Was bedeuten kleine Steine auf dem Grabstein?

Humor, Wucher, Weltverschwörung: Die geläufigsten Vorurteile gegenüber Juden und was es mit diesen auf sich hat 

ISBN: 978-374-3181-205

Taschenbuch: 260 Seiten

13 Euro

 

Oft werden wir nach der Bedeutung und Herkunft der überall anzutreffenden Sitte gefragt, auf jüdischen Grabsteinen und Denkmälern Steinchen, meist Kieselsteine abzulegen. Allgemein wird dies auch von sog. Fachleuten mit einer für  „Nomaden“- oder „Wüstenvölker“ angeblich typische Bestattungspraxis erklärt.  Demnach legte man auf die Grabstätte Steinhaufen, um den Leichnam vor wilden aasfressenden Tieren zu schützen. Der Vorstellung nach hatten Angehörige bei jedem Besuch ab und an weitere Steine dazugelegt, um diesen Schutz zu erneuern, woraus sich sodann der entsprechende Brauch entwickelt habe. Sollte es ein solches Brauchtum tatsächlich jemals gegeben haben, so hatten die (… wann eigentlich?) „nomadisierenden“ Juden ihn wohl bereits vergessen, als sie in Israel sesshaft wurden, zumindest kennen weder Bibel noch der Talmud eine entsprechende Praxis.  Sie wäre auch gänzlich unnötig, wenn man den Leichnam tief genug begräbt …

Tatsächlich geht die Praxis aber wohl doch auf die im antiken Israel übliche Bestattung zurück, die jedoch in vielen Einzelteilen von der heutigen abweicht. In aller Regel wurden Tote selten auf Äckern oder eigenen Grabfeldern bestattet, sondern in Grabhöhlen, die meist einzelnen (Groß-)Familien gehörten und oft -etwa wie im antiken Ägypten- eigens für den Zweck der Bestattung künstlich geschaffen wurden und nicht selten über einen Zugang mehr oder minder tief unter die Erde, bzw. in den Felsen reichten.

Die Bestattung vollzog sich anders als heute in zwei Schritten. Zuerst wurde der Leichnam auf einer Art Steinbett zur raschen Verwesung aufgebahrt, später wurden die Knochenreste eingesammelt und gesäubert, um sie endgültig in einem kleinen, platzsparenden, meist in etwa quadratischen Steinbehälter, lat. Ossarium („Knochenhaus“) zu legen, welches sodann in einer Nische כוך (kùch) in einer Seitenwand der Familiengruft beigesetzt wurde. Sehr häufig wurden diese Behälter beschriftet mit dem Namen des Verstorbenen. Die Grabhöhle oder der Teilbereich einer Grabhöhle, etwa der der einer einzelnen Familie gehörte, wurde mit einem beweglichen, גולל (golèl) genannten Stein verschlossen, der seinem Namen nach meist rundlich war, aber auch in quadratischer Form belegt ist. Zur Festigung oder Sicherung dieses Golel-Steines nun benutzte man kleine Steine, den sogenannten דופק (dofèk), der nach jedem Besuch der Grabhöhle neu gelegt wurde, wörtlich etwa „der (An)Klopfer“ (vom Verb דפק dafak = (klopfen) und im heutigen Sprachgebrauch der (medizinische) Puls. Schon bei der Bestattung heißt es deshalb entsprechend דופק סתימת הגולל – der Dofèk verschließt den Golèl (Ket. 4b, Sanh. 47b, u.a.).

Als Dofèk nun durfte man nichts verwenden, was selbst gelebt hat, also nichts was von einem Tier oder einer Pflanze stammte, weshalb der Einfachheit halber der Brauch entstand, keilförmige oder andere kleine Steinchen als Abschluss zu nehmen. Im sprichwörtlichen Sinne führte dies auch zu Redensarten wie  לא דופק לסוכה … ולא גולל לקבר – (wörtlich: kein dofek für die Sucka [da zu groß] und kein golel fürs Grab [da zu klein]), sinngemäß etwa: weder das eine, noch das andere (nichts Halbes und nichts Ganzes, weder Fisch, noch Fleisch, etc.).

Der Brauch, einen Stein ans Grab zu legen stammt demnach aus der antiken Bestattungskultur der nahöstlichen Grabhöhlen, für deren Existenz uns schon die Tora das Beispiel der Machpela – Höhle bei Hebron gibt, die Abraham für seine Familie erwirbt. Sie ist keineswegs auf das Judentum beschränkt, so wie sich der Brauch kleine Steine auf das Grab zu legen auch in manchen katholischen Gebieten Italiens erhalten hat. Auch das Christentum überliefert z.B. im Evangelium Markus 16 den Golel.

Es ist zunächst die praktische Funktion des Dofèk, der als eine Art Riegel oder Sperre das unbeabsichtigte Wegrollen oder Verrutschen des meist runden Golèl verhindern soll, zugleich ist es aber im Wortsinn auch ein „Anklopfen“ (des Steinchens an den Grabstein) und deshalb auch ohne die frühere praktische Funktion als „Gruß“ an den Toten zu verstehen.

Was bedeuten kleine Steine auf dem Grabstein?

Why are pebbles laid on Jewish grave markers?

The common custom to leave little stones or pebbles on Jewish head stones goes back to the ancient Jewish funeral practice, when the corps was lay to rest in burial caves. The particular section of the burial cave then in the majority of the cases was locked with a round roll able stone (the golèl). In return to avoid the rolling away of the round golel, the stone was fixed with a smaller stone, called the dofèk (to knock) a word in modern Hebrew also means the pulse. To leave the stone today at a visit means to knock on the grave.

 

März 2017: Ausführlicher beschrieben im Buch:

Yehuda Shenef

Humor, Wucher, Weltverschwörung: Die geläufigsten Vorurteile gegenüber Juden und was es mit diesen auf sich hat 

ISBN: 978-374-3181-205

Taschenbuch: 260 Seiten

13 Euro

 

Was bedeuten kleine Steine auf dem Grabstein?

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This entry was posted on Tuesday, November 16th, 2010 at 2:38 pm and is filed under COMMENT, FAQ, JEWISH GERMAN HISTORY - Jüdisch Deutsche Geschichte, JUDAISM יהדות. You can follow any responses to this entry through the RSS 2.0 feed. You can leave a response, or trackback from your own site.

Was bedeuten Steinchen auf dem Grabstein?

Beim Besuch eines Grabes – besonders zur Jahrzeit – ist es üblich, dass Angehörige einen kleinen Stein auf den Grabstein legen und damit andeuten, dass der oder die Verstorbene nicht vergessen ist.

Warum legt man Steine auf ein Grab?

Man bestattete die Toten statt dessen mit einem kleinen Steinhaufen auf dem Grab. Dadurch markierten die Angehörigen die Stelle des Grabes, so dass sie dieses wiederfinden konnten.

Warum legt man Stein auf Stein?

Diese sogenannte „Stein auf Stein“ legen hat im Judentum große Bedeutung und Tradition. Dieser Brauch soll den Verstorbenen die Ehre erweisen, dazu verneigt man sich vor dem Grab und legt anschließend einen Stein ab.

Wie sieht ein jüdisches Grab aus?

Die Besucher legen statt Blumen in der Regel kleine graue Steine auf das Grab. Mit Bezug zu seinem lebensbejahenden Charakter und der Messias-Erwartung wird der jüdische Friedhof – nach einem jiddischen Ausdruck – auch „guter Ort“ genannt.