Haut um die wunde Stelle erst abzutrocknen, da klebt das Pflaster schon. – Wird wohl richtig sein, denke ich, schließlich hat sie eine Ausbildung. Die Behandlung hilft, das merke ich gleich.

Mein Weg führt in einsames Ostallgäu. Sanftes Hügelland ist das, weite Wiesen, saftig grün und herrlich bunt, Rindvieh auf den Weiden, manchmal viele Kilometer weit kein Dorf und kein Mensch. Die Bachtäler sind waldig. Ich summe ein Liedchen, und keiner muss es anhören.

Mitten in einem solchen finsteren Tälchen steht auf einmal ein rotes Männlein auf dem Weg, still und stumm wie im Kinderlied. Beim Näherkommen erweist es sich als ein Herzchen-Luftballon, dessen Gasfüllung die lange Schnur nicht mehr tragen kann, und der – gerade noch sich selbst tragend – ein paar Zentimeter über dem Boden schwebt. Das sieht so traurig aus, dass ich ihn an den Rucksack binde und mitnehme. Das wieder sieht recht albern aus, was mir mangels Publikum egal sein kann. Sicher treffe ich irgendwo auf ein Kind, dem ich den Ballon schenken kann.

Die Landschaft wird karger, ich komme durch Gebiete, die sich Moos⁴ nennen, aber verbuscht sind und kaum noch feucht. Hier ist es belebter; es sind ausschließlich Radler, die den Weg mit mir teilen, etwa ein Drittel davon mit E-Bikes. Was sie über meinen Luftballon denken, soll mich nicht kümmern, denn Kinder als Abnehmer haben sie nicht zu bieten. Bei einem Hof schließlich sehe ich immer noch keiner Kinder, aber ihr Spielzeug. Da binde ist das Herzgebilde an ein Klettergerüst.

Gleich darauf kommt ein Achtjähriger entgegen, der, hinter seinem Vater her, sein Rädchen durch Schotter einen Hügel hinauf quält. Vielleicht hätte ihm eine Zierde am Rad den Ausflug ein bisschen versüßt. Schade.

Vor mir liegt Oberthingau, bildhübsch zwischen seinen Wiesen, dekoriert mit Weidevieh und Einzelbäumen. Und als ich mich umschaue, prangen da noch einmal die schneeweißen Allgäuer Alpen und darüber ein paar Wattewölkchen als Verzierung. Ich bin voller Wonne und wähne mich am Ziel.

Das Wirtshaus, das angezeigt wird, heißt Zum Hirsch. Das kommt mir fremd vor, ich muss auf meinen Zettel schauen. Richtig, ich suche den Adler, von dem sehe ich nichts, ich muss fragen. – Ach so, der Adler befindet sich nicht in Ober- sondern in Unterthingau! Das sind noch zwei Kilometer auf einem Radweg neben der Straße. Wie ärgerlich.

Der Adler ist ein bodenständiges Gasthaus, seit 1655 in der Familie, und seitdem ist er für Dörfler da wie auch für Reisende. Möge es noch lange so bleiben. Um das abzusichern, wirbt der Wirt gezielt auch bei Motorradfahrern.

Vor dem Duschen will ich das Pflaster fest an meinen Rücken andrücken und wälze mich zu diesem Zweck auf dem Bett. Als ich mich wieder aufsetze, klebt das Ding nicht wo es soll, sondern am Laken. – Jeden Tag ein Pflaster für acht Euro, da brauche ich nicht zu rechnen, das geht nicht. – Ich entdecke in der Rückenkonstruktion des Rucksacks eine federnde Stange, die für die Reibereien mitverantwortlich sein könnte, und polstere sie mit Papiertaschentüchern.